Einige Gedanken zum Karma

Die Idee des Karmas ist sehr alt; sie ist bereits seit dem zweiten Jahrtausend vor Christus in den Veden verankert.

Einige Gedanken zum Karma

Karma leitet sich vom Sanskritbegriff für TAT ab und steht für die Folgen aller Handlungen. Es wird auch das Gesetz von Ursache und Wirkung genannt. Karma und Reinkarnation sorgen für die angemessene Fortsetzung des menschlichen Entwicklungsweges, auch über die Schranke des Todes hinweg. Karma ist mithin eine kosmische Gegebenheit, ohne die spirituelles Erwachen und Befreiung aus dem Rad von Geburt und Tod letztlich nicht denkbar wäre. Hinduismus und Buddhismus haben die Karmalehre über die Jahrhunderte vertieft und verfeinert; Theosophie und Anthroposophie haben sie aufgegriffen. Das Goldene Rosenkreuz hat sie als Bestandteil einer universell gültigen Lehre übernommen und in Bezug auf die geistig-seelische Entwicklung des Menschen weiter ausgearbeitet.

Oft wurde das Karma vor allem als Bilanzierung von „Gut und Böse“ betrachtet, die über Inkarnationen hinweg wirkt. Lebt und handelt ein Mensch so, dass er anderen, auch Tieren, Gutes tut, dann erwirkt er für sich eine günstige Wiedergeburt, die nach der altindischen Lehre in einer hohen Kaste oder sogar in der Götterwelt stattfinden kann. Solch ein Mensch hat dann im Großen und Ganzen ein Leben unter förderlichen Umständen und ohne Widrigkeiten zu erwarten. Lebt und handelt ein Mensch so, dass er andere schädigt, so erwirbt er sich eine „schlechte“ Wiedergeburt, in einer niedrigen Kaste, als Tier oder sogar in einem Höllenreich.[1] Immer ist dabei aber klar, dass weder schlechtes noch gutes Karma befreiend sind. Der Kreis der Inkarnationen wird auf diese Weise nicht durchbrochen. „Gute“ Wiedergeburten bedeuten daher oft nur eine Art zeitlichen Ruheplatz, an dem das gute Karma aufgezehrt wird. Diese Art des Bilanzziehens bezüglich der Früchte eines Lebens ist sicher ein Aspekt des Karma, aber wir sehen auf diese Weise noch nicht das Ganze.

Dennoch hat unser Handeln Bedeutung und kann es ein Weg der Befreiung sein. Entsprechendes lehrt bereits die Bhagavadgita (ca. 5.-2. Jahrhundert vor Christus), in der Krishna, eine Verkörperung von Vishnu, sagt:

Was auch immer du tust, woran du auch immer Freude hast, was auch immer du opferst, (…) welches Wollen und Bemühen der Seele du auch aufbringst, – mach es zu einer Darbringung an mich.
Auf diese Weise sollst du befreit werden von guten und bösen Ergebnissen, die die Fesseln unseres Handelns begründen. Wenn deine Seele durch solche Entsagung im Einssein mit dem Göttlichen ist, wirst du frei werden und zu mir gelangen.
Ich (der Ewige, der ihnen innewohnt) bin der gleiche in allen Wesen. Keines ist mir lieb und keines verhasst. Jene aber, die sich mit Liebe und Hingabe mir zuwenden, die sind in mir, und ich bin auch in ihnen.
Und selbst ein Mensch mit schlechter Lebensführung, der sich mit einziger und ganzer Liebe mir zuwendet, muss nun als rechtschaffen gelten. Denn sein entschlossener Wille zur Bemühung ist der rechte und vollkommene Wille.[2]

Wir können uns dem tätigen Leben nicht entziehen. Und selbst wenn wir äußerlich nichts täten, wären wir doch tätig, in unserem Denken, Begehren und Wollen, das wir höchstens für Augenblicke abstellen können. Daher ist entscheidend, wo der Ursprung und das Ziel unserer Handlungen liegen. In der Bhagavadgita sagt Krishna: „Wende dich mir zu, gib alles mir hin“. Am Ende wird Gott – oder das Göttliche in uns – Ursprung und Ziel aller Handlungen sein. Dieses „Ende“ ist die Frucht einer seelischen Reifung und bewussten Hingabe an das Göttliche in uns. Da Er der gleiche in allen Wesen ist, sorgt diese Allverbundenheit, die zum Allbewusstsein führt, für das Ende von Handlungen, die Dunkelheit und Schmerz verursachen. Unsere Handlungen sind dann nicht nur frei von Selbstsucht, sondern auch von der Unwissenheit, mit der man genauso viel Schaden anrichten kann wie mit bösem Willen. Damit generieren unsere Taten kein Karma mehr. Doch wie gelangt man dahin, „seine Seele mit Gott zu einen und nur auf Gott gerichtet zu sein“?

Karma ist das Fahrzeug, das uns auf diesem Pfad der Bewusstwerdung voranbringt. Dieser Aspekt liegt hinter dem Aspekt der „Bilanzierung“ durch das Karma verborgen. Wie sich Einzelerfahrungen über Inkarnationen hin zu wachsender Seelenreife verdichten, kann man anhand des seelischen Erfahrungsschatzes andeuten, der auf überpersönliche Weise über die Inkarnationen hin angesammelt wird und die jeweils nächste Inkarnation maßgeblich formt. Auch das ist Karma! Karma ist also nicht nur göttliche Belohnung oder Vergeltung. Es ist sowohl Ursache und Wirkung als auch wachsende Seelenreife. Dies ist die Brücke zum Verständnis des Karma als Werkzeug der Bewusstwerdung.

Paracelsus[3] (1493-1541) führt hierzu (unter anderen) zwei Kräfte an, die das menschliche Wesen formen. Er nennt sie Ens Astrorum und Ens Naturale. Das Ens Astrorum, das „Sein der Sterne“, lässt an Astrologie denken und beschreibt, wie sich durch das Gesetz von Ursache und Wirkung die Früchte unserer Handlungen in Charakterstärken und -schwächen umsetzen, und wie in der Folge Lebensziele, Kräfte und Hindernisse daraus erwachsen. Das Ens Naturale meint die Auswirkungen des Karma auf die körperliche Konstitution, also auf die Stärke und Schwäche der Organe und alle körperlichen Prozesse. So formen „Bilanz“ und „Bewusstwerdung“ die Bedingungen einer neuen Inkarnation, mit dem Ziel, die Bewusstwerdung zu vervollkommnen.

Damit Karma sich vollzieht und erfüllen kann, müssen die entsprechenden Begebenheiten „von außen“ auf uns zukommen. Wir Menschen sorgen untereinander dafür, dass die karmischen Fäden weitergesponnen werden, bis die Bewusstwerdung es uns ermöglicht, die Knoten zu lösen. Denn unser persönliches Karma begegnet uns in anderen Menschen. Was wir als Menschheit gemeinsam geschaffen haben, durch egozentrisches Denken und die entsprechenden Begierden, durch ein im Ego eingekapseltes Bewusstsein, das begegnet uns in den ungelösten Problemen und Krisen der Welt. Als Menschheit haben wir die Welt zu einem „globalen Dorf“ gemacht. Nun ist es an der Zeit, das Bewusstsein hierfür zu entwickeln – ein Bewusstsein, das um die eigene Verantwortung für das Wohlergehen des Ganzen weiß, und das zum heilenden Mitwirken am Ganzen fähig ist. Aus der Bewusstwerdung entsteht schließlich die Freiheit, neu und anders zu handeln.

Wenn alles Wesentliche, was uns begegnet, Karma ist, dann begegnen wir auf diese Weise uns selbst. Das ist mehr, als die Folgen vergangener Taten kennenzulernen: unser eigener Seinszustand kommt von außen auf uns zu. Können wir das akzeptieren? Die Welt ist, was wir sind.

Es ist an der Zeit, dass wir akzeptieren lernen, was ist. Akzeptieren wir es, dann öffnet sich eine Tür zu einer neuen Bewusstwerdung. Denn Annehmen – etwas in das Herz einzulassen – ermöglicht es, eine Sache gleichsam von innen kennenzulernen. Akzeptanz öffnet in uns die Grenzen zwischen Innen und Außen. Daher beginnt durch das Annehmen ein Prozess, der uns in die Einheit führt, die unserer Wirklichkeit zugrunde liegt. Philosophie und Meditation werden das nicht schaffen, aber das offene Herz ermöglicht es.

Dieser Weltinnenraum, dem wir uns auf diese Weise öffnen, verwandelt uns in ein alchimisches Labor. Es ermöglicht eine heilende Arbeit an uns selbst und damit auch an allen Dingen, die unser Teil sind. Die untrennbare Verbundenheit mit allem kennenzulernen, ist ein erster Schritt. Wenn die Seele diesen Raum der Verbundenheit erforscht, begegnet sie dort auch der göttlichen Liebe, die ihn durchwirkt. Hier kann sie lernen, sich dem wahren göttlichen Selbst zu öffnen, das in allem wohnt, und sich von der Ichheit langsam lösen. Am Ende stehen die Hingabe der Ichheit, das Erwachen des Selbstes in Gott, und die Freiheit von Ursache und Wirkung.

„Auf diese Weise sollst du befreit werden von guten und bösen Ergebnissen, die die Fesseln unseres Handelns begründen. Wenn deine Seele durch solche Entsagung im Einssein mit dem Göttlichen ist, wirst du frei werden und zu mir gelangen.“

Es wird Zeit, dass wir als Menschheit diese Aufgabe erkennen. Sie anzugehen heißt, das eigene Leben anzunehmen mit allem, was ist. Es heißt auch, alle Erkenntnisse zu sammeln, die durch das Aufgeben von Abgrenzungen und Polarisierung ermöglicht werden. Verantwortung und Heilung – sie sind Geschwister, gehen miteinander einher.


[1]     Dies entspricht sowohl dem Glauben der Hindus, als auch dem der Buddhisten – bei letzteren ist das Kastendenken natürlich nicht existent. Rosenkreuzer sind der Auffassung, dass Menschen nur als Menschen reinkarnieren, denn der erworbene Erfahrungsschatz kann sich in keinem Tier zur Geltung bringen. Die „Hölle“ ist in diesem Zusammenhang ein nachtodlicher Zustand, der von einer erneuten Geburt als Mensch abgelöst wird.
[2]     Bhagavadgita IX, 27-30. Übertragung aus dem Sanskrit ins Englische von Sri Aurobindo, übersetzt ins Deutsche von Heinz Kappes und Rolf Hinder, Gladenbach 1981
[3]     Siehe auch „Paracelsus – vom Sichtbaren zum Verborgenen“ von Dr. med. Klaus Bielau, Hanni Studer, Dr. med. Stephan Sigrist, Dr. Roger Kalbermatten. Birnbach o.J. oder Paracelsus-Heft-2-Mar-Apr-2014.pdf (paracelsus-magazin.ch)

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Datum: Juli 8, 2023
Autor: Angela Paap (Germany)
Foto: statue-Bild von Patrizio auf Pixabay CCO

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