Die Materie nichts anderes als ein ‚Schwingungsgewebe‛ – gleichsam ein Tanz. Sie hat ein ‚inneres Leben‛. Auf subatomarer Ebene findet eine ständige Bewegung statt. Für Platon ist Rhythmus ‚Ordnung der Bewegung‘. Letztendlich ist das ganze universelle Leben ‚Bewegung‘, das heißt Rhythmus.
Alle Methode ist Rhythmus: hat man den Rhythmus der Welt weg, so hat man auch die Welt weg. Jeder Mensch hat seinen individuellen Rhythmus. – Die Algeber [Algebra] ist die Poesie. Rhythmischer Sinn ist Genie.
Novalis
SH
Im Anfang war der Rhythmus,
so lautet ein berühmter Satz vom Orchesterdirigenten Hans von Bülow …
LS
Und so lautet ebenfalls der Titel eines Stückes der zeitgenössischen Komponistin Sofia Gubaidulina.
SH
Ja, man sollte sich nicht scheuen zu behaupten, dass der Rhythmus das Ur-Element der Musik ist.
LS
Ein Impuls aus dem Nichts, der erste Herzschlag der Welt … Der Klang ist die allererste Bewegung.
SH
Die erste Bewegung des Unbewegten,
sagte der Komponist Giacinto Scelsi.
LS
In schamanistischen Traditionen ist der Klang der Trommel eine Brücke zwischen der unsichtbaren akustischenund der sichtbaren konkretenWelt, zwischen dem Reich der Lebenden und der Toten. Die Symbolik der Trommel hat mit der ekstatischen Reise, also mit dem Durchbrechen einer Ebene zu tun. Die Aufgabe der Trommel besteht darin, die Kräfte zu transmutieren und im Fluss zu halten.
SH
In der altindischen Ikonographie finden wir das Bild des Shiva Nataraja, des Herrn des Tanzes. Durch seinen ekstatischen Tanz schafft Shiva die Welt, um sie dann zu zerstören und wieder zu erschaffen.[1] Traditionsgemäß wird der vierarmige Gott Shiva Nataraja mit einer Trommel in einer seiner rechten Hände als Versinnbildlichung des Schöpfungsklangs dargestellt.
LS
Die Welt entsteht durch Shivas Trommelspiel, also durch Rhythmus …
SH
Ja, aber der Gott hält in einer der zwei linken Hände auch eine lodernde Flamme, mit welcher er periodisch die Welt zerstört. Dieses Bild entspricht der indischen Vorstellung der Zyklizität der kosmischen Zeit, der Ewigen Wiederkehr des Gleichen durch das Aufeinanderfolgen von Weltzeitaltern (yugas). Der Zyklus von Schöpfung und Zerstörung wiederholt sich permanent. Das Werden der Welt ist nichts anderes als das ewige Spiel Shivas.
LS
Das Bild des Shiva Nataraja wurde übrigens von Fritjof Capra verwendet, um das dynamische Universum der modernen Physik darzustellen.[2] In den letzten Jahrzehnten haben Physiker gezeigt, dass die Materie nichts anderes als ein ‚Schwingungsgewebe‛ – gleichsam ein Tanz – ist, dass also die Materie selbst ein ‚inneres Leben‛ hat. Auf subatomarer Ebene findet eine ständige Bewegung statt. Für Platon ist Rhythmus nämlich ‚Ordnung der Bewegung‘. Letztendlich ist das ganze universelle Leben ‚Bewegung‘, das heißt Rhythmus.
SH
Ein Ton ist eine Schwingung, ein periodisches Phänomen, das wesentlich rhythmischer Natur ist.
LS
Daher die Vertauschbarkeit der musikalischen Dimensionen: Circa 15 Impulse pro Sekunde kann das menschliche Ohr noch als Einzelimpulse wahrnehmen. Jenseits dieser Schwelle nicht mehr; stattdessen wird mit 16 Impulsen pro Sekunde eine Frequenz, beziehungsweise eine bestimmte Tonhöhe hörbar. Schnelle und regelmäßige rhythmische Impulse werden als ‚Töne‘ wahrgenommen. (Ein Beispiel: 440 Hz bedeutet nichts anderes als 440 Impulse pro Sekunde, was für unsere Wahrnehmung der sogenannte ‚Kammerton‘, beziehungsweise das eingestrichene A ist). Auf dieser Beobachtung basiert die Feststellung, dass Rhythmus und Tonhöhe dieselbe Natur haben: Beide sind zeitliche Phänomene. Dies hatte zum Beispiel Karlheinz Stockhausen im elektronischen Studio empirisch bewiesen, indem er Klänge durch Beschleunigung und Verlangsamung von rhythmischen Impulsen komponierte.
SH
Rhythmus kann nicht von der Periodizität beziehungsweise vom Puls absehen. Ohne einen regelmäßigen Tactus gibt es keinen echten Rhythmus, sondern nur eine Folge von einzelnen isolierten Zeitdauern.
LS
Der Lehrer von Stockhausen, Olivier Messiaen, französischer Komponist, der sich so viel für Theologie und Ornithologie interessiert hat, war insbesondere als Rhythmiker berühmt.
Allerdings ist Messiaens Definition von Rhythmus ziemlich eigenartig. Er identifizierte die rhythmische Regelmäßigkeit mit der Negation des Rhythmus‘; paradoxerweise betrachtete er den Militärmarsch als Beispiel für eine ‚nichtrhythmische‘ Musik. Er empfand die absolute Regelmäßigkeit als unnatürlich. So sagte er: „Rhythmus ist nun gerade der einzige musikalische Begriff, dessen Definition nicht einfach ist. […] Ganz schematisch gesprochen, ist eine rhythmische Musik eine Musik, die die Wiederholung, das Ebenmaß und die gleichen Unterteilungen meidet, die im Ganzen genommen inspiriert ist von den Bewegungen in der Natur, Bewegungen von freier und ungleicher zeitlicher Dauer“[3]. Die exakte rhythmische Gleichheit (die ‚maschinelle‘ Zeit) wird als unnatürlich wahrgenommen.
SH
Mit dem Wesen des Rhythmus hat sich gründlich auch der Musikethnologe und Philosoph – oder besser ‚Phonosoph‘ – Marius Schneider befasst.[4]
LS
Ja, Marius Schneider, der für die Entwicklung unseres phonosophischen Projektes so maßgebend gewesen ist, hatte die Urtümlichkeit des Rhythmus tief erkannt. Insbesondere hatte er erkannt, dass alles, was einen gleichen oder ähnlichen Rhythmus aufweist, als eng miteinander verwandt gelten kann.
SH
Also, Rhythmus als ‚Gesetz der Analogie‘… Es ist tatsächlich der Rhythmus, der ein Wesen von einem anderen unterscheidet: Die charakteristischen Züge einer Persönlichkeit erkennt man im Rhythmus des Gehens und des Sprechens, im Allgemeinen der Bewegung. Was beispielsweise in der Sprache, als tönendem Sinn verstanden, wesentlich ist, ist weniger die Klangfarbe oder die Tonhöhe als die Art des Verlaufs. Es gibt einen Rhythmus des Seins, das eigentlich immer ein Ineinandergreifen und ein Sich-Überlagern verschiedener Rhythmen ist.
LS
In seinem unvollendeten Werk über die Klang-Kosmogonien[5] sagt Schneider, dass die biologische Grundform des Rhythmus die Asymmetrie – oder das ungleiche Gewicht – ist: sie ist die Ursache der Bewegung. Und er erklärt:
Der Rhythmus ist das Leben, welches die Dinge wie leere Gefäße oder Resonanzräume durchströmt, bewegt oder verlässt.
Der Ursprung des Rhythmus’ liegt im Wunsch, zu existieren, und sei es zunächst nur durch eine bald symmetrische, bald asymmetrische Beziehung zu sich selbst oder zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich, die zu einer stetigen Wiederholung des Gleichen oder Ähnlichen führt.
SH
Rhythmen sind göttliche Kräfte, älter als Zahlen, die die Bewegung auf abstrakte Begriffe reduzieren. Während die arithmetische Zahl aus einer leblos quantifizierten Verräumlichung entsteht, ist der Rhythmus eine lebendige Gestalt: Der Rhythmus verlebendigt die Zahl und beseelt die Zeit …
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Der Quellgrund des reinen Rhythmus’, aller Begrifflichkeit fern, ist die Zeitlosigkeit als Simultaneität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Aber um wieder zum Thema der Wiederholung zurückzukommen: Es gibt also einen entscheidenden Unterschied zwischen den Rhythmen des Lebens und der Rhythmik der Maschine. Die Rhythmik des Lebens ist immer etwas ‚unperfekt‘. „No day is the same“, sagte einmal Stockhausen. Der Tag ist ein Zyklus, ein immerwährendes Ritual, in welchem wir einbezogen sind und in welchem wir uns ereignen … ein Ritual, das sich ständig wiederholt, aber nicht auf identische Weise. Die Uhrzeit des Sonnenaufgangs und des Sonnenuntergangs verschiebt sich sehr graduell aber stets, jeden Tag. Kein Tag ähnelt dem anderen: sowohl kosmologisch als auch psychologisch. Man denke außerdem an die Präzession der Äquinoktien und das Platonische Weltjahr. Wir leben also in einer ständigen Verschränkung von Periodizität und Unperiodizität.
SH
Der Pulsschlag ist das Urerlebnis des menschlichen Lebens: Als Fötus hört man für neun Monaten lang die kontinuierliche und laute Pulsation des mütterlichen Herzens. In diesem Sinne ist der Rhythmus das Ur-Element der Musik.
SH
Wie Hazrat Inayat Khan sagt,
the very nature of life is rhythm (Die grundlegende Natur des Lebens ist Rythmus)[6].
Die Wiederholung, die Periodizität, die Zyklizität liegen nicht nur der Musik, sondern allgemein dem organischen und dem kosmischen Leben zugrunde. Der Herzschlag und der Atem sind periodisch, aber leicht asymmetrisch!, wie Schneider klarstellt.
LS
Rhythmus erscheint in unzähligen Gestalten: eingefroren oder versteinert in den unbewegten Dingen, flüssig oder elastisch in jeder Bewegung. In jeder Form – sei es Musik, Poesie, Tanz, Architektur oder Spiel – ist Rhythmus die Grundlage des menschlichen Körpers. In diesem Mikrokosmos hat alles einen eigenen Rhythmus. Einen Rhythmusbruch nennt man ‚Krankheit‘.
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Deshalb sagte Novalis, dass jede Krankheit ein ‚musikalisches Problem‘ ist …
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Eine genaue Beobachtung zeigt, dass ebenfalls das gesamte Universum – der Makrokosmos – ein Organismus ist, eine lebendige Ordnung, die nach dem Gesetz des Rhythmus’ funktioniert: das Steigen und Fallen der Wellen, Ebbe und Flut, die Mondzyklen, der Sonnenaufgang und der Sonnenuntergang, der Wechsel der Jahreszeiten, die Bewegung von Sternen und Planeten …
SH
Einerseits ist es unzweifelhaft, dass der regelmäßige Puls den Körper anspricht und aktiviert, andererseits spielen im körperlichen Erlebnis der Musik auch die Geschwindigkeit und die Dynamik eine entscheidende Rolle. Eine schnelle, laute und stark akzentuierte beziehungsweise perkussive Musik hat eine unmittelbare körperliche Wirkung.
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Vor allem aber kommt es auf die geistige Absicht des Spielenden und des Zuhörenden und darüber hinaus auch auf den kulturellen und funktionellen Zusammenhang der Musik an. Einerseits fügt sich die Regelmäßigkeit in der Musik den häufig rein kommerziellen und konsumorientierten Bedürfnissen (wie in der ‚Muzak‘), andererseits kann sie auch ein Mittel zu transzendenten Erfahrungen sein, zum Beispiel in schamanistischen Ritualen, wo die gleichmäßigen Pulsationen Trancezustände hervorrufen können.
SH
Fundamental im Musikerlebnis ist das Ergriffensein durch einen Rhythmus … und der Rhythmus wohnt im Klang wie ‚Feuer im Wasser‘, um ein Bild aus dem Rigveda zu verwenden.
LS
‚Rhythmus‘ hat etymologisch mit ‚Fließen‘ zu tun. Aber letztendlich ist Rhythmus ‚Ordnung‘ beziehungsweise Einteilung der Zeit. Eine klare Struktur des Tages, der Woche und des Jahres hilft uns ‚im Rhythmus‘, das heißt im Fluss zu bleiben.
SH
Es ist im Grunde das, was wir unter anderem mit unserem theatrum phonosophicum[7] (einem ‚Forschungs‘- und Lebensprojekt) anstreben: die Ritualisierung des Alltags. Ritualisieren heißt ‚Rhythmisieren“, sprich: den Verlauf der Zeit zu sakralisieren.
LS
So werden der Tag, die Woche, die vier Jahreszeiten „ästhetisch“ – im Sinne der ursprünglichen Bedeutung dieses Wortes: in neuer Wahrnehmung – gestaltet durch eine Reihenfolge von Tätigkeiten und ‚Nicht-Tätigkeiten‘, durch Tun und ‚Nicht-Tun‘: vita activa und vita contemplativa. Eine Veränderung des Rhythmus bedeutet eine Veränderung des Zustandes.
SH
Im theatrum phonosophicum wird traditionelles Wissen mit experimentellen Praktiken in Verbindung gebracht. Darin ist das Zuhören als ‚Seinserfahrung‘ zentral. Der Zustand ist alles.
LS
Im Abgrund wohnt die Wahrheit …
SH
Das Abgründige ist das Ohr.
[1] Vgl. Ananda Coomaraswamy, The Dance of Shiva, The Noonday Press: New York 1969.
[2] Vgl. The Tao of Physics, Shambhala Publications: Boulder, Colorado 1975.
[3] Zit. in: Olivier Messiaen. La Cité céleste / Das himmlische Jerusalem. Über Leben und Werk des französischen Komponisten, hrsg. von Thomas Daniel Schlee und Dietrich Kämper, Köln 1998, S. 43.
[4] Vgl. von Marius Schneider: El origen musical de los animales-símbolos en la mito-logía y la escultura antiguas, Instituto Español de Musicología: Barcelona 1946; Die historischen Grundlagen der musikalischen Symbolik, in: Die Musikforschung IV, Kassel [u.a.] 1951; Singende Steine. Rhythmus-Studien an drei romanischen Kreuzgän-gen, Bärenreiter: Kassel 1955; Das Morgenrot in der vedischen Kosmogonie, in: Sym-bolon, Bd. 5, Basel [u.a.] 1966, S. 61-75; Das Schöpfungswort in der vedischen Kosmologie, in: Musicae scientiae collectanea. Festschrift für K. G. Fellerer zum siebzigs-ten Geburtstag, hrsg. von Heinrich Hüschen, Volk: Köln 1973, S. 523-526; Klangsym-bolik in fremden Kulturen, in: Beiträge zur harmonikalen Grundlagenforschung, hrsg. von Rudolf Haase, Heft 11, Lafite: Wien 1979; Urweltmythos und Sphärenharmonie, in: Festschrift für Rudolf Haase, Elfriede Rötzer-Verlag: Eisenstadt 1980, S. 95-106; Kosmogonie, in: Jahrbuch für musikalische Volks-und Völkerkunde, hrsg. von Josef Kuckertz, Bd. 14, Bärenreiter: Kassel [u.a.] 1990, S. 9-51 (dieser Text ist allerdings nur die Einleitung zur umfangreichen Kosmogonie-Studie); Musique et langage sacrés dans la tradition védique, in: Cahiers de musiques traditionelles, 5/1992, S. 151-182.
[5] Vgl. Marius Schneider, Am Anfang war das ‚Wort‛, genauer gesagt der ‚Ton‛. Rekonstruktion der alten Kosmogonien, hrsg. von Eckart Wilkens, Köln 2014. Unveröffentlichtes Manuskript. Zur Entstehungsgeschichte und zur Struktur von Schneiders Spätwerk vgl. Leopoldo Siano, La ‚Kosmogonie‛ di Marius Schneider, in: Schneider: musica, arte e conoscenza, Akten einer Tagung, die am 8. April 2017 in Rom stattfand, = Almanacco Scientifico di Simmetria Nr. 2, Simmetria: Rom 2017, S. 49-68. Zu den musikalischen Kosmogonien siehe auch: Leopoldo Siano, Musica Cosmogonica: von der Barockzeit bis heute, Königshausen & Neumann: Würzburg 2021.
[6] Vgl. The Mysticism of Music, Sound and Word, The Sufi Message (Volume II), Delhi 1988, S. 44.
[7] ‚Theater‘ der phonosophia (‚Erkenntnis durch den Klang‘). Die Webseite des theatrum phonosophicum ist in Vorbereitung. Podcasts und Klangartefakten des theatrum phonosophicum sind auf Soundcloud und teilweise auf Youtube zu finden: