Ein Ton im Himmelsgesang

Ein Ton im Himmelsgesang

Ich stelle mit Erstaunen fest, dass das ganze Universum ein bunt gewebter Teppich aus unzähligen Schwingungen ist; und jedes Lebewesen hat seinen Platz darin und beeinflusst durch seine Reaktionen den gesamten Teppich.


Zum Tone möchte man werden
und sich vereinen in einem Himmelsgesang.
Hölderlin

Es scheint mir, dass in diesem sehnsüchtigen Ausruf des Hyperion der ganze Weg und das Ziel unseres Menschseins schon enthalten sind.

Wenn ich tief in mich hineinhöre, vernehme ich meinen Ton. Ich bin ein Klang in dem unermesslichen Orchester dieser Erde – ein ganz eigener Klang, einzigartig in seinem Ausdruck. Ein bunter Strauß von Schwingungen, die in Resonanz oder auch in Dissonanz gehen mit anderen Menschen, mit der Natur, mit den Umständen, in denen ich mich befinde.

Der Weltinnenraum

Dann entstehen Akkorde, manchmal wunderschön harmonisch, manchmal schmerzhaft disharmonisch. Ich erkenne, dass ich mit allen und allem verbunden bin, so wie Rilke sagt:

Durch alle Wesen reicht der eine Raum:
Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still
durch uns hindurch. O, der wachsen will,
ich seh hinaus und in mir wächst der Baum.

Mit anderen Worten: alles was nur außen zu sein scheint, ist auch gleichzeitig in einem gemeinsamen Innenraum, der von den schöpferischen geistigen Kräften gebildet wird. Ja, dort ist es vor allen Dingen, dort ist es in seinem ursprünglichen Zustand, in seiner Ursprungskraft.

Aber die Fülle des Geistigen möchte sich zeigen, will in die Erscheinung treten. Auch ich bin eine ihrer Erscheinungen. Auch in mir gibt sich ein ganzes Spektrum von Kräften zu erkennen. Es hat Sinnesorgane entstehen lassen. Durch sie sehe ich die Eigenart der Dinge und Kräfte von außen. Das Innere, das Eigentliche, Ursprüngliche erlebt sich von außen, ja lässt in uns Menschen das Außen sogar scheinbar eigenständig werden.

Ich erfahre die Sonne. Sie ist außerhalb von mir. Meine Augen lassen ihr Bild in meinem Gehirn entstehen. Ich spüre, wie ihre Energie durch die Haut auf mich einwirkt, wie ihr Licht meine Psyche aufhellt, wie sie in meinen Stoffkörper eindringt. Forscher sagen, sie bildet dort Vitamin D und vieles mehr. Nun drängt es mich aber zugleich, wie es bei Rilke der Fall war, die Sonne, den Mond und das Sternenall bewusst zweifach anzuschauen. Dann sind sie als Schwingungsbereiche, als geistig-seelische Wesen von vornherein in mir. Ich bestehe aus ihnen und vielem anderen und dasselbe gilt für sie. Auch ich bin von vornherein in ihnen. Sie bestehen aus mir und vielem anderen.

Ein überwältigendes Gefühl erfasst mich: Alles, was durch meine Augen, Ohren, was im Geruch, Geschmack und im Ertasten in mich hineinfließt, ist von Anfang an Bestandteil von mir. Und nun, durch meine äußeren Sinne, gibt es sich zu erkennen. Durch mich erleben sich die Qualitäten, die im Weltinnenraum ineinander verwoben sind, durch den Menschen tritt sich alles gegenüber, was eigentlich eins ist.

Ich erkenne staunend, dass das ganze Universum ein buntgewebter Teppich aus unzähligen Schwingungen ist; und jedes Geschöpf hat darin seinen Platz und wirkt durch seine Reaktionen auf den gesamten Teppich ein.

Der selbst errichtete Kerker

Und hier beginnt meine Aufgabe. Die Aufgabe des Erwachens zu dem, was ist. Was mache ich mit all dem Hereingeflossenen?

In den allermeisten Fällen sortiere ich sofort alles in meine zahlreichen Schubladen ein, die durch meine Konditionierung und meine Glaubenssätze entstanden sind.

Auf den Schubladen stehen Worte wie: „Gut für mich“, „Schlecht für mich“, „Wissenswert“, „Müll“, „Angenehm“, „Unangenehm“, „Schmerzhaft“, „Wichtig“, und auf einer Schublade steht: „Sofort vergessen!“.

Was ich wo einsortiere, wird vom Resonanzgesetz bestimmt. Gleiche Schwingungen landen in gleichen Schubladen, dissonante Schwingungen werden aussortiert oder gelangen in die entsprechende Schublade. So schaffe ich ein elektromagnetisches Schwingungsfeld um mich herum, das mich zwingt, auf eine gewisse Art wahrzunehmen und zu handeln.

Nur was zu diesem Feld passt, erregt mein Interesse. Nur das, worauf sich meine Aufmerksamkeit richtet, nehme ich wahr. Alles andere wird ausgeblendet. Ich baue und unterhalte also mein eigenes Gefängnis. Selbst der schönste Klang, den ich hervorbringen kann, ändert daran nichts. Er verschönert einfach nur meinen Kerker.

Auf youtube findet sich ein Video, das mich sehr betroffen gemacht hat, denn es deklariert so klar unsere Blindheit. Der Betrachter wird aufgefordert, die Ballwechsel einer Basketballmannschaft zu zählen. Am Ende des Videos wird gefragt, ob man den Bär gesehen hat, der quer über das Spielfeld gelaufen ist. Die allermeisten Zuschauer haben den Bär nicht gesehen. Erst wenn man beim erneuten Abspielen des Videos seine Aufmerksamkeit auf den Bären richtet, sieht man ihn ganz gemütlich über das Spielfeld laufen.[1]

Das beweist, dass wir nur das wahrnehmen, worauf unsere Aufmerksamkeit gerichtet ist.

Auch Lao Tse erzählt im 12. Kapitel des Tao te King von diesem Gefängnis:

Die fünf Farben blenden das Auge.
Die fünf Töne betäuben das Ohr.
Die fünf Geschmäcker verderben den Geschmack.

Rasendes Reiten und Jagen verwirrt das menschliche Herz.
Mühsam zu erringende Güter führen den Menschen zu verderblichen Taten.

Darum beschäftigt sich der Weise mit seinem Inneren
und nicht mit seinen Augen. […]

Er verwirft alles, was von außen kommt, und verlangt nach dem, was innen im Königreich des Herzens ist. So zerbricht er die Kette aus Ursachen und Wirkungen.

Sehnsucht nach dem All

Eine große Sehnsucht ergreift mich. Ich weiß, es gibt noch viel mächtigere Schwingungen, wunderschön, licht und erhaben über alles Stoffliche. Strahlen aus einer geistigen, ewigen Ordnung. Ich kann sie spüren, wenn ich ganz tief in mich eintauche. Sie kommen aus diesem Königreich des Herzens, von dem Lao Tse spricht.

Gertrud von le Fort beschreibt es so:

Ich hab so mächtige Träume.
Ich weiß wohl ihr Begehr:
bei Nacht durch weite Räume
sucht jeder Quell das Meer.

Ich bin ein Tropfen, der dieses Meer sucht. Wenn der Tropfen aus der Quelle ans Tageslicht strömt, hat er eine lange Reise durch Sand, Erde und Stein hinter sich. Doch wenn er sich einmal dem Bach übergeben hat, gibt es kein Halten mehr. Er war schon immer ein Teil des Meeres und so zieht ihn seine Resonanz unaufhaltsam über Fluss und Strom dem Meer zu, der Vereinigung mit seinem Ursprung entgegen.

Die Reise des Wassers durch die Dunkelheit der Erde gleicht meinen Erfahrungen, die ich in der stofflichen Welt mache. Sie reinigen mich, entfernen allen Schmutz und alles, was mich daran hindert, aufzusteigen und mich der Quelle zu überlassen, die mich ins Licht zieht und dem göttlichen Strom übergibt, der mich mit meinem Ursprung vereint.

Im Corpus Hermeticum im 2. Band spricht Pymander zu Hermes über diesen Prozess:

 

  1. Wennn du dich selbst nicht Gott gleich machst, kannst du ihn nicht begreifen; denn nur das Gleiche begreift das Gleiche.
  1. Wachse auf zu einer maßlosen Größe, entsteige allen Körpern, erhebe dich über alle Zeit, werde Ewigkeit! Dann wirst du Gott begreifen.
  1. Lass den Gedanken dich durchdringen, dass dir nichts unmöglich ist, betrachte dich als unsterblich und imstande, alles zu verstehen, alle Kunst, alle Wissenschaft, die Art von allem, was lebt.
  1. Werde höher als alle Höhen und tiefer als alle Tiefen.
  1. Sammle in dir alle Empfindungen alles Geschaffenen: des Feuers und des Wassers, des Trockenen und des Feuchten und denke dich hinein, gleichzeitig überall zu sein; auf der Erde, im Meer, in der Luft, dass du noch ganz unerschaffen bist, dass du im Mutterschoß bist, Jüngling, Greis, dass du gestorben bist, dass du an jener Seite des Todes bist. Wenn du dies alles gleichzeitig in deinem Bewusstsein erfassen kannst: Zeiten, Orte, Geschehnisse, Eigenschaften und Mengen, dann kannst du Gott verstehen.
  1. Wenn du aber deine Seele gefangen hältst, wenn du sie stets herunterdrückst und immer nur sagst: „Ich begreife nichts, ich kann nichts, ich habe Angst vorm Meer, ich vermag nicht, bis in den Himmel hinaufzusteigen; ich weiß nicht, was ich einmal war, noch was ich sein werde“, was hast du dann mit Gott zu schaffen? [2]

 

Das ist eine unglaubliche und mächtige Botschaft, die Pymander hier an Hermes richtet. Doch gleichzeitig ist sie auch sehr entmutigend. „Entsteige allen Körpern, erhebe dich über alle Zeit, werde Ewigkeit!“ Und: „Wenn du dies alles gleichzeitig in deinem Bewusstsein erfassen kannst, Zeiten, Orte, Geschehnisse, Eigenschaften und Mengen, dann kannst du Gott verstehen.“

Instrument für das göttliche Wesen

Wer kann das auch nur annähernd von sich sagen? Was für ein endloser, mühsamer Prozess liegt da vor uns! Und doch ist dies unser Auftrag und wir besitzen alle die Möglichkeiten und Eigenschaften in unserem innersten Wesen, die diesen Weg verwirklichen können.

Es bedeutet, dass wir uns wie ein Instrument auf das göttliche Wesen abstimmen. Unsere Schwingungen müssen sich dem Klang des Geistes, der aus unserem innersten Herzen strömt, hingeben und sich verwandeln lassen.

Das können wir nur begrenzt selbst verrichten. Unsere Aufgabe ist es, ein gutes Instrument zu sein. Aber wir sind es nicht, die dann darauf spielen.

Der Geigenbauer Martin Schleske sagt darüber:

Wir werden von Gott gespielt und dieser Welt geschenkt. Es ist wie die Musik, die sich dem Instrument schenkt, obgleich es doch das Instrument ist, das sie spielt.

Der Musiker wird nicht zur Geige und doch wird er mit ihr ganz eins. Im Spielen mit ihr entsteht der eine gemeinsame Klang, den man nicht zerlegen kann. Niemand käme auf die Idee zu sagen: „Diese Hälfte des Klanges gehört zum Instrument, jene Hälfte zum Musiker.“ […]

Das Instrument gibt sich ganz in die Hand des Musikers, und der Musiker ist ganz im Klang des Instrumentes. [3]

Alles Irdische lebt von der Strahlung der stofflichen Sonne. Alles Ewig-Geistige lebt von der Strahlung des ewigen Geistes. Dieser Geist fließt in unser geistiges Wesen ein und verwandelt uns. Er erschafft aus uns ein Instrument, durch das er seine Musik in diese Welt hineinfließen lassen kann, um sie für alle hörbar zu machen.

Erst wenn diese Umwandlung vollendet ist, sind wir zu einem Ton geworden, der sich in einen Himmelsgesang einfügt. Dann erkennen wir auch, dass jeder Klang, selbst eine Dissonanz, gebraucht wird in der großen Komposition, die die himmlischen Kräfte in jedem Augenblick neu erschaffen. Was gibt es Größeres, als in einer solchen göttlichen Symphonie aufzugehen!

Es gibt eine wunderschöne Geschichte über den Gründer des Internationalen Sufi-Ordens, Hazrat Inayat Khan, der auch ein bekannter Musiker war.

Eines Tages legte Hazrat Inayat Khan seine Vina für immer beiseite. Über dieses ergreifende Opfer berichtet er selbst:

Ich gab meine Musik auf, weil ich von ihr alles empfangen hatte, was ich empfangen sollte. Wer Gott dienen will, muss das opfern, was ihm am liebsten ist. Und so opferte ich meine Musik.

Ich hatte Lieder komponiert, ich sang und spielte die Vina und in Ausübung dieser Musik erreichte ich eine Stufe, auf der ich die Musik der Sphären berührte.

Da wurde jede Seele für mich eine Musiknote, und alles Leben wurde Musik. […] Und wenn ich nun etwas tue, dann ist es dies, dass ich statt der Instrumente die Seelen stimme, statt der Noten Menschen harmonisiere. Wenn irgendetwas in meiner Philosophie ist, dann das Gesetz der Harmonie, wonach man sich in Harmonie mit sich selbst und mit anderen bringen muss. […]

Ich spielte die Vina, bis mein eigenes Herz zu diesem Instrument wurde. Dann brachte ich dieses Instrument dem Göttlichen Musiker dar, dem einzigen Musiker, den es gibt. Seither wurde ich seine Flöte. Und wenn er will, spielt er seine Musik.“ [4]

In dieser Geschichte spiegelt sich meine tiefste Sehnsucht wider: zu einer Musik zu werden, die der Göttliche Musiker durch mich spielt, um sie der Welt zu schenken, die sie nie nötiger gebraucht hat als jetzt.


[1] TFL Viral – Awareness Test (Moonwalking Bear) (youtube.com)

[2] In: Jan van Rijckenborgh, Die Ägyptische Urgnosis I, 2. Buch: Pymander zu Hermes

[3] Martin Schleske, Der Klang, Kösel Verlag, 2013, S. 32

[4] Hazrat Inayat Khan, Musik und kosmische Harmonie, Verlag Heilbronn, 2004, S.11

 

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Datum: Juni 16, 2024
Autor: Maria Amrhein (Germany)
Foto: woman-Jill Wellington auf Pixabay CCO

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