Können wir die Gesamtheit unserer Konditionierung wahrnehmen, all die Einflüsse, die wir im Laufe der Jahre integriert haben und die uns so denken, fühlen und handeln lassen, wie wir denken, fühlen und handeln?
Einige der schlimmsten Gräueltaten werden im Namen der Liebe begangen: Liebe zu einer Religion, einem Propheten, einem Land, zu Geld oder Macht! Um sehr reich zu werden, muss man das Geld leidenschaftlich lieben, sich seiner Anhäufung widmen und manchmal sogar seine ganze Existenz opfern: Gedanken, Gefühle, Energie und Zeit darauf ausrichten.
Wer etwas oder jemanden liebt, gerät oft in Konflikt mit Menschen, die diese Liebe nicht teilen. Oft fühlen sie sich durch die Gleichgültigkeit der anderen angegriffen; sie stellt einen Affront, eine Beleidigung dar. So entstehen religiös motivierte Kriege oft durch einen tiefen Glauben, der zu Intoleranz neigt: „Der Prophet, den ich liebe und verehre, ist der einzig wahre und gerechte; seine Lehre ist besser als die anderer Propheten, in die ich mich nicht so vertieft habe“.
Kriege zwischen Völkern beginnen, weil bei einem feindlichen Angriff jeder, der sein Land liebt, zur Verteidigung bereit ist. Er kämpft für die Freiheit eines Landes, in dem seine Familie und seine Freunde geboren wurden und leben; man will die Bedrohung abwehren, sein Recht auf Freiheit verteidigen und kämpft auch manchmal dafür, dass unterdrückte Völker ihre Freiheit wiedererlangen. Das Heimatland ist schöner als andere und wir sind sehr stolz auf das eigene Volk und seine Geschichte, mit der wir uns identifizieren, denn sie berühren und bewegen uns auf besondere Weise.
Die Liebe zu einer Sache kann unweigerlich zum Hass auf ihr Gegenteil führen. Die Liebe zur Gerechtigkeit treibt uns an, die Ungerechtigkeit zu bekämpfen; die Liebe zu unserem schönen Planeten treibt uns an, diejenigen zu bekämpfen, die ihm schaden; das Hässliche stößt uns ab, weil wir die Schönheit schätzen, usw. Das Ergebnis all dieser Formen von Liebe ist ein gewaltiges, tosendes Inferno von Gegensätzen, Spannungen und rücksichtslosen Kämpfen, die die Menschheit in einen wilden Strudel ziehen.
Können wir die Gesamtheit unserer Konditionierung wahrnehmen, all die Einflüsse, die wir im Laufe der Jahre integriert haben und die uns auf bestimmte Weise denken, fühlen und handeln lassen? Wahrscheinlich können wir das nicht, oder vielleicht in seltenen Fällen, in denen unsere Werte, Bestrebungen und Ansichten über die Welt und das Leben in einen schmerzhaften, frontalen Konflikt mit einer Person oder einer Gruppe von Menschen geraten. Außerhalb dieser kritischen Momente leben wir in unseren gewohnten Konditionierungen so unbewusst wie ein Fisch im Wasser.
Haben wir eine Wahl? Akzeptieren wir überhaupt die Vorstellung, eine Wahl zu haben, d. h. die volle Verantwortung für alles zu übernehmen, was uns widerfährt, und zwar unser ganzes Leben lang? Sind wir bereit, die Autonomie, die innere Freiheit und die schreckliche Einsamkeit, die vielleicht damit einhergeht, anzunehmen? Denn in der Selbsterkenntnis, die das Tor zu dieser Freiheit ist, gibt es niemanden mehr, den wir für unseren Zustand verantwortlich machen können, niemanden, den wir anklagen oder verantwortlich machen können, keine Feinde, keine Gegner mehr außer unserem eigenen Widerstand; keine Verbündeten, keine Freunde mehr, auf die wir uns vertrauensvoll verlassen können.
Indem wir die Gesamtheit dessen, was wir sind und was unser Leben ausmacht, annehmen, verlieren wir die Sicherheit, die uns Gemeinschaft, Vielfalt, Ideologie, Glaube, Anerkennung und Unterstützung geboten haben. Der riesige Raum, der frei wird ist, ist leer.
Unsere Lebensweise zerstört den einzigen bewohnbaren Planeten, den wir kennen: unsere Erde. Das ist kein Geheimnis mehr. Vor allem aber zerstören wir uns selbst; der Planet Erde wird sich nach dem Aussterben seines „Raubtiers“ selbst regenerieren. Dafür wird noch genügend Zeit sein. Im Moment laufen wir wie ein Hamster im Rad, und das sogar mit exponentieller Geschwindigkeit. Aber das Rad brennt immer weiter, weil wir abgelenkt vom Wesentlichen falsche Prioritäten setzen, statt uns um das Feuer zu kümmern, das wir selbst gelegt haben.
Unsere Lebensweise ist nicht einfach vom Himmel gefallen; sie wurde nicht von einem verrückten Wissenschaftler oder Diktator „erfunden“. Unsere Lebensweise ist ein direkter Ausdruck unserer Sicht auf die Welt, ein Ausdruck der Gesellschaft und eine Folge des Zustandes unseres inneren Selbstes; sie ist das Ergebnis unseres Bewusstseinszustandes, unseres Seinszustandes. Selbst wenn wir allein in unserem Zimmer sitzen und meditieren, sind Konflikte und Kriege ein Teil von uns. Wir sind ihre Schöpfer – Konflikte zwischen dem, was wir sind, wer wir zu sein glauben, und den schönen Idealen der Erfüllung, die wir anstreben, die wir für uns selbst geschaffen haben oder die andere uns eingeflößt haben. Konflikt zwischen der Zukunft, die wir uns von ganzem Herzen wünschen, und unseren täglichen Handlungen und Entscheidungen, die sie buchstäblich sabotieren. Konflikt zwischen dem Bild von uns selbst, das wir anderen so gerne zeigen würden, und unserer Mittelmäßigkeit, unserer Halbherzigkeit und unseren Kompromissen.
Solange wir nicht lernen, das Leben als Einheit, als ungeteiltes Ganzes anzunehmen, werden wir leiden und Leiden und Konflikte, die in uns ungelöst und ungeheilt bleiben, weiter verbreiten. Es besteht die Notwendigkeit, ja sogar die Dringlichkeit, die tiefe Quelle unserer Spaltungen zu erkennen, unsere Augen zu öffnen, der hypnotischen Verleugnung unseres Zustandes zu entkommen und uns unserer existenziellen Realität zu stellen! Wir sollten dies tun, ohne die Filter unserer Interpretationen, Erklärungen, Entschuldigungen, Rechtfertigungen und zwingenden Verurteilungen. Es sind jene Filter, die uns in diesen Sumpf von Missverständnissen, Widersprüchen und unlösbaren Spannungen gestürzt haben und festhalten.
Solange wir nicht sehen wollen, werden wir blind bleiben. Und diese Blindheit bringt uns in große Gefahr, denn jeden Tag müssen wir handeln, uns entwickeln, uns für eine Option entscheiden und die richtige Richtung wählen. Früher oder später führen die blind getroffenen Entscheidungen zu Schwierigkeiten, unentwirrbaren Komplikationen und mehr Leid.
Wir haben in der Vergangenheit vielleicht unglückliche und zerstörerische Entscheidungen getroffen, und wir wiederholen sie jeden Tag aufs Neue. Wir sind abhängig geworden von unseren Lebensumständen, eventuell süchtig nach den materiellen Folgen dieser Entscheidungen. Die wenigsten können heute noch ohne Auto, Smartphone und all den Netzwerken leben, die uns täglich mit Nahrung, Mobilität, Energie und Informationen versorgen.
Schauen wir uns um: Jeder Gegenstand und jede Dienstleistung, die wir in Anspruch nehmen, wird maschinell produziert bzw. abgewickelt – vom Flaschenöffner bis zum Computer, von der Wohnungseinrichtung bis zur Kleidung. Jede Maschine wird mit Energie versorgt – und die meisten direkt oder indirekt durch fossile Brennstoffe. Das sind aber genau jene Stoffe, deren Gewinnung, Raffinierung und Verwendung uns kollektiv in Gefahr bringen, ja sogar tödlich sein können. Ohne Maschinen, und damit ohne fossile Brennstoffe, gibt es keine Produktion und keinen Konsum! So wie wir leben, bewegen wir uns immer schneller auf einen Abgrund zu, in scheinbar vollem Bewusstsein um die Folgen.
Wir haben uns daran gewöhnt, all diese schädlichen und zum Teil tödlichen Aktivitäten als normal, unvermeidlich und manchmal auch wünschenswert einzustufen. Einige wenige Menschen machen damit riesige Gewinne, sehr zum Leid eines überwiegenden Teils der Menschheit. Umweltverschmutzung, verminderte Lebensqualität, sozialer Abstieg, Armut, Gesundheitsschäden, Hungersnöte sind die Folgen. Wir haben uns an diese Lebensweise angepasst, die auch eine Art des Seins ist, eine Art, uns in Beziehung zum Leben zu setzen. Und wir bringen unseren Kindern bei, sich ihrerseits daran anzupassen, ihre Klischees, Automatismen, Zwänge und Absurditäten zu übernehmen. Haben wir eine Wahl? Werden unsere Kinder, wenn sie einmal durch unser Bildungssystem geformt und geprägt und durch die Kultur, die wir ihnen bieten, konditioniert sind, auch eine andere Wahl haben?
Viele Menschen haben eine unbestimmte innere Sehnsucht, sich aus diesem Alptraum zu befreien. Geben sie dieser Sehnsucht nach, dann ist eine innere radikale Revolution die notwendige Folge. Die Art und Weise, wie wir handeln und uns organisieren, wird sich nicht wesentlich ändern, wenn wir diese Veränderung nicht zulassen. Welchen Sinn und welche Richtung wollen wir unserem Leben geben? Welche Prioritäten haben wir? Werden wir den Wunsch, den Mut und die Kraft haben, aus der Tiefe unseres Wesens die geistigen Ressourcen zu schöpfen, die allein in der Lage sind, die unverzichtbare und dringende radikale Veränderung herbeizuführen?
Nehmen wir diese Dringlichkeit wahr, nicht intellektuell durch Informationen von außen, sondern intuitiv, dann sind wir in der Lage, auf die vielen offensichtlichen Signale der Not um uns herum und in uns selbst richtig zu reagieren, und die Sensibilität für das Leben zu regenerieren bzw. zu entwickeln. Es kommt dann der Punkt, an dem sich unsere gesamte Existenz (unsere Intelligenz, unser Streben, unsere Vitalität) dem wahren Leben zuwendet, das in uns pulsiert und das uns so eindringlich ruft.
Sind wir bereit, die karikierte und fratzenhafte Maske abzustreifen, mit der wir es vorübergehend bekleidet haben? Dann können wir unser unaussprechlich schönes, ewiges Gesicht entdecken.