Urvertrauen
Wenn ich in dieser Offenheit lebe, ist alles, was benötigt wird, ist zur rechten Zeit vorhanden. Alles, was mir begegnen soll, wird mir gleichsam von selbst zugeführt. Ich muss mich dafür nicht anstrengen. Alles ist vorhanden. Das Leben stellt alles zur Verfügung, wenn ich offen und durchlässig dafür bin. So gesehen ist alles unglaublich einfach!
Vielleicht klingt dieser letzte Abschnitt ein wenig euphorisch und traumtänzerisch. Ich möchte demgegenüber versichern, dass die innige Verbindung zur Natur, dass die Einfühlung in den Wald dieses Urvertrauen zu einer realen Erfahrung werden lässt. Dieses Vertrauen möchte in uns geboren werden und schafft dafür Verwicklungen, Widerstände, Widrigkeiten, an denen wir uns reiben, an denen wir wachsen und reifen können.
Ein konkretes Beispiel dafür: Ich verirrte mich bei einer Wanderung im Schwarzwald in einem großen Waldgebiet. Alle Wege sahen gleich aus und meine Wasservorräte gingen zu Ende. Als dann noch meine Wander-App bei zu schwacher Handyladung ausfiel, war ich ohne jede Orientierung, fast ohne Lebensmittel und vor allem ohne Wasser. Es wurde immer dunkler und die Wege waren nicht mehr zu erkennen. So wurde ich einfach gezwungen, mich vertrauensvoll dem Wald hinzugeben. Ich baute irgendwo mitten im Dickicht meine Hängematte auf. Gerade war die letzte Halteleine verspannt, der Schlafsack ausgerollt, da hörte ich direkt 10-15 Meter unterhalb meines Schlafplatzes ein leises Bachplätschern. Mitten in diesem unvorstellbar großen Waldgebiet sprudelte genau an dieser Stelle eine Quelle aus dem Boden, ein klarer Strom reinen Wassers.
In jedem Augenblick ist für alles gesorgt …, und das umso mehr, je mehr wir von uns selbst absehen und angstfrei atmen können.
Indras Netz
„Es gibt für jeden Tag zwei Pläne, meinen Plan und den des Geheimnisses“, sagen die Ureinwohner von Grönland, die Inuit. Sie haben sich das Bewusstsein dafür bewahrt, dass wir in jedem Augenblick auf engste Weise eingebunden sind in eine Ganzheit. Alles in dieser Ganzheit lebt, atmet, webt an dem großen Netz, das wir Leben nennen und wirkt auf uns ein.
Im Hinduismus und Buddhismus wird dieses Gewebe der Ganzheit als Indras Netz bezeichnet. Es wird erzählt, der Gott Indra habe einst ein Netz geknüpft, und jeder Knoten darin sei ein vielfältig geschliffenes Juwel. Jedes Juwel reflektiert alle anderen in diesem Netz. Jeder Diamant steht für ein individuelles Wesen, eine Zelle, ein Atom und ist eng mit allen anderen Juwelen im Universum verbunden. Die Veränderung in einem Juwel bedeutet eine Veränderung in jedem anderen. Wenn also in einem Menschen eine Bewegung, eine Bewusstseinsveränderung stattfindet, wird sie von den Lebewesen seiner Umgebung wahrgenommen und weitergespiegelt.
Bei meinen meditativen Wanderungen erlebe ich fortwährend ganz konkret das Wirken von Indras Netz. Die Stille des Waldes bewirkt eine gesteigerte Offenheit und Durchlässigkeit für das innerste Wesen. In dieser Offenheit, in dieser Ausstrahlung von innen her kommt es zu einer völlig neuen Qualität des Augen-Blicks. Ich begegne anderen Menschen, und In Sekundenbruchteilen – meist ist es der kurze Blick in die Augen des Anderen – entscheidet sich, ob eine Begegnung zustande kommt, ob ein Gespräch angefangen und vertieft wird. So treffe ich mitten im Wald, am Waldrand oder im nächsten Dorf Förster, Jäger, Waldbesitzer, Baumfäller, Schäfer, Gärtner, Bauern, Heiler, Theologen, Bürgermeister … Die Kette ließe sich endlos fortsetzen.
Spontane Dialoge
An jedem Tag ergeben sich aus der Magie des Augen-Blicks spontane Dialoge mit mir völlig fremden Menschen. Ich nehme mir ganz viel Zeit für diese Gespräche. Manchmal sind es 30 Minuten, manchmal aber auch zwei Tage. Ich versuche, zuhörend zu ergründen, was mein Gegenüber bewegt. Ich stelle ihm einen seelischen Raum zur Verfügung, in dem er sich ausdrücken kann, in dem er sich wahrgenommen fühlt. Ich verbinde mich mit den jeweils unterschiedlichen Perspektiven und Motivationen des Gesprächspartners. In einem sterbenden Fichtenwald zum Beispiel besitzen Baumfäller, Förster, Jäger und Waldbesitzer ganz unterschiedliche Motivationen und Sichtweisen auf das Geschehen. So werden Gesamtmuster erkennbar.
Die Landschaftsseele spricht durch die Menschen gewissermaßen mit sich selbst. Sie bringt sich durch eines ihrer Elemente zum Ausdruck – und ich kann als mitfühlendes Element andere Perspektiven, andere Motivationen aus dem Gesamtgewebe mit hineinspiegeln.
Es ist einfach wunderbar zu beobachten, wie man auf einer Wanderschaft mitten durch die Landschaftsseele immer auf genau die Menschen und Gegebenheiten trifft, die der eigenen Resonanz entsprechen. Indras Netz ist jeden Tag konkret erfahrbar, ständig an-wesend.
Dieses Gewebe ist ein großes Geheimnis.
Oft treffe ich mir völlig fremde Menschen, und drei Tage später begegne ich anderen, die mit ihnen verwandt oder bekannt sind. Manchmal kann ich mir unbekannten Menschen bestimmte Ärzte und Heiler empfehlen, die mir gerade vor ein paar Tagen „zufällig“ begegnet sind und die ihnen in ihrer schweren Krankheit vielleicht helfen können. Häufig erkennen meine Gesprächspartner und ich in einem tiefen, berührenden Dialog über das Leben, dass wir uns, obwohl wir uns nie zuvor begegnet sind, im Tiefsten unseres Wesens kennen, ja vertraut sind, ja dass wir nahezu auf diesen Moment der Begegnung gewartet haben.
Diese Erlebnisse beflügeln mich, sie lassen mich vor Glück „hüpfen“ auf meinem Wanderweg. Sie lassen mich fühlen: Es gibt dieses Gewebe, das zwischen Mineral, Pflanze, Tier und Mensch gespannt ist. In diesem Netz ist für alles gesorgt. Wir können eine Fülle erfahren, die uns in jedem Moment unseres Lebens mit der Energie und Kreativität versorgt, die wir benötigen.
Und jede neue Erfahrung wirkt sich auf das ganze Netz aus.
An-wesend sein
Individualseele, Landschaftsseele, Weltseele, der Kosmos sind auf das Engste miteinander verwoben. Jeder Einzelne ist ein kleiner, aber nicht unbedeutender Teil darin, auch eines der Juwele.
Ich glaube, diese Präsenz, dieses essentielle Anwesend-Sein, diese Offenheit, Zugewandtheit, Einfachheit und Hingabe an das Leben sind in der vor uns liegenden Zeit von größter Bedeutung. Es sind künftige Schlüsselqualifikationen für unsere Lebensreise.
Hape Kerkeling gab vor 15 Jahren der Beschreibung seiner Pilgerreise auf dem Jakobsweg den Titel: Ich bin dann mal weg!
Ich empfinde meine Wanderungen inzwischen nicht nur als Freizeitvergnügen, sondern als eine Art „Dienstreise“, bei der ich mich in Indras Netz zu bestimmten Knotenpunkten führen lasse, wo meine Wahrnehmung, mein aufmerksames Zuhören und meine Unterstützung gebraucht werden:
Das Motto meiner Lebensreise lautet dann: Ich bin dann mal da!