Ist Sehnsucht schon Verbundenheit?

Ist Sehnsucht schon Verbundenheit? Ich glaube: Ja. Zwar ist das Objekt der Sehnsucht noch nicht in der Zeit und an dem Ort, wo ich mich gerade befinde, aber das kann sich ja noch ändern.

Ist Sehnsucht schon Verbundenheit?

Was ist schon Zeit? Und was Raum?

Omar Khayyam (1048-1131) sagt:

 

Der Tropfen weint: Wie bin vom Meer ich weit!
Das Weltmeer lacht:
Vergeblich ist dein Leid!
Sind wir doch alle eins – sind Gott –
Uns trennt ja nur das winzge Pünktchen „Z e i t“.[1]

 

Als ich einmal verliebt war und ich aber noch nicht wusste, was der andere empfand, spürte ich manchmal vor Sehnsucht nach dem Geliebten so einen tiefen Schmerz. Und doch wusste ich  gleichzeitig mit absoluter Sicherheit: Diese Sehnsucht ist so ein starkes magnetisches Band. Es geht von meinem Herzen zu seinem Herzen, selbst wenn er es nicht weiß. Und der Strom der Zeit treibt uns aufeinander zu, und ich hatte die absolute Gewissheit, dass wir irgendwann zusammensein werden. Und so war es auch.

 

Alle diese Gefühle, die ich damals empfand, kann ich eins zu eins auf meine Beziehung zu Gott übertragen. Da ist diese absolute Sehnsucht nach Erkenntnis und dem Spüren der Einheit mit ihm.

Und da ist auch dieses magnetische Band, das mich mit ihm verbindet und mir die Gewissheit gibt, dass diese Einheit schon da ist, obwohl ich sie nicht immer spüren kann. Ich bin der Tropfen auf seiner Reise zum Weltmeer, mit der absoluten Gewissheit, dass uns nur die Zeit voneinander trennt.

 

In den Lehren der Sufis habe ich den Trost gefunden, dass es viele gibt, die so empfinden. In ihrer Liebeslyrik und Dichtung finde ich die wunderbarsten Beschreibungen dieses Zustandes. Besonders die Werke von Rumi bewegen mich immer wieder tief in der Seele. So schreibt er beispielsweise über die verzweifelte Suche nach Gott:

 

„O Gott“, rief einer viele Nächte lang,
und süß ward ihm der Mund von diesem Klang.
“Viel rufst du wohl!“ sprach Satan voller Spott:
„Wo bleibt die Antwort ’Hier bin ich’ von Gott?
Nein, keine Antwort kommt vom Thron herab!
Wie lange schreist du noch: ’O Gott!’ – Lass ab!“

 

Als er betrübt, gesenkten Hauptes, schwieg,
sah er im Traum, wie Khidr niederstieg
und sprach: „Warum nennst du ihn denn nicht mehr?
Was du ersehnst, bereust du es so sehr?“
Er sprach: „Nie kommt die Antwort: ’Ich bin hier!’
So fürchte ich, er weist die Türe mir!“

 

„Dein Ruf: ’O Gott!’ ist Mein Ruf: ’Ich bin hier!’
Dein Schmerz und Flehn ist Botschaft doch von Mir,
und all dein Streben, um Mich zu erreichen,
Dass ich zu Mir dich ziehe, ist’s ein Zeichen!
Dein Liebesschmerz ist meine Huld für dich –
Im Ruf ’O Gott’ sind hundert ’Hier bin Ich!’“[2]

 

 

Dschalaluddin Rumi war ein Mystiker, der von 1207 bis 1273 lebte und ein Anhänger des Sufismus war. Er lebte die meiste Zeit seines Lebens in Konya in der Türkei. Dort gründete er den Mevlana-Orden der tanzenden Derwische, die in der ganzen Welt bekannt sind durch ihren Drehtanz, den Sema.

 

Rumi hat einige der berührendsten Verse des Sufismus verfasst. Einer davon ist „as Lied der Rohrflöte“ aus seinem bekanntesten Werk, dem Mathnawi.

 

Hör auf der Flöte Rohr – wie es erzählt, und wie es klagt
Vom Trennungsschmerz gequält:
„Seit man mich aus der Heimat Röhricht schnitt,
Weint alle Welt bei meinen Tönen mit.
Ich suche ein Herz, vom Trennungsleid zerschlagen,
Um von der Trennung Leiden ihm zu sagen.
Sehnt doch nach der Einheit Lebensglück
Wer fern vom Ursprung, immer sich zurück.
Ich klagt’ vor jeder Gruppe in der Welt,
Ward Guten bald und Schlechten bald gesellt.
Ein jeder dünkte sich mein Freund zu sein,
Sucht mein Geheimnis nicht im Herzen mein.
Und doch, so fern ist’s meiner Klage nicht,
Dem Ohr und Auge fehlet nur das Licht.
So sind auch Leib und Geist einander klar.
Doch welchem Auge stellt der Geist sich dar?
Kein Hauch, nein, Feuer sich dem Rohr entwindet,
Verderben dem, dem diese Glut nicht zündet.
Der Liebe Glut ist’s, die in’s Rohr gefallen,
Der Liebe Brausen lässt den Wein nur wallen.“ [3]

Diese Flöte ist die Seele des ursprünglichen ewigen Menschen. Sie wurde aus ihrem Urgrund abgeschnitten und ist im stofflichen Sein bewusst geworden. Sie sehnt sich nach ihrer Heimat zurück und spürt eine tiefe Traurigkeit über ihre Entfernung vom Göttlichen.

Die Ney-Flöte, die mit ihrem wehmütigen Ton die tiefe Sehnsucht nach dem Göttlichen Geliebten ausdrückt, ist das Seeleninstrument der Sufis. So, wie das tote Bambusrohr der Flöte durch den Atem des Musikers in Schwingung versetzt und durch dessen Gefühle die Melodie sich manifestiert, so antwortet Gott durch den Atem seines Geistes und setzt die Seele seinerseits in Schwingung und spricht seine Gedanken in uns aus.

Ich hatte das große Glück, bei einem Sufi Ney-Unterricht zu bekommen. Ich weiß noch, dass ich zunächst einmal keinen einzigen Ton hervorbrachte. Das war meine erste Hausaufgabe. Stunde um Stunde saß ich auf dem Balkon und versuchte, diesen einen Ton zu erzeugen. Die Ney ist ein sehr widerspenstiges Instrument und ich hatte von meinem Lehrer nur sehr vage Hinweise bekommen, wie sie zu spielen ist.

Er hatte zu mir gesagt: „Nicht du spielst die Ney, sondern die Ney spielt dich. Du musst auf sie hören! Sie sagt dir genau, was du tun musst.“ Und so saß ich und hörte und der Ton kam näher und näher – zuerst nur ein Windhauch, dann die Ahnung eines Klanges, der sich immer mehr zu einem Ton formte und dann nach Stunden stand er plötzlich und fast unerwartet im Raum: ein so schöner Ton, dass ich vor Ehrfurcht fast weinen musste.

Damals fiel die Erkenntnis in mich hinein, wie der spirituelle Weg zu gehen ist: ein vorsichtiges Tasten nach den göttlichen Schwingungen, die ja überall im Raum anwesend sind, aber die – wie bei der Flöte – ein Instrument brauchen, um sich in Zeit und Raum zu offenbaren. Ich spüre an der Intensität dieser Schwingungen, ob ich dem Göttlichen näherkomme oder mich entferne. Dann muss ich mein Leben korrigieren, um wieder die Nähe zu spüren, die mir alles bedeutet. Und dann kommt ab und zu dieser wunderbare Klang aus dem Innern, der mich alles andere vergessen lässt.

Im Leben Rumis gab es auch ein vergleichbares Ereignis: die Begegnung mit Schams-i-Tabrisi 1244. Rumi sagte später darüber:

Dein Traumbild war in unserer Brust!
Aus Frührot ahnten Sonne wir![4]

Schams war ein wandernder Derwisch, über dessen Herkunft man kaum etwas weiß. Es wird erzählt, dass seine scharfen Bemerkungen und harten Worte die Leute schockierten und erschreckten. Aber er besaß einen ungeheuren inneren Reichtum des Geistes. Er entzündete in Rumi eine Flamme, die so intensiv wurde, dass er für sechs Monate alles vernachlässigte.

„Tag und Nacht saß er mit dem Freunde in Salaheddin Zarkubs Zelle ohne Essen, ohne Trinken, ohne irgendwelche menschlichen Bedürfnisse.“ So beschrieb es Ahmad Aflaki.

In seiner Jugend hatte Schams der Legende nach einmal gesagt: „Oh Gott, gibt es denn nicht ein einziges deiner Geschöpfe, das meine Gegenwart ertragen kann?“ Und er erhielt als Antwort eine Vision, dass er in Anatolien suchen solle. Und dort traf er Rumi.

Zwischen diesen beiden entwickelte sich eine so innige Seelenbeziehung, wie man sie wohl nur selten in der Welt findet. Rumi schreibt darüber:

Die Liebe ging in meinem Leib
dem Blut gleich hin und her.
Da ward mein Sein des Freundes voll
und von mir selber leer.

Die Glieder alle meines Leibs
sind nun im Bann des Freundes.
Von mir blieb bloß der Name noch
der Rest ist: „Alles ER!“[5]

Kann es eine innigere Verbundenheit geben als diese? Und gibt es ein schöneres Bild für die göttliche Präsenz im Menschen als dieses?

Schams-i-Tabrisi, die Sonne von Täbris, wurde höchstwahrscheinlich durch die Missgunst der Menschen in Konya getötet. So wie Jesus dem Kreuz übergeben wurde durch den Unverstand der Menge.

Rumi war wie von Sinnen nach dem Verschwinden seines Freundes. Und doch führte ihn dieser Schmerz zu den wunderbarsten und innigsten Versen über die Liebe. Er sagte später, dass erst die körperliche Trennung von seinem Geliebten diesen in seinem Innersten wieder auferstehen ließ und nun auf ewig mit ihm verbunden sei.

Rumis Sohn erzählt darüber:

„Er sah Schams-i Tabrisi nicht in Damaskus,

er sah ihn in sich selbst, klar wie den Mond.
Er sprach: Bin ich auch körperlich fern von ihm,

ohne Körper und Seele sind wir beide ein Licht.
Sieh sowohl ihn als auch mich:
Ich bin er und er ist ich, oh Suchender.“[6]

Und ist es so nicht auch mit des Menschen Reise durch die Materie? Fühlen wir nicht auch erst durch die Trennung von Gott den brennenden Schmerz seiner Abwesenheit und sind irgendwann bereit unser ganzes Leben dafür zu opfern um IHN wieder in uns aufzunehmen?
Rumi fasste sein Leben in dem einen Satz zusammen:

„Und das Ergebnis sind nur die drei Worte:
Verbrannt bin ich, verbrannt und bin verbrannt.“[7]

Hier finden wir die höchste Essenz der Verbundenheit: sein eigenes Sein der Liebe übergeben, bis es verzehrt ist im Feuer der Sehnsucht und eingeht in das Einssein mit dem Geliebten.

[1]    Omar Khayyam, Gedichte, Lehre XXIII, Verlag, Jahr
[2]    Annemarie Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam, Insel Taschenbuch, 1995, S. 236/237
[3]    Mathnawi, 1. Buch, Rumi, Lied der Rohrflöte, Übersetzung von Annemarie Schimmel, Verlag, Jahr
[4]    Annemarie Schimmel, Rumi, Heinrich Hugendubel Verlag, 2003, S. 19
[5]    Dschallaludin Rumi, Traumbild des Herzens, Manesse Verlag, 2015, Seite
[6]    Annemarie Schimmel, Rumi, Hugendubel, 2003. S. 23
[7]    Annemarie Schimmel, Rumi, S. 457, Hugendubel, 2003

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Datum: Juli 27, 2023
Autor: Maria Amrhein (Germany)
Foto: Ney Sulox32 on Pixabay

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