Dualität und Polarität
In diesen beiden grundsätzlich verschiedenen Formen – Kreis und Quadrat, Kugel und Würfel –, die keine innere Verbindung zu haben scheinen, äußert sich ein Grundgesetz, das sich in allem, was existiert, wieder findet: die Polarität als die Zwei in Einem, als männliche und weibliche Kraft, als Tag und Nacht, als die zwei Seiten der einen Medaille. Dieses lebendige Prinzip der Polarität wird oft mit einer Dualität verwechselt, die antagonistisch zwei gleichwertig sich ergänzende, aber gegensätzliche Qualitäten in Gut und Böse spaltet.
Gut und Böse
Das Böse ist nicht das gleichwertige Gegenteil des Guten, sondern eine Sekundärerscheinung davon. So wie der Tod nicht das Gegenteil des Lebens ist, sondern ein Teil des Lebens. Auch der Hass ist nicht das gleichwertige Gegenteil der Liebe, sondern eine sekundäre Reaktion, die allerdings sehr machtvoll werden kann. Ebenso ist der Schatten nicht das gleichwertige Gegenteil des Lichtes, sondern eine Reaktion, die durch einen lichtundurchlässigen Körper entsteht. Die Polarität von Licht und Schatten gilt für jeden dichten Körper, jedoch nicht für das Licht an sich.
Die Polarität als wirksames Naturgesetz enthält in sich ergänzende komplementäre Kräfte, die an einer Dreiheit wirken und auf ein größeres Ganzes ausgerichtet sind. Erst wenn die Bewertung und Beurteilung eingreift und den einen Teil zum Guten erhebt und den anderen zum Bösen verteufelt, beginnt ein unfruchtbarer Kampf, der die schöpferische Zusammenarbeit und damit die Freude aneinander blockiert und die sprudelnde Quellkraft auf Mühlen des Streites und Krieges lenkt.
„Polarität muss als fruchtbare Gegensätzlichkeit streng unterschieden werden von feindlichem, zerstörerischem Dualismus. Es handelt sich um Zweieinigkeit, eine Entgegensetzung, die von höherer Einheit umgriffen wird.“[1]
Die polaren Gegensätze von Kreis und Quadrat werden in vielen Bauwerken als Grundrisse verwendet. Auch in der symbolischen Bedeutung gibt es den Zusammenhang von Kreis und Quadrat als vollkommenes ewiges Sein und dynamisches Werden in der Zeit, als Himmel und Erde.
Die ursprünglichste Kreisform sahen Menschenaugen seit jeher als Sonnenstern. Der ist keineswegs eine ruhende Form, sondern eine höchst dynamische. Ein rollender Himmelswagen. Die Strahlen, die davon ausgehen, sind Pfeile der Kraft, der Wärme und des Lichtes. Aus den polaren Gegensätzen von Kreis und Strahl, die in der Sonne wirksam und sichtbar werden, entsteht jedwede Gestalt, sowohl in der Natur als auch in der Kultur. Kreis und Strahl sind Mutter und Vater aller Formen, wobei der Strahl aus dem Kreis hervorgeht. Verbinden sich Kreis und Strahl, so entstehen evolutionäre Grundformen. Als erstes das Ei: eine Kugel mit Richtungstendenz, und weiter die vielfältigen Figuren der Spiralen, die sich von der Doppelhelix über ein Schneckenhaus bis zu den Galaxien manifestieren.
Die Form als Ausdruck von Kräften
In den Formen sind innere Entsprechungen zu erkennen zwischen Fließformen und festen Formen, wie etwa zwischen einem Wasserwirbel und dem Gehäuse einer Schnecke. In den festen Formen kommen die Energie und Bewegung, aus der sie gebildet wurden, zum Stillstand. Sie zeigen präzise, welche Kräfte sie schufen.
Der Schweizer Arzt, Maler und Wissenschaftler Hans Jenny machte diesen Zusammenhang von unsichtbarer Energie, Schwingung und sichtbarer Form in seinen Experimenten, die er „Kymatik“ nannte, überzeugend sichtbar. Die Schwingungen bestimmter Frequenzen erzeugen in sensiblen Materialien wie dem Wasser stehende Wellen von teilweise überraschend geometrischer Präzision und wundervoller komplexer Ordnung. Manche dieser vibrierenden Figuren gleichen Blüten, andere Skeletten und Organen. An den Wasserklangbildern von Hans Jenny und Alexander Lauterwasser wird deutlich, wie sehr Klang und Gestalt ineinander greifen. Man könnte sie als lebendige Wasser-Bild-Metaphern bezeichnen für die „Fleischwerdung“, die Verkörperung des Schöpfungswortes und des Urtons „Bindu“, durch den das Universum in die Erscheinung gerufen wurde.
Auch der Wasserforscher Theodor Schwenk zeigt in seinem Buch Das sensible Chaos (1962) den Zusammenhang von Strömungsformen und festen Formen auf. Hier wird anschaulich, dass das Sichtbare Ausdruck des Unsichtbaren ist. Einen Vogel als verdichtete Luft, einen Fisch als verdichtetes Wasser, eine Schlange als verdichtete Erde zu sehen, wird naheliegend. Was könnte aber der Mensch sein? Verdichteter Kosmos? Zweibeiniger Weltraum? In der Tat. Jeder Mensch trägt ein Universum unter seiner Schädeldecke. Und diese Schädeldecke wird von einem Skelett gehalten, dessen Proportionen auf ein harmonikales Gesetz verweisen: den Goldenen Schnitt.
Der Goldene Schnitt
Es handelt sich dabei um eine geometrische Gesetzmäßigkeit mit erstaunlichen Eigenschaften und Zahlenverhältnissen, die sich in den Gestalten der Natur in reicher Vielfalt wiederfinden. Mit am deutlichsten ausgeprägt sind diese Gesetzmäßigkeiten wohl bei den Blüten, die in ihren Gestalten planetare Bewegungsbahnen widerspiegeln. Hartmut Warm visualisiert in seinem Buch Die Signatur der Sphären die Umlaufbahnen der Planeten. Es zeigt sich, dass Erde und Venus bei ihrer jeweiligen Reise um die Sonne und ihrem Tanz umeinander im Laufe von acht Jahren einen präzisen Fünfstern als Spur ihrer unsichtbaren Bewegungen in den kosmischen Raum zeichnen. Es lässt sich wissenschaftlich nur schwer nachweisen, dass die planetaren Bewegungen gestaltbildenden Einfluss auf die Erde haben, doch wird es durch die Entsprechungen offenbar und beweist sich von selbst: Wenn wir also auf Blüten schauen, dann sehen wir zugleich in den Kosmos, mit dessen Kräften und Rhythmen sie in Wechselwirkung stehen.
Im Goldenen Schnitt steht der kleinere Teil (der „Minor“) zum größeren (dem „Maior“) im selben Verhältnis wie dieser zum Ganzen. Das heißt, Minor und Maior sind auf eine Weise geteilt, die das Ganze enthält. Kein anderer Punkt auf einer Strecke kann dies bewirken.
Es gibt neben dem Goldnen Schnitt noch ein zweites universelles Teilungsgesetz: die Symmetrie. Die reine Symmetrie ist die Ur-Teilung. Sie bleibt immer mit sich selbst identisch. Aus ihr allein gäbe es keine Entwicklung. Der Goldene Schnitt teilt demgegenüber ungleich, doch so, dass die Proportionen erhalten bleiben. Durch ihn wird aus der harmonisch-dynamischen Wechselwirkung von Qualität und Quantität Entwicklung möglich, ohne dass diese aus der Ganzheit fällt und ins Beliebige wuchert.
Die Natur arbeitet sowohl mit der Symmetrie als auch der „stetigen Teilung“, wie der Goldene Schnitt auch genannt wird. Die reinste Figur dieser dynamisch-harmonischen Ordnungsmacht ist das Pentagramm.[2
[1] Heinrich Beltinger, Polarität als Weltgesetz
[2] siehe dazu: Andreas Beutel und Ursula Korb, Heilige Geometrie und das Geheimnis der Zahlen, Stiftung Rosenkreuz, Birnbach 2010.