Macht und Bewusstsein in Beziehungen. Vom Schöpferischen und Neuschöpferischen – Teil 1

Die große Liebe zwischen Shakti und ihrem Gemahl Shiva ist eine der berührendsten und kostbarsten Geschichten der indischen Mythologie. In unzähligen Liedern, Geschichten, Gedichten und Tänzen wird sie zum Ausdruck gebracht. Diese Legende hat sich vermutlich tief ins Unterbewusstsein der Menschheit eingegraben.

Macht und Bewusstsein in Beziehungen. Vom Schöpferischen und Neuschöpferischen – Teil 1

Das göttliche Paar Shiva/Shakti brauchte einen langen und schmerzhaften Prozess, um die extremen Pole von Askese und Ekstase, von Unabhängigkeit und symbiotischer Verschmelzung, von Weltabgewandtheit und hingebungsvoller „Welt-Fürsorge“ in reifem Bewusstsein zusammenzubringen. Shiva und Shakti finden in mehreren Reifestufen zu einem schöpferischen Tanz in Kraft und Macht.

Die Liebesgeschichte von Shiva und Shakti beginnt mit einem Problem. Ein mächtiger Dämon, der große Asura Taraka, bedroht die Gefilde der Götter und Menschen. Ein weiser Seher prophezeit, dass nur ein Sohn von Shiva und Shakti die Kraft aufbringen wird, dem Eindringling Einhalt zu gebieten.

Nennt mir eine Frau im gesamten Universum

Die Götter wenden sich daraufhin an Shiva, der sich gerade wieder einmal in eisiger Einsamkeit einer weltvergessenen Versenkung befindet. Nur widerwillig taucht er aus seiner Meditation auf. „Nennt mir eine Frau im gesamten Universum, die das verzehrende Feuer meiner Askese aushalten kann, ohne daran zu verbrennen – und ich werde sie heiraten!“, meint Shiva schließlich.

Die Götter wenden sich an Shakti und bitten sie, sich in Gestalt einer Frau zu verkörpern, um gemeinsam mit Shiva den Sohn, welcher die Befreiung von dem Dämon Taraka bewirken soll, zu zeugen. Shakti willigt ein, den Einsamen aus seiner hohen Transzendenz ins Irdische zu holen und wird kurz darauf als Tochter eines Königs geboren. Sie heißt Sati und wächst zu einer Frau von außerordentlicher Schönheit heran.

Sati

Als sie ins heiratsfähige Alter kommt, lädt ihr Vater viele stattliche Fürsten ein, und Sati soll sich einen Bräutigam aussuchen. Sati will sich aber für keinen der Bewerber entscheiden. Als des Abends vor dem Fenster ihres Palastes ein unbekleideter Bettelmönch erscheint – es ist Shiva in einer irdischen Gestalt –, versenken sich ihre Blicke ineinander. Shiva beginnt mit kraftvollen Schritten zu tanzen. Beim Anblick seiner anmutenden Bewegungen ist Satis Herz urplötzlich in Liebe entflammt. Obwohl sich der König gegen eine Hochzeit seiner Tochter mit dem Bettelmönch sträubt, setzt sich Sati entschlossen durch. Das Eheritual kann stattfinden. Der ungewöhnliche Bräutigam erscheint am Tag der Vermählung auf einem Stier reitend. Seine Haut ist mit der Asche der Leichenverbrennungsstätten bestrichen, Schlangen winden sich um seine Arme und seinen Hals. Aus seinem geöffneten dritten Auge dringt ein brennender Lichtstrahl. Es ist Shiva, der nun zusammen mit Shakti siebenmal das Hochzeitsfeuer umrundet, um sich anschließend mit ihr auf dem mächtigen Berg Kailash niederzulassen.

Dort angekommen, schließt er sie in seine Arme und wärmt sie mit seiner Gluthitze. Dann versinkt er Herz an Herz mit ihr in der grenzenlosen Unermesslichkeit einer Liebe, die die Welten gebiert.

Das gemeinsame Spiel der Schöpfung beginnt. Dabei ist es sie, die ihn führt. Er folgt ihr in tiefer Hingabe und lässt sich durch sie in Myriaden von schöpferischen Formen gießen. Eins geworden mit ihrem Willen, genießt er ihre spielerischen Launen genauso wie die hohe Erhabenheit ihrer Muttermacht. Im Spiel ihrer Dynamik, der er sich willig überlässt, gebiert sie die Welt, entstehen Zeit, Raum, Sonne, Erde, Natur.

Alles was sie erschafft, erfüllt er mit seinem Bewusstsein.

Das schöpferische Spiel erfährt ein Ende

Aber dieses schöpferische Liebesspiel erfährt ein abruptes Ende. Satis Vater hat zu einem heiligen Opferritual Verwandte und Freunde eingeladen, nur Shiva und Sati sind ausgeschlossen. Als Sati davon erfährt, reitet sie zornentbrannt zum Ort der Opferhandlung und stellt ihren Vater zur Rede. Ihr Vater erläutert ihr, dass er Sati und Shiva hier nicht sehen möchte, da beide nicht rein genug seien für dieses heilige Ritual. Das macht Sati noch zorniger und – einem wilden Impuls folgend – wirft sie sich ins Opferfeuer. Ihr letzter Gedanke ist, dass sie in einem weiteren Leben wieder mit Shiva vereint sein möchte.

Als Shiva vom Tod seiner Sati erfährt, wird er vom Schmerz des Verlustes überwältigt. Vor Kummer tief gebeugt, schreitet er zum heiligen Feueraltar und hebt Satis verkohlten Leichnam aus der noch heißen Asche. Den leblosen Leib in seinen Armen haltend, umtanzt er in einem gewaltigen Stampfen die Erde, um seiner Trauer Ausdruck zu verleihen. Die Berge beben, die Meere treten über die Ufer, das Universum erzittert, die Sonne verdunkelt sich und auf allen Ebenen erstarren alle Wesenheiten – gelähmt von Angst.

Erst Vishnu, der Weltenbewahrer, kann Shiva von seinem machtvollen Tanz der Zerstörung abhalten. Shiva kommt wieder zur Besinnung, erkennt augenblicklich, dass sein immenser Schmerz auf Anhaftung beruht und begibt sich sofort auf den Gipfel des Kailash zurück. Jeder Kontakt zwischen ihm und den Formen der Welt löst sich wieder auf, sein gesamtes Bewusstsein strömt in seinen hohen Wesensgrund zurück. Shiva ruht wieder in der Weite eines transzendenten Selbst-Gewahrseins.

Parvati

Noch einmal bitten die Götter Shakti, sich auf der Erde zu verkörpern, damit der Retter der Welten durch sie Gestalt annehmen kann. Diesmal wird sie als Tochter von Himavan, der Personifikation des Himalaya, und seiner Frau Menaka geboren und erhält den Namen Parvati. Von ihren Tugenden sticht besonders ihr fester Wille hervor. Als Parvati ins heiratsfähige Alter kommt, sitzt Shiva noch immer in völliger Abgeschiedenheit auf dem Kailash. Darum begibt sich Parvati in die kargen Höhen des Himalaya. Sie verbringt ihre Tage dort in ritueller Andacht und ruhiger Ergebenheit direkt vor dem großen Shiva. Immer wieder fleht sie den großen Gott an, dessen Feuer sie spürt, sie doch nur einmal kurz wahrzunehmen. Parvati entwickelt eine unermessliche Geduld und Hingabe. Sie lässt nicht nach, ihn in allen Formen der rituellen Andacht zu verehren. Sie muss beweisen, dass ihre All-Macht seinem All-Bewusstsein auch in den Regionen der Askese ebenbürtig ist. Sie muss lernen, ihre Kraft vollständig auf ihn auszurichten und in Konzentration und Hingabe die Welt und sich selbst zu vergessen.

Die Kunde über Parvatis immer gereiftere spirituelle Kraft verbreitet sich in der Bergregion. Eines Tages kommt ein alter Wanderasket bei Parvati vorbei und fragt sie, warum sie all diese Entbehrungen auf sich nimmt. Sie erklärt ihm, dass sich ihre Seele Shiva zum Gatten gewählt hat und dass sie diesen durch ihre reine Ausrichtung gewinnen wird. „Meine Seele verlangt nach dem Unmöglichen!“ Der Wanderer fleht sie an, doch von ihrem Ansinnen abzulassen. Er warnt sie: „Eine große Gefahr geht von ihm aus. Er ist die formlose Form, vor der alle Dinge und Wasser vergehen!“ Aber Parvati bleibt standhaft und lässt sich nicht von ihrem Entschluss abbringen. Da wandelt sich die Erscheinung des Wanderasketen. Vor Parvati steht der große Shiva. Er gesteht ihr, dass er ihrer enormen Kraft nicht länger widerstehen kann und bittet sie, sich noch einmal mit ihm zu vermählen. Dann senken sich der Wille und das Bewusstsein des großen Shiva in sie herab. Er und sie durchdringen einander erneut, und sie trägt ihn mit der Stärke der geläuterten Kraft in alle Ebenen des Weltendaseins.

(wird fortgesetzt in Teil 2)

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Datum: Mai 19, 2021
Autor: Burkhard Lewe (Germany)
Foto: Shiva und Parvati bei iStock

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