Kunst und Erkenntnis als Aufbruch nach Innen – Teil 3

Schönheit kann als Kraft erfahren werden. Um bei sakralen Bauten zu harmonikalen Pro­portionen und Kompositionsanordnungen zu gelangen, benutzten die alten Meister ein Seil mit zwölf Knoten, das sie um den Bauch gebunden hatten.

Kunst und Erkenntnis als Aufbruch nach Innen – Teil 3

Nach Teil 2

Kubus

Noch heute ist in der indischen Bildhauerstadt Mahabalipuram eine bemerkenswerte Tradition lebendig: Es werden Skulpturen aus einem granitenen Quader gehauen, der in acht Felder eingeteilt wird. (Das Verhältnis 3:5 enthält den Goldenen Schnitt.) Nach dieser Überlieferung ist das Universum ein Kubus mit einer Flamme im Kern, in der eine Göttin tanzt. (Der Kubus steht innerhalb der fünf platonischen Körper für die Erde.)

Es gibt heute nicht wenige Kunstmuseen, die in der Gestalt des Kubus gebaut wurden. Hoffen wir, dass auch darin eine echte Göttin tanzt!

Das Bild des Kubus, in dem ein Feuer brennt, wird in ­dramatischer Weise im Kernkraftwerk Fukushima zu einem alarmierenden Symbol, bei dem die klare Form des Blocks die innere, auf der Erde entfesselte  Sonnenkraft nicht zu bändigen vermag und diese sich als zerstörerische Energie auswirkt.

Zwölf Knoten

Auch in den Tempelanlagen der Ägypter, den Sonnen- und Mond­pyra­miden in Mexiko, den alten Steinkreisen in Stonehenge und den sakralen Bauwerken in Asien und Europa finden sich harmonikale Pro­portionen und Kompositionsanordnungen. Die alten Meister bauten nicht „aus dem Bauch heraus“, sie hatten vielmehr ein Seil mit zwölf Knoten um den Bauch gebunden. Damit vermochten sie alles zu messen. Aus der zwölfteiligen Strecke entwickelten sie unter anderem die Proportionen des pythagoreischen Dreiecks (im Verhältnis 3 : 4 : 5), den Goldenen Schnitt (5 : 8), die doppelte Lebensblume mit ihren gleichseitigen, sich durchdringenden Dreiecken. 

In diesen Proportionen sind lebendige Gestaltkräfte wirksam. Wo sie auftreten, bringen sie die menschliche Natur in eine harmonisch-belebende Resonanz mit sich selbst, die heilt und Freude erzeugt. Die  Schönheit entsteht aus einem dynamischen Gleichgewicht der Bestand­teile. Schönheit kann als Kraft erfahren werden. Dass sie seit jeher missbraucht wurde und wird, ändert nichts daran, dass sie in ihrem echten Erscheinen Ausdruck einer harmonischen Balance gegen­sätz­licher Kräfte ist. In ihrer Wirkung vermag sie dissonante Störungen aufzuheben.

Diese universellen Gestaltungskräfte wurden in der Moderne kritisch hinterfragt und oft als einschränkende Vorgaben abgelehnt. Schritte der Infragestellung universeller Qualitäten sind nötig, um danach umso klarer und umfassender ihre Dimension würdigen zu können. Doch kein  göttliches Gesetz wird den Menschen einengen, es will ihn vielmehr über seine Grenzen hinausführen.

Heute sind manche Künstler als Repräsentanten individueller Freiheit in den weiträumigen „Ghettos“ der Beliebigkeit angekommen, die durch Angebot und Nachfrage reguliert werden. Doch für andere ist das wenig befriedigend. Es ist notwendig und auch möglich, ebenfalls basierend auf der individuellen Freiheit, den anstehenden Schritt in ein Bewusstsein zu wagen, das eine Öffnung zum Göttlichen hin ermöglicht, ohne in alte Glaubensmuster zurückzufallen. Dabei geht es vor allem um eine innere Haltung, eine Ausrichtung und Reinheit der Motivation, die derjenigen der Ikonenmaler verwandt sein könnte.

Ikonen

Ikonenmaler sind Mönche, die in geistiger Ausrichtung leben und malen. Auf sorgfältig ausgewählten Holztafeln malen sie Bilder von Heiligen nach strengem Kanon. In meditativer Haltung werden die Vorbereitungen getroffen und wird der Malgrund bereitet, sozusagen festlich vorbereitet für den „Eintritt“ des Heiligen.

Das Gesicht spielt in den Ikonen nicht die Rolle des persönlichen Porträts, sondern ist Ausdruck der menschlichen Entwicklung. Einer Entwicklung, die den Menschen durch die Kunst nahegebracht werden soll. Nicht im Sinne einer Vorschrift, sondern als Darstellung von Formen der Weltaneignung, von Erkenntnisformen auf dem Weg des Menschen zur „absoluten Wahrheit“,  sagt Andrej Tarkowskij (der einen Film über den Malermönch Andreij Rublinow gedreht hat).
Er schreibt in seinem Buch Die versiegelte Zeit (1986):

„In jedem Falle steht für mich ganz außer Zweifel, dass es das Ziel jedweder Kunst ist, die nicht bloß als Ware „konsumiert“ werden will, sich selbst und der Umwelt den Sinn des Lebens und der mensch­lichen Existenz zu erklären. Also den Menschen klarzumachen, was der Grund und das Ziel ihres Seins auf unserem Planeten ist. Oder es ihnen vielleicht gar nicht zu erklären, sondern sie nur vor diese Frage zu stellen.“

Zentralperspektive

Die Ikonenmalerei stand, wie die Kunst des Islam (grandios beschrieben in dem Buch von Orham Pamuk Rot sei mein Name), der Entwicklung der Renaissance distanziert gegenüber. Der russische Wissenschaftler, Priester und Philosoph Pavel Florenskij, der in der sibirischen Verbannung unter Stalin starb, schreibt, dass den Men­schen der Zugang zur göttlichen Welt abhanden gekommen sei und sie sich selbst zum Gesetz erhoben hätten. Den Menschen ins Zentrum zu rücken – was Florenskij durch die Zentralperspektive ausgedrückt sieht – enthalte die Gefahr der Selbstverherrlichung des egoistischen Ich.

Dieses Problem war den Künstlern der Renaissance wohl auch bewusst, denn sie setzten die Zentralperspektive zunächst im Sinne einer geistigen Ausrichtung ein. Das pythagoreische Erbe mit den Geheimnissen der Proportionen und Harmonien, die ebenfalls in die Kompositionen, etwa bei Raphaels „Schule von Athen“, einflossen, führte dazu, dass nicht zwangsläufig eine Abwendung vom Göttlichen eintrat, sondern die Chance eröffnet wurde, sich zu einer freien Individualität mit eigenem Standpunkt in Bezug zum Göttlichen zu entwickeln.

Das Göttliche, Geistige, oder wie immer man es nennen mag, stand zunächst nicht in Frage. In Leonardo da Vincis berühmtem Abend­mahl, das von einer unvorstellbaren Komplexität in Proportion, bildnerischem Aufbau und inhaltlichen Bezügen zeugt, nimmt Christus den Mittelpunkt in der Zentralperspektive fast exakt ein. Aber eben nur fast, und so verweist diese Bildsprache auf ein Prinzip, das hinter dem sichtbaren Christus steht und durch ihn wirksam ist: das göttliche Mysterium.

Die Renaissance war ein pulsierendes, formschaffendes Kraftfeld, in dem sich hohe Geister entfalten konnten. Universalgenies – Baumeister, Maler, Bildhauer, Dichter, Wissenschaftler in einer Person – wie Leonardo da Vinci, Michelangelo und Raffael bereiteten den Übergang vom Kollektivbewusstsein zum individuellen Ichbewusstsein vor und repräsentierten ihn in hohem Maße. Die Erfindung der Zentral­perspektive durch Brunelleschi ist dennoch, wie Florenskij es be­schreibt, in der weiteren Entwicklung zum visuellen Symbol für die Inthronisierung des Ich, also einer Art Vergöttlichung des Menschen geworden.

Wird fortgesetzt in Teil 4

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Datum: Januar 11, 2019
Autor: Alfred Bast (Germany)
Foto: Pixabay CCO

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