Die Weisheit der amerikanischen Ureinwohner

Das Ziel unseres Lebens ist nicht die Verehrung eines Gottes außerhalb unseres Selbst, sondern das täglich Wandeln in Schönheit

Die Weisheit der amerikanischen Ureinwohner

O du allmächtiger Schöpfer,

möge die universelle Harmonie wieder hergestellt werden.

Erneuere all mein Sein in Harmonie und Schönheit.

Erleuchte mich und beschütze mich durch die Macht deiner universellen Harmonie.

Dir übergebe ich meinen Kummer und meine Sorgen und alles, was mich auf dem Pfad behindert.

 

Lasse von jetzt an alles harmonisch werden.

Lasse alles in Schönheit erstehen.

O du, Schöpfer aller Universen, du bist mein einziger Gefährte,

nur in Übereinstimmung mit deinem Willen wandle ich.

Und auf deinem geheiligten Pfad werde ich wieder aufgerichtet und erneuert,

wandelnd in Schönheit.

 

Mit Schönheit vor mir folge ich meinem Pfad,

mit Schönheit hinter mir folge ich meinem Pfad,

mit Schönheit über mir folge ich meinem Pfad,

mit Schönheit überall um mich herum folge ich meinem Pfad,

 

Alles ist wieder schön geworden,

alles ist wieder harmonisch geworden,

alles ist wieder ins Gleichgewicht gekommen,

alles ist wieder vollkommen geworden.

 

(Morgengebet von Diné’h – Navajo)

 

Es gibt wieder ein großes Interesse an den Kulturen der Ureinwohner Amerikas. Aber unsere Wahrnehmung dieser Kulturen basiert oft auf Stereotypen. Wir stellen uns die amerikanischen Ureinwohner vielleicht als sogenannte „Wilde“ vor, die näher an der Natur stehen. Oder wir sehen weise Männer, Schamanen vor uns, die in direkter Kommunikation mit Tieren, mit der Natur und den Naturgeistern leben. Aber das sind romantische Vorstellungen, geschaffen unter anderem von der Filmindustrie in Filmen wie Kleiner großer Mann oder Der mit dem Wolf tanzt. Diese Metaphern kaschieren die Realität.

Namen wie „Sioux”, „Cheyenne“ oder „Navajo”, unter denen wir die amerikanischen Ureinwohner, die Indianer, kennen, entsprechen nicht ihren wahren Namen. Diejenigen, die sie kolonialisiert haben, gaben ihnen solche Bezeichnungen.

Die Ureinwohner Amerikas erinnern sich daran, dass sie geschaffen wurden, um Gottes Ideen auszuführen. Daher nennen sie sich auch „das Authentische Volk“, „die Wahren Menschen“ oder „die authentischen Menschen, die über die Erde gehen“.

Gemäß ihrer Weisheit hat der göttliche Gedanke die Welt erschaffen. Jedem einzelnen Menschen liegt ebenfalls ein solcher Gedanke zugrunde. Daraus ergibt sich eine Verantwortung. Indem das menschliche Denken in seinem Kern auf den Gottesgedanken zurückzuführen ist, obliegt es dem Menschen, das Werk der Schöpfung fortzusetzen.

Der Gründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner, sagte zu diesem Thema, dass das ursprüngliche Denken der amerikanischen Indianer unversehrt erhalten wurde bis ins 20. Jahrhundert hinein, um als ein Ausgleich dem westlichen Denken entgegenzuwirken, das dabei war, sich in der Materie festzulaufen.

 

Von der ursprünglichen Natur und vom „ersten Pfad“

Die Spiritualität der amerikanischen Ureinwohner ist in ihrer reinsten Form eine Religion, die auf dem Urbild des Menschen basiert, der ursprünglichen Idee der Menschheit. Viele glauben, dass das Bewusstsein der anfänglichen Menschheit ein Dämmerzustand gewesen sei und dass das Bewusstsein der amerikanischen Indianer dem noch näher stehe als das unsrige. Doch hier zeigt sich nur unsere eigene Verdunkelung.

Die amerikanischen Ureinwohner glauben, dass ihre Spiritualität in direktem Zusammenhang mit der ursprünglichen Natur steht. Zahlreiche ihrer Mythen zeugen von der Erschaffung der Erde, der Himmel und der Menschheit als einer göttlichen Schöpfung.

Hierauf richten sie sich aus, und das führt dazu, dass alle täglichen Aktivitäten zugleich spirituelle Handlungen sind. Sie verknüpfen sich miteinander wie Wollfäden und können einen wunderschönen Teppich ergeben. Die Gedanken weben die Dinge, sie ermöglichen dem Leben die weitere Entfaltung. So können Pfade von Schönheit und Harmonie entstehen.

Laut der christlichen Schöpfungsgeschichte gab es das Paradies, den Garten Eden, als ein reines Feld für die Entwicklung des Lebens. Es wurde dem Menschen geschenkt, damit er Gottes Glorie und die Erhabenheit der göttlichen Gedanken ausdrücken und weiterführen konnte. Der ursprüngliche Mensch, der erste Adam, wandelte noch mit dem göttlichen Geist. Sein Leben war spiritueller Art, und er führte es in der Gemeinschaft und in Harmonie mit den Naturreichen, den Elementen, Pflanzen und Tieren.

Dieser Pfad kann „der erste Pfad“ genannt werden. Viele innere Schulen der Religionen, insbesondere die der amerikanischen Ureinwohner, gehen noch heute diesen königlichen Weg. Der „erste Pfad“ führt auf direkteste Weise zum göttlich-geistigen Ursprung.

Er bewirkt, dass der ursprüngliche Gedanke den Menschen unmittelbar berührt. Das Denken gelangt ins Gleichgewicht, findet Reinheit und ursprünglichen Harmonie. Der uranfängliche Menschentyp wird im Innern der heutigen Menschengestalt wieder lebendig, der Gedanke vermag den göttlichen Willen widerzuspiegeln und hilft mit, den universellen Zyklus dem Geist entsprechend zu entfalten. Der Mensch wandelt „in Schönheit“, wie es in dem zu Beginn zitierten Ritus der Navajos heißt.

Große Kräfte werden frei durch diejenigen, die den ersten Pfad gehen. Sie erwecken in der Morgendämmerung eines jeden Tages die Harmonie im natürlichen Lebensfeld. Sie binden die vier Himmelsrichtungen zur Einheit zusammen, zum universellen Kreis. Der göttliche Gedanke zeigt sich erneut. Der universelle Zyklus ist für die Ureinwohner Amerikas Gottes erste Darstellung oder Schöpfung. Die Welt ist aus Zyklen, Schwingungen und Perioden entstanden. Alles beginnt mit dem großen Kreis, und alles endet mit der Rückkehr zu seiner zentralen Mitte.

Die Sonne geht im Osten in der milchweißen Dämmerung auf, richtet sich zum Süden ins Himmelsblau und zeichnet den Kreis weiter, um in goldenem Glanz im Westen unterzugehen und in der dunklen, sternenklaren Nacht zu verschwinden. Dort, in der Nacht, herrscht die zentrale Gegenwärtigkeit des Polarsternes, des Sterns, um den herum alle anderen Himmelskörper einen großen Kreis beschreiben.

 

Im Anfang war der See

Nach der Überlieferung der Ureinwohner Amerikas bestand die Welt am Anfang aus einem großen runden See, absolut ruhig und still. Um den See herum gab es nichts. Nichts war vorhanden, weder Himmel, noch Erde, noch Sterne, Pflanzen oder Tiere. Die Menschen existierten nur als Möglichkeit, als Idee. Es gab allein den Gedanken des Schöpfers, er schwebte wie eine helle Sonne über dem See. Eines Tages ließ der Schöpfer einen Stein in den See fallen, und konzentrische Wellen begannen, sich vom Zentrum aus in Richtung der Ufer des Sees auszubreiten. Die Wellen an der Oberfläche des Wassers entfalteten sich zu den Lebenswellen des Mineral-, Pflanzen-, Tier- und Menschenreichs. Berge erhoben sich, Flüsse zogen ihre Bahnen, Ozeane füllten sich mit Wasser, Wolken erschienen in allen Himmelsrichtungen. Festes Land mit seinen heiligen Plätzen entstand, und alles setzte dazu an, einen großen Kreis zu beschreiben, große Zyklen zu durchlaufen.

Über der Erde erschien das Licht; Sonne und Mond begannen ihrer Kreisläufe, Sterne gingen auf, die Jahreszeiten entstanden. Pflanzen begannen, aus dem Erdreich zu wachsen, Getreide entstand, um die Menschen zu ernähren.

Tiere entwickelten sich in großer Vielfalt, Büffel sprangen über riesige Ebenen, Adler flogen in ihren Kreisen höher und höher, als wollten sie sich ihrem Schöpfer nähern, Bären folgten den Rhythmen des Frühlingserwachens und Winterschlafs, Salamander gingen den Strömen und Flüssen entlang.

Dann erschien der Mensch. Von den Wolken, den kreisförmigen See umrundend, begann ein Wind zu blasen. Aus diesem Atem wurden der erste Mann und die erste Frau erschaffen. Der Mann trug einen Quarz in seiner Hand. Mit Hilfe eines Sonnenstrahls konnte er ein Feuer entzünden. Die Frau bereitete ihr Lager in Form einer runden Hütte. Sie besaß einen Türkis und entfachte, indem sie ihn rieb, mit seiner Hilfe das Feuer. Sie sah in der Ferne das Licht des Mannes und näherte sich ihm. Beide entschieden sich, zusammen zu leben. Das war der Beginn der menschlichen Zivilisation.

 

Vom Ufer zur Mitte

Die Wellen, die der Stein verursachte hatte, erreichten das Ufer des kreisrunden Sees. Sie begannen, zurückzulaufen von den Ufern zum Mittelpunkt. Darin liegt der Beginn der zweiten Phase der Schöpfung. Es ist die Rückkehr aller Dinge zu ihrem Ursprung.

Nach und nach begann die Spezies Tier auszusterben, Pflanzen wurden seltener, Gebirge rückten näher zueinander. Die Erde wurde kleiner, die Menschen hatten weniger Raum zum Leben, sie mussten lernen, zusammen zu leben und ihre Unterschiedlichkeit zu akzeptieren. Die vier Rassen mit schwarzer, weißer, gelber und roter Hautfarbe wurden dazu gedrängt, sich zu vereinigen, um ein einziges Volk zu bilden.

Alles was lebte, musste lernen, zum Ursprung zurückzukehren. Dort, im Zentrum aller Dinge, wird sich die Erde auflösen und alles wird wieder eins werden. Und die Oberfläche des Sees wird wieder still sein. Hierin liegt das Ende eines Zyklus’, das Ende einer Offenbarung oder Manifestation. Und alles wird dann auf eine neue Periode warten, auf einen neuen Beginn.

In anderen Erzählungen beschreiben die Indianer, wie die Menschen jedem Tier einen Namen geben. Denn es ist die Aufgabe des Menschen, Verwalter und Beschützer der Naturreiche zu sein.

Der moderne westliche Mensch hat sich weit davon entfernt, Religion innerlich so zu erleben wie sie der Indianer erfährt.

Der Ursprung, aus dem alles entstand, berührt den Menschen allerdings fortwährend mit seinen Radiationen. Ohne Unterlass sendet die göttliche Sonne ihre Strahlen aus, um unsere Erde und die Menschheit zu erleuchten.

Jan van Rijckenborgh, einer der Gründer der Schule des Goldenen Rosenkreuzes, spricht von der Weisheit der Ureinwohner Amerikas, indem er auf Hiawatha hinweist, den Mitbegründer und Führer des Irokesenbundes. Er bezog sich auf das Epos Das Lied von Hiawatha des amerikanischen Lyrikers Henry Wadsworth Longfellow (1807-1882). Hiawatha war eine Person, die ein vollkommenes Leben führte, absolut rein, von höchstem Adel durchdrungen. Wenn er in Richtung der aufgehenden Sonne niederkniete, wie es Tausende von Ureinwohnern jeden Tag für ihr Morgengebet taten, verband er sich bewusst mit dem Ewigen, das hinter allen Erscheinungen wirkt. Es ist zugleich eine direkte, bewusste Verbindung mit dem ursprünglichen, göttlich-geistigen Menschen. Die Strahlen der aufgehenden Sonne dringen bis tief auf den Grund des Herzens, gehen durch alle Ebenen des bewussten und unterbewussten Gemütes hindurch und erreichen die ursprüngliche Quelle allen Lebens.

 

Ein Gebet der Navajos lautet:

Wir glauben an den universellen Gedanken. Alles, wahrhaftig alles, entspringt dem Gedanken. Jeden Tag von wahren, reinen Gedanken durchdrungen zu sein, ist der Anfang eines jeden spirituellen Weges.

Die Menschheit, die Tiere, die Pflanzen, die Mutter Erde, die Sonne, der Mond, die Himmelskörper, unser Vater, der Himmel – alle haben am gleichen Geist Anteil. Dank der Intelligenz der Schöpfung führen alle das ihnen gemäße Leben. Alle haben eine spezifische Form und Gestalt und arbeiten daran, sich zu vervollkommnen entsprechend der Idee des Schöpfers aller Dinge, die jedem seine eigene Melodie und Schwingung verleiht.

Wir glauben an die Polarität aller manifestierten Dinge. Alle Erscheinungsformen haben ihr Gegenteil. Alle Dinge haben eine positive und eine negative Seite. Unsere Welt ist ein großer Kreis, in dem alles miteinander verbunden ist. Das Universum hat ein Bewusstsein und wir sind Teil davon. Es drückt sich selbst durch den universellen Gedanken aus. Der Gedanke steht am Beginn alles dessen, was existiert. Die Luft, die wir ein- und ausatmen, das Wasser, das wir trinken und wieder abgeben, all das gestaltet unseren Körper, alles besteht in einem großen Kreislauf von Veränderung und Verwandlung durch uns selbst, über tausende und abertausende von Jahren hin.

Das Ziel unseres Lebens besteht nicht darin, einen äußeren Gott anzubeten, sondern jeden Tag in Schönheit zu wandeln. Unser Gebet findet nicht jeden Sonntag in der Kirche statt. Unser Gebet ist unser innerer Seinszustand. Wir beten in jedem Moment am Tag, in unserem täglichen Leben, während der einfachsten Tätigkeiten. Beten ist eine Art des Seins, eine Methode des Lebens in Frieden, Gleichgewicht und Harmonie.

So wandeln wir im großen Kreis des Lebens.

So wandeln wir in vollkommener Schönheit hin zum ewigen Leben.

 

(Auszug aus: Matthews Washington, Navajo myths, prayers and songs)

 

Weitere Quellen:

http://navajopeople.org/blog/father-sky-and-mother-earth/

Jan van Rijckenborgh, Der kommende neue Mensch, 5. Auflage, Haarlem 2006, Teil 1 Kap. 3

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Datum: November 21, 2017
Autor: Sylvain Gillier-Imbs (France)
Foto: Pixabay CC0

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