Gral oder Anti-Gral

Das Mittelalter brachte zwei große Kunstwerke hervor, die eine ganze Epoche prägten: Dantes "Göttliche Komödie" und Wolfram von Eschenbachs "Parcival".

Gral oder Anti-Gral

Der Unterschied zwischen Dantes Göttlicher Komödie und Wolfram v. Eschenbach´s Parcival-Erzählung besteht darin, dass wir bei Dante eine statisch ausgewogene Struktur kennen lernen, während wir in der Parcival-Geschichte Figuren und Ereignisse beobachten, die sich dynamisch entfalten.

Wir können die Parcival-Erzählung als einen der größten kulturellen und geistigen Schätze der damaligen Zeit betrachten. Eschenbach malt das Schicksal der Figur Parcival in kraftvollen Bildern. Einerseits werden wir auf faszinierende Weise mit einem Leben konfrontiert, das sich in einer fernen Vergangenheit abspielt, andererseits wird uns eine Welt gespiegelt, in der wir uns selbst erkennen können.

Die Gralserzählung schildert nicht nur ein Abenteuer, sondern stellt mit großer Beredsamkeit eine geistige Realität dar, eine Welt im Werden, in der auch der heutige Mensch eine Rolle zu spielen hat. Man könnte sagen, dass die Gralsgeschichte noch immer andauert und noch nicht an ihrem Ende angelangt ist. Die Gralsgeschichte hat eine Keimkraft: Es wächst und blüht immer wieder etwas Neues, weil es die Aufgabe des Menschen ist, selbst daran zu arbeiten.

Wie bei Parcival sind auch in unserer Zeit viele auf der Suche nach dem wahren Sinn des Lebens. Alle Suchenden, die dieses Ziel vor Augen haben, sind daher per definitionem „Gralssucher“. Doch auch in unserer Zeit wird der Gralssucher, wie Parcival, in die Irre geführt, was in den meisten Fällen zur Gegenkraft des Anti-Grails führt. Das Wirken der Gegenkräfte des Grals wird in der Geschichte von Eschenbach besonders deutlich. Darin ist zu lesen, dass der große Gegenspieler von Parcival der dunkle Magier Klingsor ist. Mehr zu dieser Figur später.

Parcival spürt in seinem Wesen einen unaufhaltsamen Drang, inmitten der Welt der Dunkelheit nach Wahrheit und Licht zu suchen, und er wird nicht aufhören zu suchen, bis er sein Ziel, seine Bestimmung gefunden hat. Er kann seine Suche nicht aufgeben, denn dann würde er gegen sein eigenes Wesen handeln, das ihn antreibt. Der Weg zum Gral, zur Befreiung von der Finsternis, steht allen offen, man muss ihn nur tatsächlich gehen. Wenn wir die Geschichte von Parcival auf diese Weise aufnehmen, können wir von einem Weg der Einweihung sprechen, der vor uns liegt, einem Weg der Einweihung, der nicht an Zeit und Ort gebunden ist, und mit einer Eloquenz, die zu allen Zeiten dieselbe war, ist und sein wird.

 

Exakte Phantasie

Als Chrétien oder Chrestien de Troyes um 1180 seine Geschichte Parcival ou le Conte du Graal in die Welt schickte, fiel sie auf fruchtbaren Boden, denn nach seiner Geschichte erschienen innerhalb eines bestimmten Zeitraums mehrere Gralsgeschichten. Dies ist an sich schon eine bemerkenswerte Tatsache.

Alle Autoren, die zur Gralserzählung beigetragen haben, sind Vertreter dessen, was man unter „exakter Phantasie“ verstehen könnte. Der Begriff „exakte Phantasie“ stammt von Goethe. Der Begriff bezeichnet die Phantasie, die ein großes Maß an Wahrheit enthält. Er bezieht sich auf das „freie Geistesleben“. Der Geist, der im Menschen wirken kann, ist eine Qualität, die nicht aus dem Menschen selbst kommt, sondern aus dem Kosmos empfangen wird. Der Mensch hat nur die Fähigkeit, sich dieser Quelle der Inspiration zu öffnen.

Der lebendige Geist ist allgegenwärtig. Wenn sich nun mehrere Personen zu einer bestimmten Zeit diesem lebendigen Geist öffnen, kann es geschehen, dass sie gleichzeitig ein und dieselbe Idee zum Ausdruck bringen. Die Gralsinterpreten waren also keineswegs sklavische Nachahmer, sondern fügten den vorhandenen Geschichten ihre eigenen Seelenerfahrungen hinzu. Sie fühlten sich als Ritter des Wortes und schmiedeten in immer neuen Variationen eine Struktur, die den Sieg des Geistes auf Erden zeigt.

Diese Autoren waren offen für die geistigen Kräfte in der Atmosphäre und bauten auf der von De Troyes gepflanzten Saat auf, die mehrere Jahrhunderte lang Früchte tragen sollte.

Im Jahr 1190 erscheint Robert de Borons Geschichte über den Gralsbecher. Darin wird beschrieben, wie Joseph von Arimathäa das Blut des Gekreuzigten in dem Kelch auffängt, den Christus beim Abendmahl verwendet.

Ein weiteres Werk erscheint im Jahr 1270. Es ist Jüngeren Titurel, von Albrecht von Scharfenberg. Es erzählt vom Bau der Gralsburg und zeigt eindrucksvolle Bilder von den Materialien, die zu ihrer Herstellung verwendet wurden.

Die bekannteste Gralsgeschichte stammt von Wolfram von Eschenbach, der das von Chrétien im dreizehnten Jahrhundert begonnene Werk vollendete. Chrétien musste auf die Inquisition Rücksicht nehmen, weshalb seine Geschichte manchmal einen katholischen Einschlag hat. Er malt fast traumartige Bilder, die Wolfram weiter ausarbeitet. Von Eschenbachs Figuren sind eher aus Fleisch und Blut, denn er hat Christus anders erlebt: Er hat ihn sozusagen in Fleisch und Blut gespürt.

Ein Strom von inspirierenden Kräften durchströmte Europa mehrere Jahrhunderte lang und führte den mittelalterlichen Menschen zu beeindruckenden Leistungen, die jedoch auch einen Gegenimpuls hervorriefen. Gemeint ist damit die ungezügelte Leidenschaft, die zu den Kreuzzügen führte, und der Fanatismus, der die daraus resultierenden gnostischen Bewegungen ausrotten wollte. So kam es im Laufe der Zeit unter dem Einfluss des veränderten Seelenzustandes des Menschen auch zu einem Niedergang der Gralsgeschichten. Die Bilder wurden unrein und schließlich verschwanden die Gralsgeschichten für lange Zeit.

 

Nomen est omen

Parcival – sein Name bedeutet so viel wie „in die Tiefe des Tals eindringen“ – ist die zentrale Figur. Er kennt seinen eigenen Namen nicht, weil seine Mutter ihn immer „guter Sohn“ nannte. Die Tatsache, dass Parcival seinen eigenen Namen nicht kennt, deutet darauf hin, dass er nichts von seinem eigenen Schicksal wusste. Er ist der Sohn der Witwe Herzoloyde. Sie hat ihren Mann verloren, der ein Ritter war, und will nun nicht, dass ihr eigener Sohn mit dem Rittertum in Verbindung gebracht wird.

„Sohn einer Witwe“ hat eine okkulte Bedeutung. Mutter Erde, die Terra Pestifera, hatte die ursprüngliche Vaternatur verlassen, und die geistigen Führer, die sich um das Schicksal der Menschheit kümmern und sie leiten, nennen sich dann Söhne der Witwe, wie der Weltenlehrer Mani.

 

Aufbau der Gralserzählung

Wolframs Gralsgeschichte ist straff in sechzehn Teile gegliedert und schildert in schönen Bildern das gesamte Schicksal Parcivals und der Menschheit. Die Zahl 16 ist keine zufällige Zahl. Nach Rudolf Steiner steht die Zahl 16 im Zusammenhang mit den 16 verschiedenen Seelenzuständen, die mit dem Kehlkopfchakra in Verbindung stehen. Acht dieser Seelenzustände hat der Mensch in einer fernen Vergangenheit, als sein Bewusstsein noch stumpf war, ohne sein eigenes Verdienst gebildet. Die letzten acht muss der Mensch aus eigener Kraft entwickeln. Daher sprach Buddha vom achtfachen Pfad, um bestimmte Qualitäten in der Seele zu erlangen.

 

Die drei Phasen

Außerdem gibt es in der Geschichte drei Entwicklungsstufen: Trübsinn der Seele, Zweifel und die Saelde oder Glückseligkeit. Parcival ist kein Held aus Pappe, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut, der wie wir auch viele Fehler macht. Erstens stürmt er unwissentlich und unüberlegt das Leben als „Roter Ritter“, der noch ganz von seiner Blutnatur geprägt ist. Daran ist er immer schuldig. Dann wird er von einem großen inneren Selbstzweifel und von Gott gequält, um dann, nach dem Zweifel, seine endgültige Bestimmung als „Weißer Gralsritter“ zu erreichen.

Parcival lebt mit seiner Mutter in der Einsamkeit tief in einem Wald und weiß nichts von der Welt um ihn herum. Er ist in Gauklerkleidung gekleidet, also nicht in die Kleidung der gewöhnlichen Natur, was bereits darauf hindeutet, dass er eine besondere Bestimmung hat: Schließlich ist er berufen, den Weg der Seele zu gehen. Eines Tages begegnet er im Wald den Rittern von König Artus und Parcival ist tief beeindruckt. Nun will auch er ein Ritter werden und eilt zu seiner Mutter, um sie um ein Pferd zu bitten. Er verabschiedet sich von ihr, ohne zu ahnen, dass sie nach seiner Abreise vor Kummer stirbt. Damit macht er sich eine erste Schuld auf.

Parcival kommt an König Artus‘ Hof an. Er besiegt den Roten Ritter Ither in einem überstürzten Angriff und legt seine Rüstung an, so dass die anwesenden Ritter vor Staunen sprachlos sind. All die Abenteuer, die er erleben wird, stehen für das äußere Rittertum, aber er wird von Sigune, seiner inneren Stimme oder seinem Gewissen, auf seine Bestimmung hingewiesen. Sie erkennt ihn als ihren Cousin und gibt ihm seinen eigenen Namen: Parcival.

Inzwischen hat er seine Frau gefunden: Condwiramur, und dieser Name bedeutet: conduit à l’amour. Sie ist diejenige, die ihm den Weg zur Liebe zeigt, sie repräsentiert den göttlichen Funken in seinem Herzen, der noch latent vorhanden ist. Kurz nach ihrer Hochzeit fragt Parcival sie, ob er seine Mutter besuchen darf. Auf dem Weg zu seiner (verstorbenen) Mutter findet er die Gralsburg.

Parcival wird die Gralsburg zweimal besuchen. Beim ersten Mal ist er jedoch noch nicht würdig und nimmt unwissentlich an der Gralsmahlzeit teil. Von ihm wird erwartet, dass er den kranken König Anfortas heilt, aber das gelingt ihm natürlich nicht.

Sie wissen vielleicht, dass der heutige Mensch zu einem bestimmten hohen Ziel berufen ist, obwohl es in unserem ganzen Leben darum geht, dieses Ziel zu vergessen! In der Tat werden wir auch jeden Tag zu einem sogenannten Gralsmahl eingeladen, das heißt: wir werden täglich im Schlaf mit Kräften konfrontiert, die, weil wir uns dessen nicht bewusst sind, unser System wieder verlassen, ohne verarbeitet zu werden.

Um wie Parcival am Gralsmahl teilnehmen zu können, müssen wir uns zunächst gründlich vorbereiten, das heißt: wir müssen unser Herz reinigen und unser ganzes System für die Kräfte öffnen, die aus der anderen Natur zu uns kommen. Dieser Zustand ist eine Entwicklung, ein Prozess, der Schritt für Schritt vollzogen werden muss und der nur auf der Grundlage eines tiefen Wunsches möglich ist! Es ist der Wunsch, tatsächlich wieder ganz zu werden, geheilt werden zu wollen. Wir müssen den Gral sozusagen selbst errichten, in unserem eigenen System. Wenn wir uns an die gestellten Bedingungen halten können, sind wir in der Lage, die Kräfte, die uns dann durch den Christus gegeben werden, zu ertragen und zu nutzen.

Dieser Vorgang wird in der Parcival-Geschichte sehr detailliert und humorvoll dargestellt.

So begegnet Parcival Sigune zum zweiten Mal, nachdem er in der Gralsburg gewesen ist. Als sie erfährt, dass Parcival nicht in der Lage war, König Anfortas zu heilen, ist sie wütend und schimpft ihn unmissverständlich aus. Als er in König Artus‘ Burg ankommt, kommt die abscheuliche Cundrie hinzu. Sie ist die Verkörperung seiner eigenen, noch nicht gereinigten Astralis, und daher hat Cundrie ein zerlumptes Aussehen, Ohren wie ein Bär und Nägel wie Löwenkrallen!

Wie sein Neffe Gawain wird er von einer Flut von Kummer überwältigt.

Beide Ritter verlassen König Artus‘ Fest mit eingezogenem Schwanz, und Parcival landet nun in der zweiten Phase: Zweifeln.

Parcival und Gawain beschließen, jeweils ihren eigenen Weg zu gehen, und ersterer verschwindet nun vorübergehend von der Bildfläche. Wir folgen nun den Abenteuern seines Neffen Gawain, der eine besondere Rolle in Parcivals Leben spielt.

 

Gawain

Sein Neffe Gawain ist der Wegbereiter und hat die Aufgabe, alle Fehler, die Parzival macht, mit dem Mantel der Liebe zu bedecken. Gawain ist also die Personifizierung der Herztätigkeit, während Parcival die Personifizierung der Kopftätigkeit ist.

Von Parcival, der in seinen Gedanken verstrickt ist, hören wir nichts mehr. Wolfram zeigt damit, dass der Weg, den Parcival als Vertreter des Denkens geht, eine Sackgasse ist. Auf dem Weg der Befreiung müssen Kopf und Herz zusammenarbeiten!

Gawain erlebt allerlei aufregende Abenteuer mit holden Jungfrauen; ein wunderbarer Fund von Wolfram, um die Tätigkeit des Herzens darzustellen!

Gawain gelangt auch in die Zauberburg des dunklen Magiers Klingsor, wo er viele Qualen erleiden muss. Doch als er die Prüfungen erfolgreich übersteht, wird er Herr und Meister der Burg und hat den Zauberer besiegt, der daraufhin verschwindet. Mit dieser beeindruckenden Tat befreit Gawain die von Klingsor gefangen gehaltenen Burgfräulein und es folgt ein fröhlicher Abend.

 

Trevrizent

Parcival, von Kummer und Scham geplagt, irrt immer noch in den Wäldern umher, und ohne es zu merken, kommt er in die Nähe des Mont Salvat, wo sich die Gralsburg befindet. Hier liefert er sich einen erbitterten Kampf mit einem Gralsritter, der das Gebiet gegen fremde Eindringlinge bewacht. Am Ende stürzt Parcivals Pferd in einer tiefen Schlucht zu Tode, der Gralsritter verschwindet und lässt sein Pferd zurück, das Parcival übernimmt. Dies ist ein wichtiges Ereignis: Wolfram zeigt hier, dass die alte Inspiration, auf die er sich verlassen hat, sein eigenes Pferd, nicht mehr da ist und dass ein neuer Weg eingeschlagen werden muss. Es entwickelt sich eine neue Art von Bewusstsein.

Peacival lässt sich vom Gralspferd leiten und findet auf diese Weise den Einsiedler Trevrizent. Dieser Einsiedler ist eine wichtige Figur für Parcival. Hier findet Parcival ein offenes Ohr und nachdem er von seiner eigenen Situation erzählt hat, wird er von dem Einsiedler getröstet und gestärkt und gewinnt seinen Glauben zurück. Hier erfährt Parcival, dass Trevrizent der Bruder des kranken Königs Anfortas ist und dass ein Ritter erwartet wird, der ihn heilen kann. Parcival erfährt, dass er dieser Ritter gewesen sein muss, und schämt sich zutiefst für sein Versagen. Trevrizent tröstet ihn und sagt ihm, er solle auf Gott und sein Schicksal vertrauen.

Die Begegnung mit dem Einsiedler gibt der Geschichte eine ganz andere Wendung und Parzival macht sich wieder voller Hoffnung auf die Suche nach der Gralsburg.

 

Kopf, Herz und Becken

Wer sich auf den Seelenweg begibt, sollte bedenken, dass Kopf, Herz und Becken eine Einheit bilden müssen.

Der Mensch hat drei Bewusstseinsstufen: Es gibt ein Hirnbewusstsein und ein Herzbewusstsein, weshalb man den Menschen in denkende und fühlende Typen einteilen kann, aber das eigentliche Handlungsmotiv geht vom Becken aus, wo das Unterbewusstsein wohnt. Es speichert alle Erfahrungen, Eigenschaften und Talente aus früheren Inkarnationen. Es ist die kombinierte Kraft des Karmas und der Selbsterhaltung. All dies bildet also das Beckenbewusstsein, das als führend und zwingend bezeichnet werden kann.

 

Einheit von Kopf und Herz

Als eines Tages die Vertreter von Kopf und Herz, Parcival und Gawain, aufeinander treffen, kommt es zu einem heftigen Streit, weil Parcival seinen Neffen nicht erkennt. Er ist schockiert, als er erfährt, dass dieser sich mit seiner eigenen Familie angelegt hat und bietet sich als sein Diener an. Der Verstand will sich also dem Herzen unterordnen, und dann erzählt Gawain ihm, dass Parcival sich selbst besiegt hat.

Dies ist eine wichtige Tatsache, denn nun ist eine Verschmelzung zwischen Kopf und Herz erreicht. Der erste Schritt auf dem Seelenweg ist mit dieser Tat Wirklichkeit geworden.

Doch damit ist es nicht getan, denn das Beckenbewusstsein ist noch nicht besiegt. Um dies zu erreichen, kommt es zu einer Konfrontation zwischen Parcival und seinem Halbbruder Feirefis.

 

Feirefis

Wenn man bedenkt, dass alle Personen, denen Parcival begegnet, Aspekte seiner eigenen Persönlichkeit sind, wird die ganze Gralsgeschichte viel klarer.

Parcivals Vater hatte ein Kind mit einer anderen Frau gezeugt, was Parcival jedoch nicht bekannt war.

Als Parcival seinem Halbbruder Feirefis begegnet, ist er von dessen Aussehen tief beeindruckt.

Feirefis ist als Vertreter des Beckenbewusstseins eine mächtige Person, denn er wird vom Reichtum seiner Vergangenheit überschattet. Schließlich ist er die Verkörperung aller früheren Inkarnationen. Es entbrennt ein erbitterter Kampf auf Leben und Tod. Schließlich zerbricht Parcival sein Schwert an Feirefis‘ Kopf, das Schwert, mit dem er den Ritter Ither getötet hatte, und er ist wehrlos. Ein entscheidender Moment!

Niemand kann gegen das Unterbewusstsein ankämpfen, und Hilfe muss nun von außen kommen.

Das Schwert war das Symbol des alten Willens, der nun gebrochen ist.

Dann tut Parcival das Einzige, was er in diesem Moment tun kann: Er konzentriert sich auf sein Herzatom, seine Frau Condwiramur, oder anders gesagt: Er lässt das Licht Christi in sein Wesen strömen, das alle Widerstände beseitigt!

Parcival konnte nicht anders; etwas war in ihm zerbrochen, und weil es keinen leeren Raum gibt, ist Platz für etwas Neues. Das Christuslicht bietet ihm Erlösung, denn ohne Hilfe kann man das Unterbewusstsein nicht überwinden.

Für Feirefis gibt es keine Ehre mehr zu gewinnen: Er kämpft nicht gegen unbewaffnete Männer.

Sie setzen sich zusammen, kommen ins Gespräch und finden heraus, dass sie Halbbrüder sind. Ein sehr wichtiger Moment, denn Parcival hat nun eine Einheit zwischen Kopf, Herz und Becken, zwischen Denken, Fühlen und Wollen erreicht! Er hat sich selbst besiegt und muss nun schnell zur Gralsfestung gehen, wo er König Anfortas heilen kann.

Auf dem Weg dorthin treffen sie auf Cundrie, die nun wie eine bezaubernde Dame aussieht. Dies passt zu der gereinigten Astralis von Parcival, deren Verkörperung Cundrie ist. Parcival trifft auf dem Weg zum Schloss auch seine Frau Condwiramur mit ihren beiden Kindern. Die ganze Gruppe macht sich auf den Weg zur Gralsburg.

 

Anfortas

König Anfortas hatte in der Vergangenheit den Weg des „Amor“ beschritten, und laut seinem Bruder Trevrizent war das nicht die richtige Methode, um eine würdige Gralskönigin zu finden.

Er musste dafür einen hohen Preis zahlen und erlitt eine Wunde an seinen Genitalien, die nicht heilen konnte, bis ein Ritter kam, der ihn davon heilen konnte.

Als Parcival in der Gralsburg ist, spricht er zu Anfortas: „Herr, was fehlt Euch?“

Sofort hat der König eine gesunde Gesichtsfarbe und ist geheilt.

Das bedarf natürlich einer Erklärung.

Parcival hat sich selbst besiegt und verfügt nun über ein perfektes Kehlchakra. Er ist in der Lage, die Gabe des magischen Wortes, inspiriert durch die Macht des Grals, des Heiligen Geistes, zu nutzen. Parcivals Worte sind nicht länger Gesten der Kehle, sondern sind mit der schöpferischen Kraft Christi aufgeladen und können für die Menschheit heilend sein. Dann kann das Wort wirklich „lebendig“ werden. Auf diese Weise kann Parcival als Repräsentant des neuen Menschen den König aus seinem Elend befreien.

Mit der Vereinigung seines Halbbruders Feirefis hat Parcival eine Einheit von Denken, Fühlen und Wollen erreicht und ist zu einem Meister des Steins geworden, dessen Handeln der Gnosis dient.

 

Der dunkle Magier Klingsor

Von der Gralsburg auf dem Mont Salvat strömten mächtige geistige Kräfte in die Welt. Ihren Gegenimpuls finden wir in der Burg des Zauberers Klingsor, dem Herrn des Reiches Schastel Marveil. So wird das Wirken der gegensätzlichen Gralskräfte auch in von Eschenbachs Gralserzählung besonders deutlich gemacht. Hier ist der Magier Klingsor der große Gegenspieler Parcivals.

Alles, was Wolfram über das kapriziöse Reich von Schastel Marveil schreibt, steht in direktem Zusammenhang mit dem luziferischen Wesen des Bösen.

Die Figur des Klingsor basiert auf einer historischen Figur: Steiner bringt ihn mit dem Herzog von Capua in Verbindung, der ebenfalls ein Zauberer war und in der Nähe des Vulkans Vesuv lebte.

Von Eschenbach erzählt uns, dass sich Klingsor bei seiner Ankunft in Sizilien mit der Königin Iblis verbündet. Als ihr Ehemann von ihrer Beziehung erfährt, muss Klingsor entmannt werden.

In der islamischen Mythologie entspricht Iblis der Gestalt Luzifers, und als luziferisches Wesen bringt sie Klingsor sicher nicht das Heil!

Klingsor versucht zunächst, Gralsritter zu werden, doch der alte König Titurel sieht, dass sein Herz schwarz ist und weigert sich, ihn zu ernennen. Klingsor war darüber so erzürnt, dass er im Zorn folgende Worte sprach:

„Wenn ich dem Gral nicht dienen kann, dann muss der Gral mir dienen!“

Daraufhin verwandelt er sich in einen bösen Zauberer, der 400 Burgfräulein und 4 Königinnen gefangen nimmt, die die Ritter auf der Suche nach der Gralsburg aufhalten müssen.

Die Gralsburg ist schwer, ja sehr schwer zu finden, aber die magische Burg von Klingsor, die Anti-Grail-Burg, ist auf einem Berg gebaut und die negative Strahlung, die von ihr ausgeht, ist in der unmittelbaren Umgebung zu spüren.

Klingsor zieht alle in seinen Bann, und die Menschen um ihn herum sind gezwungen, seinen Befehlen zu folgen. Bei ihm ist alles umgekehrt: Der andere ist dazu da, ihm zu dienen, und seine eigene Astralis wird aktiviert.

Klingsor hatte in seinem Zauberschloss ein Zaubergerät: eine Säule, mit der man die Dinge der Welt bis zu sechs Meilen weit sehen konnte. Im Gegensatz zum Gralstempel, in dem man mit sich selbst konfrontiert ist, sehen wir in der Zauberburg von Klingsor das andere Extrem: Hier ist man ständig der äußeren Welt um sich herum ausgesetzt. Mit anderen Worten: Man lernt alles Mögliche über andere Dinge, vergisst aber, sich selbst zu untersuchen.

Ist diese wunderbare Säule nicht auch in unseren eigenen Räumen vorhanden? Wir sehen also, dass die dunkle Magie immer noch am Werk ist, und von Eschenbach war in diesem Punkt sicherlich ein Visionär!

 

Die Macht des Bösen

Sizilien, die Insel, auf der Klingsor sein Schloss besaß, hatte bestimmte Eigenschaften, auf denen der Magier seine dunklen Kräfte aktivieren konnte.

Die Geschichte ihrer Burg, Calta Bellotta oder Kalot Embolot, geht auf eine Zeit lange vor Christus zurück. Der Erbauer war Dädalus aus Athen, ein genialer Bildhauer und Architekt. Sein Schicksal ist mit dem von Calta Bellotta verbunden, da er seinen Sohn Ikarus verlor, der mit seinen von Dädalus gefertigten Flügeln zu hoch flog und ins Meer stürzte.

Ab dem 7. Jahrhundert wurde Sizilien von den Arabern aus Kairouan angegriffen und eine Gruppe von Magiern der Aissaou-Sekte ließ sich in der Burg von Calta Bellotta nieder.

Diese Aissaou-Sekte führte bis vor dem Zweiten Weltkrieg okkulte Praktiken mit grausamen Folterungen und Bewusstseinsübungen durch.

Von dieser Burg aus verbreiteten sie ihre verderbliche Iblis-Kultur, die sich gegen den Gral richtete. Die Verbindung von Klingsor mit dem Wesen der Iblis-Kultur ist eine der schädlichsten aller irdischen Entwicklungen. Sie führte zu einer Disharmonie, die noch heute in Sizilien okkult zu beobachten ist und die ihre Schattenwirkung auf die moderne Gesellschaft hat.

 

Die Bodenverhältnisse

Die Bodenbeschaffenheit hat einen großen Einfluss auf den Menschen, und es ist kein Zufall, dass sich die Anti-Grail-Festung auf Sizilien etablieren konnte. Hier befindet sich der größte aktive Vulkan in Europa: Der Ätna. Die vulkanische Beschaffenheit des Bodens steht in direktem Zusammenhang mit dem moralischen Charakter des Menschen. Schließlich ist die Erde ein lebendiger Organismus, der auf die psychischen Störungen seiner Bewohner reagieren kann. Die Erde besteht aus 9 Schichten, von denen jede ihre eigenen Merkmale hat. Über den Kosmos weiß man heute alles, aber über die Erde sind nur wenige Kilometer bekannt. Das ist eine Parallele zum Menschen: Er weiß viel über die anderen Dinge, hat aber wenig oder keine Selbsterkenntnis!

Die Aufgabe des Menschen auf der Erde ist von größter Bedeutung, denn er steht zentral zwischen der neunfachen Engelshierarchie und den neunfachen Erdschichten unter ihm. Hohe Kräfte wirken aus dem Kosmos auf die Erde, während polare Kräfte von der Erde aus nach oben wirken. Als die Erde abkühlte, flüchteten diese Kräfte in das Erdinnere, und als die Erde erstarrte, wurden diese Kräfte gleichsam gefangen gehalten.

Von der 6. Schicht, der Feuererde, führen eine Reihe von Schächten zu verschiedenen Stellen der Erde, die die vulkanischen Krater bilden. Die 7. Erdschicht gibt ein getreues Abbild dessen, was auf der Erde auf moralischer Ebene geschieht. Bei einer Zunahme der Unmoral werden die Kräfte in dieser Schicht aufgelöst und die Feuererde wird in Bewegung gesetzt, was zu einem Vulkanausbruch führt.

Die 8. Schicht wird Zertrümmerer genannt: Alle lebenden Organismen werden hier nach dem Tod unendlich vervielfältigt. Diese Ebene ist auch der Sitz von Disharmonie und Unmoral. Gelingt es einem Schwarzmagier, diesen Bereich zu erreichen, wird sein Zorn ins Unendliche gesteigert.

Es überrascht nicht, dass Sizilien aufgrund seines Vulkanismus und seiner Vergangenheit, die mit schwarzmagischen Praktiken verbunden ist, ideal für die Aktivität negativer Kräfte geeignet ist.

Außerdem ist es nicht verwunderlich, dass dort eine antisoziale oder antichristliche Bewegung wie die Mafia entstehen könnte.

Die Gralsgegner können nichts Eigenes erschaffen, sie imitieren nur und stellen alles auf den Kopf.

Die Ritter, die sich dem Gral nähern wollten, mussten das erhabene Ziel der Liebe erkennen. Um sich der Liebe zu nähern, mussten sie die sieben ritterlichen Tugenden praktizieren, vier niedere und drei höhere Seelenzustände, nämlich: Maß, Mut, Weisheit und Gerechtigkeit als die vier niederen und Glaube, Hoffnung und Liebe als die drei höheren.

Nun, wir sehen in unserer Welt, dass diese Seelenzustände täglich oft ins Gegenteil verkehrt werden: die Wahrheit ist in der Tat zur Lüge und die Lüge zur Wahrheit geworden!

Aber den Rittern des Parcival ging es nicht um das Niedere; sie befreiten das Schöne in sich selbst, in den Geschichten eine schöne Jungfrau, und vertrieben damit ihre eigenen Dämonen.

Es mag deutlich geworden sein, dass der moderne Mensch eine große Verantwortung gegenüber dem hat, was mit der Welt geschieht. Er muss sich entscheiden, ob er dem Gral oder dem Anti-Graal dienen will.

Schon Christus sagte: „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Das bedeutet, wer nicht bewusst dem Gral dient, verbindet sich, oft unbewusst, mit dem Anti-Grail und ist damit an die dunklen Mächte von Klingsor gebunden!!!

Es ist besser, in die Fußstapfen von Parcival zu treten. Er hat seine Ängste und Wahnvorstellungen hinter sich gelassen und seine Suche abgeschlossen. Sein Kreuzweg ist zu Ende gegangen, um im Zentrum des Nichts zu verschmelzen, wo das göttliche All zu finden ist. Der rote Ritter des kämpfenden Schwertes ist dem weißen Gralsritter gewichen, der das Schwert des Wortes wirksam zu führen vermag.

Der Gralsweg des Parcival wird schließlich mit einem Gedicht von Mani, ebenfalls Sohn einer Witwe, illustriert:

Nimm dein Kreuz auf
Schüttle die Welt ab.
Befreie dich von den Fesseln des Blutes.
Bezwinge den alten Mann.
Erfülle den heiligen Weg.
Gib der Taube mit den weißen Flügeln Raum.
Setze keine Schlange neben sie.
Freue dich, meine Geliebte.


Wolfram von Eschenbach, Parzival
Jan van Rijckenborgh, Der kommende neue Mensch, Rozekruis Pers, Haarlem 1999
Benita Kleiberg, Het Gaalmysterie van Parzival [Die Gralsmysterie des Parcival], Rozekruis Pers, Haarlem 2022
Max Heindel, Rosenkreuzerische Kosmokonzeption oder Mystisches Christentum : eine elementare Abhandlung über die vergangene Entwicklung, die gegenwärtige Beschaffenheit und die zukünftige Entwicklung des Menschen, 1923
Mani, Mani’s Lichtschat [Mani’s Lichtschatz], Rozekruis Pers, Haarlem 2017

 

 

 

 

Print Friendly, PDF & Email

Share

LOGON Magazine

Bestellmöglichkeiten

über unseren Online-Shop oder per Email: shop@logon.media

  • Einzelheft 10 €, inkl. Versand (Ausland 14 €, inkl. Versand)
  • Einzelheft digital 4 €
  • Print-Abo 36 €, 4 Ausgaben/Jahr, inkl. Versand (Ausland 52 €), fortlaufend, Kündigung jederzeit möglich.
  • Digitales Abo 15 €, 4 Ausgaben/Jahr zum Download (pdf), fortlaufend, Kündigung jederzeit möglich.

Unsere neuesten Artikel

Post info

Datum: September 28, 2023
Autor: Benita Kleiberg (Netherlands)
Foto: Elimende Inagella on Unsplash CCO

Bild: