Nachiketas Gespräch mit dem Tod – die Katha Upanishad

Nachiketas Gespräch mit dem Tod – die Katha Upanishad

Wenn wir das Wort „Tod“ hören, können wir aus der ersten Reaktion, denke ich, viel über unsere Beziehung zum Tod lernen;

denn unsere Beziehung zum Tod zeigt sich in dieser unvermittelten, vielleicht unbewussten Reaktion, aus dem, was wir sind.

Für mich liegt Liebe darin, uns selbst durch urteilsloses Beobachten so anzuschauen, wie wir sind; ohne mit Einwänden oder Rechtfertigungen aufzuwarten und dem, was ist, sagen zu wollen, wie es sein sollte oder was damit zu tun sei. Das erfordert ein Schauen ohne Worte.

Wenn wir so der fließenden Reaktion auf das Wort „Tod“ in uns begegnen, liegt bereits in diesem Betrachten die lichtvolle Seite des Sterbens; des Sterbens der gewohnheitsmäßigen Reaktion. An deren Stelle tritt unmittelbares Schauen und Erkennen, Lernen frei von Schlussfolgerung.

Mit dem Wort „Tod“ verbinden wir meistens das endgültige Enden des physischen Körpers. Dabei ist das Sterben, das Enden, allgegenwärtig, in allen Prozessen auf der Erde und im Kosmos. Ohne das harmonische Ineinanderfließen des Hervorbringenden und des Sterbenden könnte es kein Leben geben. Leben ist gleichsam die liebende Bewegung, die im Einklang des Hervorbringenden und Sterbenden strömt. Der Herbst trägt all das im Frühling und Sommer Hervorgebrachte in das Grab des Winters. Auch die Zellen unseres Körpers durchlaufen fortgehend Sterbe- und Neubildungsprozesse, ohne welche unser Körper in kürzester Zeit zu einem Ende kommen würde. Und ebenso lassen sich im Kosmos die Geburts- und Sterbeprozesse von Sternen beobachten; die Supernovae und die Hypernovae, die beide immense Mengen an Energie freisetzen. Sterben und Hervorbringen sind wie ein Atmungsprozess des Kosmos. Das Enden ist die Voraussetzung für alle Erneuerung und alles Leben.

Wenn wir nun über die Betrachtung im Physischen hinausgehen, welche Rolle spielt dann dieses kosmische Gesetz von Zerstören-Hervorbringen-Leben in unserer Seele, in unserer Psyche, in unserem Wesen?

Diese Frage liegt im Zentrum der Katha Upanishad (ca. 5. Jahrhundert vor Chr.), die wie kaum ein anderer Text durch eine Parabel die Essenz der zeitlosen indischen Weisheit hierzu vermittelt. Die Katha Upanishad[1] beschreibt, wie der Protagonist Nachiketa durch innere Fragen dazu gedrängt wird, seine Heimat und Tradition zu verlassen, und wie er den Tod aufsucht, in Gestalt des Yama.

Nachiketa ist ein Heranwachsender, der in einer Familie aufwächst, die tief verankert ist in den alten Schriften und Traditionen Indiens. Eines Tages beginnt er jedoch, die überlieferten Feuerrituale seiner Familie in Frage zu stellen, während derer Kühe geopfert werden. Sein Vater ist erzürnt über die Zweifel des jungen Nachiketa. Im Streit verlässt Nachiketa seine Familie und sucht die tiefere Bedeutung des Feueropfers zu verstehen. Dazu wendet er sich an Yama, den König des Todes, dem mythologisch das Feueropfer untersteht. Wir dürfen die Begegnung zwischen Nachiketa und Yama, um die es im Folgenden geht, als ein inneres Ergründen der Bedeutung des Sterbens durch Nachiketa verstehen.
Nachiketa macht sich also auf den Weg zur Wohnstätte des Todes. Nachdem er sie erreicht, zeigt sich Yama nicht sogleich. Nachiketa muss drei Tage lang auf ihn warten, bis Yama schließlich einkehrt und spricht:

Wenn ein Gast das Haus betritt,
wie eine hell lodernde Flamme, muss man ihn ehrenhaft empfangen,
Es wäre nicht weise, ihn nicht angemessen aufzunehmen. […]
O Gast im Geiste, ich gestatte dir drei segensreiche Gefallen.

Nachdem Nachiketa zunächst darum bittet, dass seine Familie nach seiner Rückkehr fähig dazu sei, ihn in Verständnis aufzunehmen, formuliert er seinen zweiten Wunsch wie folgt:

Nachiketa:
Du kennst das Feueropfer, das die Himmel öffnet,
oh, König des Todes.
Ich bin voller Vertrauen in dich und bitte um Unterweisung.

[…]

Yama:
Ja, ich kenne es, Nachiketa,
ich werde dich im Feueropfer unterweisen,
das die Himmel erschließt,
in jener Kenntnis, welche die Welt trägt
– der Kenntnis, die im Herzen verborgen liegt –
also höre.

Für Nachiketa wird der Tod zum Lehrer. Yama unterweist ihn gemäß seinem Wunsch darin, wie das Feueropfer auszuführen ist, was es bedeutet, den inneren Altar herzurichten, um das Feuer zu entzünden, das, wie es heißt, „den Kosmos hervorbringt“. Als der Junge die Unterweisung recht umsetzt, ist der König des Todes sehr erfreut und spricht:

Erlaube mir eine besondere Anerkennung:
Dieses Opfer soll nach deinem Namen benannt werden, Nachiketa.
[…]
Jene, die dieses Opfer drei Mal vollbracht haben,
erkennen ihre Einheit mit Vater, Mutter und Lehrer,
sie sind befreit von den drei Pflichten des Studierens der Schriften,
den Ritualen der Anbetung und der Wohltätigkeit;
sie entsteigen Geburt und Tod.

Das göttliche Feuer kennend,
das aus Brahman hervorgeht,
erreichen sie vollkommenen Frieden.
[…]
Ich habe dir also den zweiten Wunsch erfüllt, Nachiketa,
und das Geheimnis des Feuers entschleiert,
das die Himmel öffnet.
Es trägt nun deinen Namen.
Nun bitte mich um die dritte Segnung.

Nachiketa:
Wenn jemand stirbt,
so quält den Menschen Unklarheit.
„Er existiert weiterhin“, sagen einige.
„Das tut er nicht“, sagen andere.
Ich möchte, dass du mich die Wahrheit lehrst.
Das ist mein dritter Wunsch.

Yama:
Diese Frage quälte selbst die alten Erhabenen.
Denn das Geheimnis des Todes
ist tief verschleiert.
Nachiketa, nenne mir einen anderen Wunsch
und erlöse mich von meinem Versprechen dir gegenüber.

Yama versucht Nachiketa, durch das Angebot zahlreicher weltlicher Verlockungen davon abzuhalten, ihm das Geheimnis des Sterbens und des Lebens offenbaren zu müssen. Nachiketa bleibt jedoch standhaft und weist die Angebote Yamas damit ab, dass alle weltlichen Wonnen vergänglich und für ihn ungenießbar seien, jetzt, da er erkannt hat, dass sie alle dem Tod unterliegen. Er formuliert seine Frage ein letztes Mal.

Nachiketa:
Gibt es ein Leben unberührt durch den Tod oder nicht?
Nachiketa fragt nach nichts anderem
als nach der Auflösung dieses großen Geheimnisses.

Yama erwidert:
Geistige Freude währt ewiglich;
nicht jedoch das, was die Sinne entzückt.
Beide, das Geistige und die Sinne,
bewegen uns zum Handeln.

Das Gute währt für jene,
die sich der Freude des Geistes zuwenden,
aber jene verpassen die Erfüllung ihres Lebens,
welche bloßes Vergnügen suchen.
[…]
Weit liegen Weisheit und Ignoranz auseinander.
Erstere führt zur Verwirklichung des Selbst,
letztere führt einen auf immer weitere Abwege.
Du bist dazu gereift, meine Unterweisung zu empfangen, Nachiketa,
da dich vergängliche Vergnügen nicht locken.

Yama gewährt Nachiketa also nach diesem Zwiegespräch auch seinen dritten Wunsch und geht auf seine Frage nach dem Sterblichen und dem Unsterblichen ein. Es verleitet Yama zu einer Hymne auf das eine, ewige Selbst, den Atman. Der Tod wird zum Verkünder des Unsterblichen.

Yama:
Der Intellekt kann das Selbst nicht umfassen,
da er gefangen ist in seiner Dualität
von Objekt und Subjekt.

Jene, die sich selbst in allem erkennen
und alles in sich,
helfen anderen durch geistige Durchdringung,
das Selbst zu verwirklichen.
[…]
Weise bist du, Nachiketa,
weil du nach dem einen,
ewigen Selbst fragst.
[…]
Jene, die wissen,
dass sie weder der Körper
noch das Bewusstsein sind,
sondern das zeitlose Selbst,
das göttliche Prinzip der Existenz,
finden die Quelle aller Freude
und leben in fortwährender Glückseligkeit.
Ich sehe, dass sich dir die Tore der Glückseligkeit
öffnen, Nachiketa.
[…]
Das allwissende Selbst
wurde nie geboren, noch wird es sterben.
Jenseits von Ursache und Wirkung,
ist dieses Selbst ewig und unwandelbar.

Wenn der Körper stirbt,
stirbt das Selbst nicht.
[…]
Jene überwinden alles Leiden,
deren Eigenwille stirbt
und die in der Glorie des Selbst
aufgehen
durch die Gnade des Herrn der Liebe.
[…]
Das Selbst kann durch niemanden erkannt werden,
der nicht von unrechten Wegen ablässt,
die Sinne zügelt, in die Stille des Geistes einkehrt
und meditiert.
Niemand sonst kann das allgegenwärtige Selbst erkennen;
das Selbst, dessen Glorie die Rituale der Priester
sowie die Fertigkeiten der im Kampf stehenden ausräumt
und dem Tod selbst ein Ende setzt.

In der geheimen Kammer des Herzens sitzen zwei
beim Brunnen des Lebens.
Das getrennte Ego trinkt das Süße und das Bittere,
verlangend nach dem Süßen und meidend das Bittere.
Wenn aber das erhabene Selbst trinkt von beiden,
meidet es weder das eine, noch verlangt es nach dem anderen.

Das Ego steht in Dunkelheit,
während das Selbst im Lichte lebt.
[…]
Mögen wir das Licht des Nachiketa entzünden,
dass das Ego ausbrennt,
und uns ermöglicht
von angstvoller Fragmentierung
zu angstloser Fülle zu gelangen,
in unwandelbarer Ganzheit.
[…]
Das erhabene Selbst ist Jenseits von Namen und Form,
jenseits der Sinne, unendlich,
ohne Ende und ohne Anfang,
jenseits von Zeit, Raum und Kausalität
– ewig, unwandelbar.
Jene, in denen sich das Selbst verwirklicht,
sind befreit aus den Klauen des Todes.
[…]
Brahma, der Gott des Schöpferischen,
geboren aus der Gottheit in Versenkung,
der war, noch bevor die Wasser des Lebens geschaffen wurden,
der im Herzen jeder Kreatur weilt,
ist das wahre Selbst, wahrhaftig.
[…]
Was hier ist, ist auch dort;
was dort ist, auch hier.
Wer die Vielheit sieht, jedoch nicht
das unteilbare Selbst,
muss stets weiter wandern,
von Tod zu Tod.
[…]
Das Selbst ist die Sonne, am Himmel scheinend,
der Wind, wehend, wo er will,
es ist das Feuer auf dem Altar
und der Gast daheim.
Es ruht im Menschen, in Göttern, in Wahrheit
und im weiten Firmament,
es ist der Fisch im Wasser,
die Blüte der Erde,
der Fluss, der dem Berg entspringt,
denn das Selbst ist Glorie.
[…]
So wie die Sonne, welche das Auge der Welt ist,
nicht durch das Schlechte in unseren Augen
beschmutzt werden kann,
noch durch das, worauf wir schauen,
so kann das eine Selbst,
das in allem ruht,
nicht durch das Schlechte in der Welt
verunreinigt werden.
Denn das Selbst transzendiert alles.
[…]
Das Selbst ist das Licht,
das sich in allen spiegelt.
Da Es scheint,
scheint alles andere.

Der Baum der Ewigkeit
hat seine Wurzeln im Himmel
und seine Äste in der Erde.
Sein reiner Ursprung ist Brahman – unsterblich –
dem alle Welten entspringen.
[…]
Jene, die Es erkennen,
gehen über den Kreislauf von Geburt und Tod hinaus.
[…]
Es wird gesagt, Yoga sei die vollkommene Stille,
in der man in die Einheit tritt,
ohne je wieder hinauszutreten.
Wenn man darin nicht verankert ist,
wird das Empfinden von Einheit kommen und gehen.
[…]
Wenn man aber über das Ich, das Mein und Mich hinausgeht,
zeigt sich der Atman als das wahre Selbst.

Wenn alle Verlangen, die dem Herzen entsteigen,
fallen gelassen werden, offenbart sich im Sterblichen das Unsterbliche.
[…]
Das fasst die Lehre der Schriften zusammen.
[…]
Erkenne dich selbst als unbefleckt und unsterblich!
Erkenne dich selbst als unbefleckt und unsterblich!

OM shanti shanti shanti.

 

Damit endet die Katha Upanishad um Nachiketa und Yama.

Wenn man sich dieser Erzählung um Nachiketa nähert, so ist es wichtig zu beachten, dass dem Namen Nachiketa im Sanskrit eine ursprüngliche Bedeutung beigemessen werden kann. Die Silbe Na ist eine Negationsform und bedeutet „Nicht“. „Ciketa“ ist eine Subjunktivform des Verbes Ci, das so viel wie „Suchen“ oder „Beabsichtigen“ bedeutet[2]. Im deutschen würde Na-ciketa dieser Auffassung nach so viel wie „Suche-Nicht“ oder „Wolle-Nicht“ bedeuten. Eine solche Andeutung, die sich im Namen des Protagonisten versteckt, wäre schlüssig. Denn Nachiketa steht innerlich tatsächlich im „Nicht-Wollen“, wenn er dem Tod begegnet. Er steht im stillen Gewahrsein dessen „was ist“.

In dieser ursprünglichen Stille des Nicht-Wollens und Nicht-Suchens entzündet sich das „Feuer Nachiketas“, das alle Ignoranz ausbrennt; das Feuer, indem sich das Feueropfer vollzieht.

Nachiketa ist der Mensch, der tief innerlich erkennt, dass nichts Vergängliches das Unvergängliche erringen kann. Er ist der Mensch, der erkennt, das alles Suchen – äußerlich und innerlich – eine Reaktion aus Ignoranz ist und daher nur die Früchte der Ignoranz hervorbringen kann. Aus diesem Sehen, aus dieser Einsicht, entfaltet sich innerlich heiliges Nicht-Wollen.

Der Zustand der Ignoranz und alle Bewegung, die daraus geboren wird, manifestiert sich innerlich als der „Denker“. Nicht-Wollen geht einher mit dem reinen Gewahrsein aller Bewegungen des Denkens, in dessen Schattenspiel sich der Eindruck eines Denkers – das Ego – erschafft[3].

Es ist dieses Denken, dass im Geiste die Eindrücke „süß“ und „bitter“ erzeugt sowie den Eindruck „ich habe erreicht“ oder „ich habe nicht erreicht“ oder Angst und Vergnügen.

Ganz so, wie es Yama im Text der Katha Upanishad über die Qualität des Selbst ausdrückt, lässt sich auch über Nachiketa sagen, dass er innerlich das „was ist“ – das Süße und das Bittere – weder abstößt, noch anzieht. Da ist nur ein urteilsloses, anstrengungsloses Gewahrsein. Dieser Zustand des Geistes ist heilige Negation; das Ende der Willensaktivität.

Auf diese Weise stellt sich Nachiketa innerlich unverrückbar der Tatsache des Todes alles Vergänglichen. Denn das, was nicht belebt wird und kein Leben aus sich selbst hat, das stirbt. Dasjenige jedoch, was Leben aus sich selbst hat, was wahr ist, das erblüht.

In diesem Sterben im Nicht-Wollen und daher Nicht-Tun, offenbart sich prozessmäßig das Handeln des All-Einen Selbst, des Atman – unberührt durch Ich, mein oder mich. Es bricht durch die Hülle der Dunkelheit. Es beginnt sich das ewige Selbst zu offenbaren.


[1] Die Nacherzählung und die Zitate basieren auf der englischen Übersetzung der Katha Upanishad von Eknath Easwaran aus „The Upanishads introduced and translated“, Nilgiri Press, zweite Auflage, 2007, S. 69 ff.

[2] Übersetzungen gemäß dem Sanskrit-Englisch Wörterbuch „Harvard-Kyoto“, https://sanskritdictionary.com/ci/80935/1

[3] Siehe auch den Sanskrit-Begriff „Ahamkara“:  https://de.wikipedia.org/wiki/Ahamkara.

Print Friendly, PDF & Email

Share

LOGON Magazine

Bestellmöglichkeiten

über unseren Online-Shop oder per Email: shop@logon.media

  • Einzelheft 10 €, inkl. Versand (Ausland 14 €, inkl. Versand)
  • Einzelheft digital 4 €
  • Print-Abo 36 €, 4 Ausgaben/Jahr, inkl. Versand (Ausland 52 €), fortlaufend, Kündigung jederzeit möglich.
  • Digitales Abo 15 €, 4 Ausgaben/Jahr zum Download (pdf), fortlaufend, Kündigung jederzeit möglich.

Unsere neuesten Artikel

Post info

Datum: Dezember 5, 2024
Autor: K. S. (Germany)
Foto: tombstone-Bild von 652234 auf Pixabay HD

Bild: