Hohe Ideen, die sich als Ideale zeigen, sind archetypischer Natur. Sie haben mit unserem geistigen Ursprung zu tun und sind tief in uns verwurzelt. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn wir sie zum Ausdruck bringen wollen. Sie drängen uns sogar dazu. Doch es zeigt sich, dass sie in unserer Welt nicht dauerhaft zu realisieren sind, ja dass sie vielfache zerstörerische Feuer entflammen. Sie entstammen einer anderen Welt, der Welt des göttlich-geistigen Feuers. Wir können sie „verdichten“ zu Vorstellungen idealer Lebensformen und schließlich auch zu Ideologien, die wir dann oft fanatisch durchsetzen wollen. Die Erfahrung zeigt, dass dabei gewaltige Widerstände auftreten.
Warum eigentlich? Weist das Ideal, weist die hohe Idee nicht auf Wahres hin? Gehört sie nicht zu unserer innereigenen Substanz? Wir möchten das Wahre für uns erschließen. Muss ein solches Bemühen in einer Ideologie enden, in der wir schließlich Idole anbeten?
Hinter jeder hohen schöpferischen Idee vibriert eine bestimmte Kraft, eine Energie, ein ursprünglicher, „ursubstantieller“ Impuls. Doch mit ihm verbinden sich suggestive Kräfte, die sich in unserer Welt entwickelt haben. Die lichtvolle Vibration verdunkelt sich, ihre Schwingung wird abgesenkt, sie wird instrumentalisiert. Das ursprünglich Lichtvolle verwandelt sich, seine Energien werden in der falschen Anwendung zu dem verzehrenden Feuer, das in unserer Welt so vielfach wütet.
Auf höherer Ebene sind Freiheit, Harmonie und Liebe nicht voneinander zu trennen. Liebe in der geistigen Welt besteht in vollkommener Freiheit, ohne Bedingungen und Einschränkungen. Zu lieben bedeutet frei zu sein. Freiheit wiederum ist gleichbedeutend mit Liebe. In der vollkommenen Harmonie zwischen Schöpfer und Geschöpf bestehen uneingeschränkte Liebe und Freiheit.
In der kosmischen Harmonie ergänzen sich alle Aspekte oder Qualitäten, sie wirken harmonisch zusammen. Jeder Aspekt ist ein integraler Bestandteil der Ganzheit. Vielheit und Einheit stellen keinen Widerspruch dar. Die Einheit oder Ganzheit findet in der Vielheit ihren Ausdruck.
In der altindischen Philosophie wird die Domäne der Ganzheit mit dem Wort Brahman ausgedrückt. Die Welt von Brahman ist die eigentliche Wirklichkeit. In ihr zeigt sich der absolute, transzendente und immanente Geist als Urgrund des Seins, ohne Anfang und Ende.
Die Ideale unserer Vorstellungswelten und die Idole, die wir uns erschaffen, führen uns in die Verblendung. Sie sind menschliche Auslegungen einer ursprünglichen, göttlichen Idealität. Die Verbindung mit dem Göttlichen, die wir so innig anstreben, kann uns in die größten Illusionen verstricken. Letztlich liegt es daran, dass wir unsere Vorstellungen und Ideen von denen anderer abgrenzen. Wir leben nicht aus dem Gesamtzusammenhang, aus der Integration von allem heraus. Deshalb geraten unsere Beziehungen zueinander immer wieder in die Krise. Hinzu kommt, dass unser Denken zum größten Teil ein sprachliches Denken ist, das auf abgegrenzten, semantischen Begriffen basiert. Die Abgrenzungstendenz in unserem Denken wird unter anderem auch betont in dem Bibelwort: „…der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig“. (2. Korinther 3,6)
Wie sollen wir nun aber damit umgehen, wenn der lebendig machende Geist in uns Gefühle und Gedankenströme erweckt? Was wäre unsere Welt ohne den inneren Impuls der Ideale?
Bislang ist sie, unter anderem durch den Drang der Ideale, eine feurige Brandstätte. Die geweckten Gefühle und Gedanken gewinnen Macht über uns und verleiten uns dazu, diese Macht auch anzuwenden – mit den besten Absichten. So geschah es mit den großen Gedankensystemen des Kommunismus und des Sozialismus. In der heutigen Zeit bieten die digitalen und sozialen Medien eine Plattform zur massenhaften Ausbreitung von idealistischen Konzepten.
Es gibt wirksame Ideale, die eher traditionell sind und von Generation zu Generation überliefert werden. Andere Ideale kann man als „modern“ bezeichnen, weil sie aus der aktuellen Weltsituation hervorgehen. Traditionelle Ideale sind uns oft sehr vertraut, so dass wir sie nicht mehr bemerken, wie die Luft, die wir ständig ein- und ausatmen.
Besonders in der heutigen Zeit einer kosmischen Umwälzung und eines tiefgreifenden Systemwechsels besteht ein gewisser Antrieb, in autoritäre ideologische Muster flüchten zu wollen. Traditionelle Werte und Normsysteme verlieren an Bedeutung. Eine zunehmende Orientierungslosigkeit und Leere breitet sich aus, wodurch Zustände einer seelischen und körperlichen Existenznot entstehen können. Das alte System bröckelt und tiefe Risse zeigen sich. Andererseits ist das Neue noch nicht da; bestenfalls zeigt es sich schemenhaft am Horizont.
Das heutige Chaos bietet die Möglichkeit zu einem evolutionären Sprung in der Bewusstseinsentwicklung. Ein solcher Sprung geschieht nicht automatisch, sondern benötigt eine bewusste Entscheidung, und zwar inmitten enormer Behinderungen. Zahlreiche „Kräfte“ wollen nicht, dass die Menschheit einen befreienden Bewusstseinssprung vollzieht. In der esoterischen und gnostischen Literatur wird in diesem Zusammenhang auch von Archonten und Äonen gesprochen, atmosphärisch wirkenden Kräften, in denen sich Lebensformen der Vergangenheit gespeichert haben. Sie benutzen unter anderem ideologische Strukturen und kleiden sie in ein modernes Gewand, um auf eine suggestive Art und Weise wirksam zu sein. Deshalb ist es so wichtig zu fragen, wo wir alte dogmatische Muster bedienen, die keinen wirklich befreienden Wert haben.
Schauen wir noch einmal auf die inneren Abläufe, die uns in Illusionen und Täuschungen führen.
Wir verlangen nach Freiheit, weil sie in der Tiefe unseres Seins angelegt ist. Das Denken ermöglicht uns, uns als selbstständige Wesen wahrzunehmen. Wir treffen eigenverantwortliche Entscheidungen und können dadurch unser Leben mehr oder weniger selbst bestimmen. Wir versuchen, die Grenzen unseres Bewusstseins und unserer Wirklichkeit nach innen und nach außen zu erweitern.
Dabei stoßen wir auf eine Vielzahl von Hindernissen. Wir grenzen uns von ihnen ab, bekämpfen sie, wollen sie überwinden. Unsere Gefühle wallen auf und schließlich brennen wir für unser Ideal, unsere Idee. Unmerklich verlieren wir uns in einer selbst erschaffenen feurigen Gefühlswelt.
Wir haben einen Nebel aus verblendeten Gefühlen erzeugt, der manchmal mit Glück und Freude, manchmal mit Frustration und Traurigkeit gefärbt ist. In ihm können sich überzogene und zwanghafte Vorstellungen von Moral, Prinzipientreue, Disziplin und Selbstkontrolle entwickeln, denen wir letztlich nicht gerecht werden können. Das anfangs eher sporadisch erstrebte Ideal wird dann vielleicht immer fanatischer und zielstrebiger verfolgt. Rückschläge werden als persönliches Versagen interpretiert, gefolgt von Schuldgefühlen. Menschen werden als Idole verehrt, auf die man das Gelingen projiziert.
Doch indem wir unsere eigenen Vorstellungen und Ideale in der physischen Welt manifestieren wollen, „erproben“ wir sie in gewisser Weise auch. Diese Realitätsprüfung gibt uns unmittelbar Feedback über ihre „Richtigkeit“ bzw. „Falschheit“. Ein Lernfortschritt kann erreicht werden, wenn wir die Konsequenzen unserer Selbst-Schöpfungen erfahren und dann aus den Fehlern lernen. Insofern ist diese Situation auch eine Gnade, weil sie Heilung ermöglicht. Der Feuerbrand wird dann zu einem Läuterungsbrand. Würden wir diesen „Realitätstest“ vermeiden, dann könnten unsere Über-Idealisierungen dauerhaft bestehen bleiben – mit dem damit einhergehenden Realitätsverlust.
Das Denken ist für uns heutige Menschen ein wichtiger Schwerpunkt des Bewusstseins. Dabei besteht die Gefahr, dass wir uns in Gedankenwelten hineinleben, bei denen uns gar nicht mehr bewusst ist, woher ihre Inhalte stammen. Wir bewegen uns mit in einem immer schneller rotierenden Wirbelsturm von Informationen.
Was können wir tun? Wir können innehalten. Wir können die Impulse, die von unserem Innersten ausgehen, in Stille und Offenheit wahrnehmen, ohne sie zu interpretieren. Sie bringen Licht mit sich, Licht der Seele. Dieses Licht ermöglicht eine neue innere Wahrnehmung. Und es bildet ganz langsam ein neues Denken heran, in dem sich die Impulse reflektieren.
Ein intuitives Denken entfaltet sich, das vom Licht der Seele gehalten wird. Mentale Klarheit entsteht, frei von behindernden Emotionen. Ein intuitives, ruhiges Denken, das sich zu einem Werkzeug der Widerspiegelung von Wahrheit und Licht macht. Es zeigt uns, wie unsere bisherige Wirklichkeit aussieht und wie sehr wir in ihr manipuliert werden. Mehr und mehr empfangen wir Impressionen der allumfassenden Ganzheit und beginnen zu verstehen.
Manchmal zeigt sich Intuition als blitzartiges Aufleuchten einer Erkenntnis. Unerwartetes Verstehen durchflutet dann das Bewusstsein.
Der Weg von der Täuschung zur Wahrheit liegt in der stetigen Auflösung der bisherigen Form. Dazu gehören all die Vorstellungen, Interpretationen, Projektionen, Gefühlsmuster, Ideale, Normen und Urteile, die wir im Lauf der Zeit erschaffen haben. Das Entscheidende ist, dass wir bereit sind, sie der Auflösung preiszugeben und den „leeren Raum“ in uns entstehen zu lassen, in dem sich im Licht der Seele alles in seiner wahren Gestalt zeigt.
Wir treten aus dem Feuer des Kampfes heraus, in den wir durch unsere Selbst-Schöpfungen, unsere selbst erschaffenen Ideale und Erwartungen hineingelangt sind. Die Materie der konkreten Dinge zeigt sich uns auf neue Weise. Alles Lebendige in der Natur ist Widerspiegelung von Höherem. Die Beziehung zwischen den uns bekannten Lebensformen und dem scheinbar Formlosen der göttlich-geistigen Welt beginnt sich zu offenbaren. Das höhere Licht der Intuition eröffnet dem Auge der Seele das wahre Wesen der Idealität. Um die ungetrennte Wahrheit zu erkennen, müssen wir uns zur Wahrheit erheben. Geleitet vom Licht der Seele erschließen wir uns, so weit wir es vermögen, die inneren Welten der Wahrheit. Eine Verbindung zwischen uns und der geistigen Welt entsteht, die unser Bewusstsein tiefgreifend verändert.
Wir identifizieren uns nicht mehr mit der Welt der Getrenntheit, auch nicht mehr mit der Form, in der wir leben und die wir vorübergehend benötigen. Das Seelenlicht führt uns zu einer nach und nach wachsenden Verbindung und Einswerdung mit unserem geistigen Urquell. Alle Unterschiede in der Form können wir dann als Ausdrucksformen in einem allumfassenden Energiefeld wahrnehmen. Die mentale Klarheit verbindet sich mit einer Kraft der Liebe, wie wir sie bisher nicht kannten. Es ist die von Weisheit erleuchtete Liebe, als eine Vereinigung von Verstand und Hingabe. Die Einheit allen Lebens macht sich im Herzen bemerkbar und ihre einsichtsvolle Anwendung wirkt sich in einem neuen aktiven Leben aus.