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Die kleinen Leute mussten wachsen [1]
Überall, wohin Gandhi gerufen wurde, um Missstände zu untersuchen und an ihrer Beseitigung zu arbeiten, kümmerten er und seine Aktivisten sich um die gesamten Lebensumstände der örtlichen Bevölkerung. Das führte dazu, dass sie der Landbevölkerung Grundsätze der Hygiene und der gesunden Ernährung beibrachten, dass sie in den Dörfern die Brunnen reinigten und Schulen bauten. Vor allem hatten sie gegen die Apathie anzukämpfen, die die Folge jahrhundertelanger Unterdrückung und faktischer Rechtlosigkeit der einfachen Menschen war. Dabei hatte die Unterdrückung viele Gesichter: Es war die Unterlegenheit der Kastenlosen gegenüber den Kastenhindus, der niederen Kasten gegenüber den höheren, der Armen gegenüber den Reichen, den Machtlosen gegenüber dem Filz der Großgrundbesitzer und Fabrikanten, die mit den Kolonialherren gute Geschäfte machten. Auf dem platten Land herrschte eine umfassende geistige Unbeweglichkeit, eine stumpfe Hinnahme der Zustände, wie diese auch sein mochten, die sich fallweise in einzelnen Eruptionen verzweifelter Aggression äußerte und die ebenso angegangen werden musste wie die übrigen Probleme. Gandhi hatte nichts anderes im Sinn, als in der indischen Bevölkerung eine seelische Kraft wachzurufen, mit der sie sich ihrer menschlichen Würde bewusst werden und ihre Rechte verstehen sowie einfordern konnte. Konkret bedeutete das, dass die Menschen instandgesetzt werden mussten, sich als Bürger und nicht als Sklaven des Systems wahrzunehmen. Sie mussten imstande sein, gegen einzelne Verordnungen ruhig und friedlich vorzugehen, also gezielte Non-Cooperation[2] zu üben, ohne in Wut zu verfallen und das ganze System über den Haufen zu werfen. Sie mussten außerdem die Folgen ihres friedlichen Widerstandes in Würde tragen lernen, denn oft genug bedeutete dies finanziellen Verlust und Gefängnisstrafen. Gandhi selbst verbrachte während seiner Bemühungen um die indische Unabhängigkeit annähernd fünf Jahre hinter indischen[3] Gittern, bei Jawarhalal Nehru waren es sogar mehr als zehn.
So entwickelte sich die Freiheitsbewegung auf der Grundlage von Wahrhaftigkeit (satyagraha) und Gewaltlosigkeit (ahimsa) und nutzte die Instrumente des passiven Widerstandes, des zivilen Ungehorsams (gegen einzelne Gesetze, die unzumutbare Härten brachten) und der Non-Cooperation, indem man die Zusammenarbeit mit dem als korrupt erkannten System teilweise oder ganz einstellte.
Im Dezember 1928 verabschiedete der INC schließlich eine Resolution, in der er innerhalb des Jahres um Selbstverwaltung (als Dominion des Empire) bat. Andernfalls würde er völlige Unabhängigkeit fordern und mit satyagraha dafür kämpfen. Bis zum 31. Dezember 1929 antwortete die britische Regierung nicht, daher mussten Maßnahmen ergriffen werden.
Am bekanntesten ist in diesem Zusammenhang Gandhis Salzmarsch. In Indien gab es seit 1882 ein Salzmonopol. Niemand durfte Salz besitzen, das nicht von der Regierung produziert und entsprechend versteuert worden war. Salz wurde oft für religiöse Zeremonien benötigt; es wurde auch verwendet, um Lebensmittel zu konservieren, zu desinfizieren und einzulegen. All dies machte Salz zu einem starken Symbol der Unterdrückung, aber auch des Widerstands. Dagegen ging Gandhi vor, indem er sich mit einer wachsenden Gruppe von Anhängern am 12. März 1930 auf den 240 Meilen langen Weg von seinem Sabarmati-Ashram in Ahmedabad zum Arabischen Meer in Dandi machte. Als Gandhi am Morgen des 6. April 1930 am Strand von Dandi ankam, hob er einen Klumpen Salz auf und hielt ihn hoch. Dies war der Beginn eines landesweiten Boykotts der Salzsteuer, denn die Inder lernten, aus Meerwasser selbst Salz herzustellen. Gandhi persönlich brachte diese Aktion einen Gefängnisaufenthalt von ca. acht Monaten ein.
Nicht alle Widerstandsaktionen blieben friedlich. Als die Gewalt landesweit zu eskalieren begann, übernahm Gandhi die Verantwortung, forderte zur Beendigung aller Aktionen auf und begann ein Fasten, das er erst beendete, als im Land wieder einigermaßen Ruhe eingekehrt war.
Die Freiheit und ihr Preis
Der INC und die Muslimliga, die beide politische Verantwortung in Indien trugen, zerstritten sich über Fragen der Zusammenarbeit in den überwiegend muslimisch bevölkerten Provinzen und des gemeinsamen Vorgehens gegenüber der britischen Kolonialmacht. Dabei mögen auf beiden Seiten Machtstreben und auf der muslimischen Seite Angst vor einer Übermacht der Hindus im freien Indien das Zerwürfnis der großen Parteien und dessen Vertiefung bis zur letztlichen Feindschaft befördert haben. Die Briten, die ihren Rückzug vorbereiteten, taten das ihre dazu, indem sie die Muslimliga und deren Teilungspläne unterstützten, aber den INC, der so lange die Stimme Indiens gewesen war, nicht mehr wesentlich berücksichtigten. Das Konzept eines freien Indiens als Föderation dezentraler Staaten wurde verworfen, und unter der Führung des Londoner Rechtsanwalts Sir Cyril Radcliffe wurden die Grenzen zwischen Indien und West- sowie Ostpakistan (heute Bangladesh) gezogen. So entstanden um Mitternacht am 15. August 1947 zwei unabhängige Staaten, und eine Völkerwanderung sondergleichen begann, als Muslime aus Indien und Hindus aus dem eben entstandenen Pakistan flohen – der Verlauf der Grenzziehung hatte viele überrascht, die sich nun im „falschen Staat“ nicht mehr sicher fühlten. Religiös motivierte Pogrome im Zuge der partition kosteten ca. eine halbe Million Leben, ca. 14,5 Millionen Menschen überquerten die gerade erst gezogenen Grenzen.
Gandhis edles Projekt der satyagraha, das auf der Basis von Spiritualität und Liebe einem universellen Menschsein nachstrebte und das die Gleichberechtigung aller Religionen, die Aufhebung der Unberührbarkeit und die Befreiung der Frau für das ganze Volk herbeiführen wollte, gelang immer nur punktuell. Gandhi und seine Anhänger, die in ihren Ashrams ein einfaches und bedürfnisloses Leben führten, waren Identifikationsfiguren, doch im entscheidenden Augenblick verblasste ihr Vorbild, und die Instinkte der Massen gewannen die Oberhand. Im Rückblick fällt es leicht zu sagen, dass Jahrhunderte der Unterdrückung, der Rückständigkeit, Unselbständigkeit und Gefangenschaft in religiösen Dogmen nicht in dreißig Jahren eines Befreiungskampfes abgeschüttelt werden können.
Eine andere Freiheit
Hätte Gandhis satyagraha den umfassenden Erfolg gehabt, den er sich gewünscht hatte, dann hätten die Menschen in Indien sich – gleich ob Mann oder Frau, Hindu, Moslem, Sikh, Christ, Buddhist, Jain, arm oder reich – bewusst als Geschwister begegnen können. Auch das Ringen um äußere Zeichen des Erreichens wie Macht oder Wohlstand hätte seine Bedeutung verloren. Die Menschen hätten die Freiheit errungen, sich selbst ohne die Bürde eines äußeren Kampfes – um Reichtum oder Macht, gegen Unterdrückung – auf die Reise zu einem spirituellen Menschsein zu begeben. Gandhi selbst war immer das konkrete Beispiel hierfür: der bedeutende Mann, der in einen handgewebten weißen Dhoti gekleidet am Spinnrad saß und im Äußeren so bedürfnislos war, wie er es anderen nahelegte.
Die Frage, wer der Mensch ist, wenn er sich nicht durch religiöse oder nationale Zugehörigkeit oder aufgrund bestimmter Traditionen und deren Werte definieren kann, ist auch heute noch für den weitaus größten Teil der Menschheit ungelöst. Wann immer wir uns „definieren“, bedeutet es Abgrenzung. Dadurch bilden wir Einheiten, aber keine umfassende Einheit. So schaffen wir immer wieder Ursachen für Konflikte und Kriege.
Im Grunde kann es nur dann eine Bewegung zu wirklicher, vor allem spiritueller Freiheit geben, wenn Menschen diese individuell für sich erringen. Der Umsturz, den Menschen auf diesem Weg im Innern erleben, ermöglicht dann den Wandel im Äußeren. Jede Freiheitsbewegung, die einen spirituellen Aufbruch beabsichtigt, muss auf der individuellen Bemühung aufbauen. Wenn genügend Menschen sich von einem Denken der Abgrenzung und vom Machtstreben verabschieden, können auch Parteien und Staaten neue Wege finden. Letztlich finden sich bei Gandhi und Nehru spirituelles Streben, aber auch politisches Taktieren, selbst wenn man beiden zugute halten muss, dass sie die Entfremdung und den schließlichen Bruch mit der Muslimliga und vor allem die Teilung nicht wollten. Das ihre haben sie dennoch dazu beigetragen.
Zum Weiterlesen:
[1] V.S. Naipaul: Indien – eine verwundete Kultur, Berlin 2006, S. 49
[2] Diesen Begriff prägte Gandhi 1919 auf dem Kongress des INC 1919 in Amritsar. Non-Cooperation als Ausdruck von satyagraha wurde später zu einer der praktischen Methoden, um die Unabhängigkeit von einem als korrupt angesehenen Regime zu erreichen
[3] Auch in Südafrika hatte er schon ca. drei Jahre im Gefängnis verbracht
[4] Mohandas Karamchand Gandhi: Die Geschichte meiner Experimente mit der Wahrheit. Freiburg / München 1960
[5] Pankaj Mishra: From The Ruins of Empire. The Revolt Against The West And The Remaking of Asia. London 2012
[6] Shashi Taroor: Die Erfindung Indiens. Das Leben des Pandit Nehru. Frankfurt am Main / Leipzig 2006