Selbst und Welt: Ein gemeinsames Erwachen –Teil 2

In diesem Prozess erwacht der manas (der Denker, das Geistselbst) als höherer Denkkörper, der sich in den nondualistischen Bereich erhebt. Das Wort Mensch ist von ebendiesem manas abgeleitet;

Selbst und Welt: Ein gemeinsames Erwachen –Teil 2

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und in der Tat zeichnet die Fähigkeit zu denken uns Menschen ja aus. Nach der theosophischen Lehre, die sich unter anderem auf die Upanishaden stützt, ist der manas der „niedrigste“ Aspekt des wahren, vom Geistigen ausgehenden unsterblichen Selbstes und zugleich derjenige, der unserem Leben auch im Konkreten eine neue Richtung geben kann. Das Erwachen des manas hängt ganz wesentlich davon ab, ob es dem Menschen gelingt, seinen Astralkörper zu reinigen und von der Dialektik von Anziehung und Abstoßung zu befreien. „Das Geistselbst entsteht in dem Maße, als es dem menschlichen Ich gelingt, die Herrschaft über die angeborenen Triebe, Empfindungen und Begierden zu gewinnen.“[1] So beschreibt die Anthroposophie diesen Vorgang. Der Rosenkreuzer Jan van Rijckenborgh betont, dass das „Astral-Bewusste“ ins Herz hinaufgezogen werden muss.[2] Denn in unserem Astralkörper leben nicht nur höhere und reine Empfindungen. Im Gegenteil, er wird von Trieben, Ängsten und Begierden bevölkert und gesteuert. Wenn nicht mehr der „Bauch“ unser Tun dirigiert, sondern das Herz – und dieses sich immer weiter vom Ichhaften reinigt, – dann kann der manas sich mit unserem Denk- und dem Empfindungskörper verbinden. Die Befreiung im Astralen gelingt nur, wenn ein Mensch aus eigener Erkenntnis bereit ist, seine Mauern abzubrechen, die ihn von seinem persönlichen Umfeld und der Menschheit als ganzer, auch von der Welt – und von seinem wahren Selbst im Innern – trennen. Ein paralleler Prozess spielt sich im Denken ab, das seinen zergliedernden, kontrollierenden Zugriff auf die Dinge aufgibt[3]. Umgekehrt beginnt durch das Erwachen des manas, das dann möglich wird, ein Durchdringen der astralen und mentalen Sphären der Erde und der Menschheit, das in mehrfacher Hinsicht bedeutsam ist.

Zum einen beteiligt sich der manas auf diese Weise am Bau eines feinstofflichen Feldes, das all die Menschen nährt, die sich aus der Gebundenheit an die Dualität im Denken und Fühlen befreien wollen.

Zweitens betritt der manas die Sphäre des Abstrakten. Er gehört ihr an – auch dies ist ein Aspekt des wahren Selbstes, das ja überpersönlich ist. Im Alltagsleben können wir abstrahieren, auch ohne den manas verwirklicht zu haben. Wir erkennen Muster in Dingen und Vorgängen. Wir können abstrakte Prinzipien erkennen und sie sogar zu einer Philosophie verdichten, nach der wir leben wollen. Wenn der manas erwacht, betritt der Mensch die Sphäre der abstrakten Gedanken und entdeckt sie als lebendige Wirklichkeit und transformierende Kraft. Das ist Platos „Welt der Ideen“[4] im hellen Sonnenlicht, die der Mensch nach dem Verlassen der dunklen Höhle der Irrtümer betritt. Und, nota bene: Das Höhlengleichnis beschreibt, wie mühsam es ist, die Augen an das helle Sonnenlicht zu gewöhnen. Vor diesem Erwachen scheint das Abstrakte eine Art Quersumme hinter den Dingen zu sein. Danach ist es eine lebendige Wirklichkeit.

Da der manas zugleich in diejenigen Sphären des Planeten blickt, aus denen das derzeitige Denken und Fühlen der Menschheit sich speisen, erkennt er drittens auch die Kräfte, welche die Menschheit weitestgehend unbewusst ausagiert und die ihr Denken und Fühlen an die Vergänglichkeit binden.

Die Menschheit hat einen gemeinsamen Individualisierungsprozess hinter sich, der für das Erlangen von Selbstständigkeit und Eigenverantwortung notwendig war. Dabei hat sdie Menschheit ihr Empfindungsvermögen und das sich entwickelnde Denken so stark auf die Materie fokussiert, dass ihr die bewusste Verbindung mit ihrem universellen Ursprung verloren ging. So entstand ein ebenso breites wie auch analytisch tiefes Bewusstsein für alles Stoffliche. Es trägt die Saat des Konflikts in sich, denn wo jeder als Einzelner auf die Materie als die Sphäre seiner Selbstverwirklichung gerichtet ist, beginnt ein Kampf um Ressourcen, Macht und Sicherheit, der nur pausieren, aber nie enden kann. Die Individualisierung, die wir vollzogen haben, hat uns in die Einsamkeit und in eine mehr oder weniger starke Isolation geführt. Jeder Mensch hat diesen Prozess – als Mikrokosmos – über Inkarnationen hinweg erlebt. Zugleich bildete das Denken und Empfinden, das sich bei all diesen Einzelnen formte, kollektive Energiefelder, die in innigem Austausch mit ihren Erzeugern stehen. Diese kollektiven Gefühls- und Denkmuster besitzen ein Eigenleben, sie wollen von uns belebt werden und bescheren uns die immer gleichen beschränkenden und entzweienden Bewegtheiten. Der Mensch, ein prinzipiell unbegrenztes Wesen, will sich in der Begrenzung und in Abschottung von anderen erkennen und verwirklichen: Dass dies zu Verteilungskämpfen führt, ist kein Wunder. So lebt die Menschheit aus dem Reservoir ihrer mentalen und astralen Erzeugnisse, und so arbeitet sie aber auch gemeinsam daran, sie weiter zu entfalten. Wir denken und fühlen prinzipiell immer wieder das Gleiche, bis wir uns durch das Erwachen des Selbstes aus diesen individuellen und kollektiven Zwängen befreien. Als Einzelne und als Menschheit durchleben wir das Wesen der Trennung und der Gebundenheit an die Materie (wobei „Materie“ die gesamte Vergänglichkeit meint, mit ihren feinstofflichen Anteilen). Wir erleben dies, bis uns von innen her die eigene Tiefe mit einem Wissen berührt, das die vormaligen Grenzen überschreitet und einen Befreiungsprozess einleitet. Die kollektiven Energiefelder können sich auflösen, wenn sie gemeinhin erkannt und so überwunden werden.

Die Abwärtsspirale, auf der wir uns, von materiegebundenen Kräften angetrieben, in der Materie verankern, dort Sicherheit suchen, nach Macht und Kontrolle verlangen und Ängste durchstehen, weil unsere Kontrolle immer wieder durch andere oder durch unsere eigene Schwäche bedroht wird, ist furchtbar. Immer wieder entstehen Ängste, die zu neuen Sicherheitsmaßnahmen oder Aggressionen führen. Dazu gehören auch Rückzug, Misstrauen und weitere Isolation. Der Normalbürger baut sich dann ein Haus mit Alarmanlage, Kameraüberwachung und hohen Mauern, und er bestellt am Ende noch einen Sicherheitsdienst, der es bewachen soll. Nie fühlt er sich wirklich sicher.

Staaten tun etwas ganz ähnliches. Sie sind Konstrukte, die ihre Bürger, also „die Nation“, repräsentieren. Als politisch-militärisch-wirtschaftlich-kulturelle Agenten auf der Weltbühne agieren sie die konzentrierten Energien ihrer Bürger aus. Sie verfertigenbedienen sich dazu oft überlieferter, seelisch einst tief begründete und glaubwürdige Erzählungen, die historische Größe, universelle Werte und konkrete Stärke in sich vereinent, um ihre oftauch die fragwürdigen, aggressiven (und scheinbar notwendigen) Taten damit zu bemänteln. Je größer der Staat, desto höher der Anspruch und desto höher der Druck, Größe und Macht mit allen Mitteln zu verteidigen, wenn nicht zu erweitern. Nationalismus wiederum ist die Handhabe und die Erzählung, welche die Menschen dazu bringt, dem jeweiligen Über-Ich blind zu dienen. Für die Einzelnen ist es eine Art und Weise, dem eigenen Leben die Größe zu verleihen, die dem individuellen Lebenslauf oft zu fehlen scheint. Ohne die Menschen, die die Erzählung glauben und für sie Opfer zu bringen bereit sind, sind Staaten nur Verwaltungsapparate (und als solche notwendig und verdienstvoll). Das Erwachen aus den nationalistischen Erzählungen, die die Nationen und die Menschen in ihnen in Konkurrenten und Feinde verwandeln, steht an. Es ist indes nur für denjenigen vollständig möglich, der das ewige Fundament seines Seins findet, und der zum universellen Menschsein erwacht. Dann gibt es keine Ängste und keine Feindschaften mehr. Wer erwacht ist, sieht das Leiden aller Menschen, das in diesen alten Identifikationsmodellen entsteht. Er kann die Freiheit des universellen Menschseins daneben setzen, oder vielmehr aus der Mitte aufleuchten lassen.

Buddhi ist der nächste Aspekt des universellen Selbstes, der sich nach dem Erwachen des Manas realisieren kann. Wenn Menschen bereit sind, ihre Selbsterhaltung, die ihre Wurzel im Ätherkörper hat, durch ihr Innerstes überwinden zu lassen, dann erst können sie zu der universellen Seele werden, die sich mit der spirituellen Seele der Erde vereint. Dies ist eine Art von mystischem Tod, denn als Ichmenschen können und wollen wir die eingefleischte Selbsterhaltung nicht aufgeben, die durch das Erwachen von buddhi abgelöst wird. Zugleich ist es buddhi, die es Menschen ermöglicht, ihre Wurzeln in der Vergänglichkeit preiszugeben und sich bewusst in der Unvergänglichkeit zu verankern, in der ihr ursprünglicher Wesenskern von jeher existiert.

Als lebendige, wenn auch vergängliche Natur besitzt die Erde auch eine Seele, die den ganzen Planeten durchdringt und trägt. Neben ihren vergänglichen Bereichen gehört zu ihr. Sie besitzt aber auch einen höheren Seelenaspekt, buddhi, der gleichsam als nährendes Feld spirituellen Erwachens wirkt. Wer in sich die Vereinzelung und die Selbsterhaltung überwindet, wer den schon erwähnten Quell von unwillkürlichen Grenzziehungen und Abwehrhaltungen austrocknet, wird frei, alle Menschen als Brüder und Schwestern zu erleben und zu behandeln. Er erwacht in der buddhi der Erde, einer universellen Beseelung, die keine Grenzen mehr kennt. In der christlichen Sicht ist dieser Aspekt der Christusgeist unseres Planeten.

Manas – buddhi – âtman sind zusammen das wahre, ewige Selbst. Manas ist letztlich alldurchdringende Erkenntnis, buddhi allumfassende Liebe und âtman das Sein, das alle Grenzen überschreitet und bis dahin reicht, wo unser Ichbewusstsein nur noch Nichtsein vermuten kann. Deshalb ist âtman (der in der indischen Spiritualität eins mit brahman[5] ist) zugleich der Quell allen Seins. Dabei eignet dem manas die Kenntnis des Irdischen wie auch des Himmlischen. Diese Kenntnis ist prinzipiell mittelpunktlos, sie gehört keiner Person, sie ist ein Anteilhaben am All. Buddhi geht in der Freude der geistig-seelischen Einheit auf. Hier beginnt der Mensch, gleich dem Christus, zu einer großen Seele heranzureifen, die ein Entwicklungsfeld für andere erschaffen und sein kann. Âtman ist das große, unauslotbare Mysterium des Seins.

Das Erwachen des wahren Selbstes befreit neue Schöpfungskräfte im Menschen, der so zum Kraftquell für andere wird. Dieses Sein lässt offenbar werden, was Menschsein eigentlich bedeutet.


[1]in anthrowiki.at/Geistselbst vom 23.08.2022. Die Anthroposophie sieht das „Ich“ auf einem bruchlosen Weg zum Erwachen des Christus im Menschen. Der Weg des Rosenkreuzes hingegen betont die Notwendigkeit der Hingabe und Übergabe des Ichs an das erwachende Selbst.

[2]Jan van Rijckenborgh: Die ägyptische Ur-Gnosis und ihr Ruf im ewigen Jetzt, Band II, Haarlem 1991, S. 116ff. Das „Astral-Bewusste“ kann im Menschen als energetisches Prinzip mit einem eigenen Bewusstseinsaspekt wahrgenommen werden, daher diese Bezeichnung. Es ist entweder Werkzeug der Triebe und Instinkte, oder es entwickelt sich zu einem Aspekt der erwachenden Seele.

[3]     Hierbei wird das konkrete Erkenntnisvermögen nicht beeinträchtigt. Es entsteht die Fähigkeit, aus dem und für das Ganze zu denken.

[4]wie es im Höhlengleichnis beschrieben ist. In: Platon. Hauptwerke. Ausgewählt und eingeleitet von Wilhelm Nestle. Stuttgart 1973, S: 205 ff

[5]brahman, nicht der Gott brahma

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Datum: März 27, 2023
Autor: Angela Paap (Germany)
Foto: cave-StockSnap auf Pixabay

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