– mit eigenen Augen – … und zeichnen das rasch auf. (Vielleicht ist der Kosmos ja eine wilde Möhre.) Dass die wilde Möhre ein Kosmos ist, das ist ja offensichtlich.
Es fasziniert, dass wir immer tiefer in den Weltraum zu blicken vermögen. Denn darin vibriert die Frage: Woher kommen wir? Die Entfernungen werden nach Lichtjahren berechnet. 300 000 km in der Sekunde legt ein Photon zurück. Unvorstellbar. Die Lichtgeschwindigkeit definiert die Grenze der Zeit. Dort draußen – oder dort drinnen – existieren Milliarden Galaxien, Milliarden von Lichtjahren entfernt. Die älteste, vom Teleskop erfasste, ist ca. 13,5 Milliarden Lichtjahre weit entfernt. Also mal knappe 500 000 Millionen Lichtjahre von Urimpuls weg.
Nebenbei: Etwas in meinem Sprachzentrum sperrt sich, das Mysterium des Urbeginns auf einen geistlosen Krach-Bumm-Dumm-Urknall zu reduzieren. Außerdem konnte da nichts knallen. Es gab weder einen Echoraum noch Ohren. Viel eher dürfte eine tiefe, schöpferisch ausgereifte, satte Stille geherrscht haben, die aus sich das Licht und damit die Zeit gebar – „Es werde Licht“ – für das Auge und: „Am Anfang war das Wort“ – für das Ohr, die nach zig Milliarden Jahren endlich entwickelt waren, um zu sehen und zu hören. Denn im Licht und im Wort sind Klang, Geist und Bewusstsein enthalten. Mit dem Vers:
Wär nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt es nie erblicken; läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft, wie könnt uns Göttliches entzücken?
bringt es J.W. von Goethe auf den Punkt. Gottes eigene Kraft, das ist wohl das Bewusstsein, das sich als Licht und Raum in der Zeit manifestiert und im Menschen zu sich selbst erwacht. Den teleskopverstärkten Blick sehnsuchtsvoll zum Ursprung hin zu richten, ist eine bewusste Ausrichtung.
Auch der alte indische Schöpfungsmythos, nach dem der schlafende Vishnu mit jedem Atemzug das All ein- bzw. ausatmet, ist fantasievoller als ein Urknall, und nach dem heutigen Stand der Wissenschaft, die eine Ausdehnung und Zusammenziehung des Weltalls für möglich hält, auch realistisch. Jeder lebendig machende Atemzug ist somit eine aktuelle Neuschöpfung des Universums. Als ich in Indien einen Tempel mit seinem mächtigen Ziegeldach bestaunte, enthüllte mir ein Priester, dass das Dach aus ebensovielen Dachziegeln bestehe wie ein Mensch Atemzüge am Tag mache. Bei ca. 18 pro Minute, 1080 pro Stunde, sind das 25 920 Atemzüge am Tag. So viele Ziegel habe das Dach, sagte er. Ich habe nicht nachgezählt, sondern ihm lieber geglaubt. In so vielen Jahren reist die Sonne einmal durch den ganzen Tierkreis – das wird als Platonisches Jahr bezeichnet.
Wie könnte es auch anders sein, als dass in jedem kleinsten Geschehen das große Ganze atmet, denn es ist ein Kosmos, in den das Teleskop hineinblickt und aus dem es letztlich auch selbst besteht, ebenso wie die Spezialisten, die es fertigten. Wie schon erwähnt: der Blick richtet sich zwangsläufig in die Vergangenheit. Diese Tatsache, dass wir in die Vergangenheit schauen, je tiefer der Blick ins Universum dringt, bedeutet, dass wir die kosmische Wirklichkeit, wie sie aktuell ist, nicht erkennen, sondern das, was sich vor Milliarden Lichtjahren ereignet hat.
Angenommen, die Galaxien würden sich mit Lichtgeschwindigkeit wieder zusammenziehen und ihrem Ausgangspunkt nähern, wir könnten das nicht erkennen. Doch alles, was je geschehen ist und sichtbar wurde, ist im Licht gespeichert.
Noch ein anderes Phänomen wird hier deutlich: die Besonderheit des Planeten Erde in seiner, relativ zu diesen gigantischen Dimensionen, winzigen Kleinheit. Manche sprechen angesichts dieser Größenverhältnisse desillusioniert von einem Staubkorn. Auch mit diesem desillusionierenden Begriff für unsere Erde ist mein Sprachzentrum nicht einverstanden. Er stimmt auch nicht. Die Erde ist kein Staubkorn! Wenn schon klein, dann bitte kein Staubkorn, sondern ein Same. Ein winziger Same, ja, wie der eines Mammutbaumes oder einer Königskerze, aus dem große, lebendige Welten wachsen, weil die Photonen – das Licht – in die verdichtete Energie, die Materie, hineinsterben und so die Gestalten und Wesen kreieren und erhalten, die sich in vielfältiger Weise begegnen, durchdringen, ergänzen, gegeneinander ringen und miteinander kooperieren. So, dass sich in all diesen Geschehnissen, die wir Wachstum nennen, die unbegrenzte Dimension von Licht und Raum in der begrenzten und begrenzenden Materie ausdrückt, in dem wundervollen Reichtum der Arten auf der Erde, natürlich einschließlich uns Menschen. Im Kleinen offenbart sich das Große, oder genauer: das Ganze. Willst du dich am Ganzen erquicken, So musst du das Ganze im Kleinsten erblicken, sagte J.W. von Goethe.
In uns Menschen kommt dieses kosmische Geschehen bewusst zu sich selbst. Im Wachstum wird etwas wach – es könnte deshalb auch Wachtum heißen – nämlich das schöpferische Bewusstsein als ein Wahrnehmungsorgan, das zugleich die inneren und äußeren Vorgänge beobachtet, erlebt, interpretiert und gestaltet. Das Bewusstsein ist unvergleichlich viel komplexer als das faszinierende James Webb Teleskop, doch auch viel selbstverständlicher, weil es nicht projektiert, konstruiert und gemacht wurde, sondern von Natur aus gegeben und geschenkt ist.
Alles, was uns natürlich gegeben ist und somit selbstverständlich wird – wie das Sehen, das Hören, und eben das Bewusstsein – teilt sich früher oder später in ein intellektuelles, rein rational-mentales, begriffliches Wissen. Der umfassendere Teil des Bewusstseins, in dem auch das Staunen angesiedelt ist, sickert über einen Gewöhnungsprozess ins Unterbewusste. Das Unbewusste macht ohnehin den Großteil unserer Existenz aus. Nicht nur das Universum besteht zu zwei Dritteln aus sogenannter dunkler Materie und dunkler Energie – das sind Dimensionen, die weder dem Teleskop noch dem Mikroskop zugänglich sind – sondern auch unser Körper. Diese gewaltigen Leistungen – die etwa unser Herz, das täglich ca. 10000 Liter Blut durch die Blutbahnen schickt und wieder einsaugt, oder das Gehirn mit seinen unzähligen, gleichzeitigen Aktivitäten auf kleinstem Raum, die auch die Nerven- und Muskelaktivitäten koordinieren, vollbringen – würden jeden planenden, rationalen Ich-Verstand maßlos überfordern, müsste dieser das Körpergeschehen organisieren. Gegen das, was in uns permanent an Atemprozessen, Wärmehaushalt, Druckausgleich und Verdauungsvorgängen geregelt wird, damit es einen einigermaßen ausbalancierten Zustand ermöglicht, den wir als Basis unseres Daseins erfahren, ist die Verkehrsplanung der Bundesbahn eine Marginalie. (Und wir erleben ja, wie schwierig das ist.) Die (unbewussten) natürlichen Prozesse, die unser Leben organisieren, arbeiten ohne unser bewusstes Zutun. Sie sind das Ergebnis Jahrmillionen alter Erfahrungen und intelligenter zielorientierter Bildeprozesse, die aus wenigen Grundelementen immer komplexere Organismen und Wesen ermöglichen. Und wieder hat es Goethe treffend zusammengefasst:
Je vollkommener das Geschöpf wird, desto unähnlicher werden seine Teile.
Wie die Lichtgeschwindigkeit die Grenze der Zeit ist, so ist das Maß die Grenze des Wachstums. Ab einer bestimmten Menge wird ein Mehr zum Verlust. Wer satt ist, kann nicht noch mehr essen, ohne dass das schadet. Was die Kraft der Grenzen (Doczi) nicht achtet, wuchert ins Maßlose und löst geistbezogene Qualität in entgrenzte Masse auf, die letztlich die eigene Basis zerstört.
Dort wo sich die unbegrenzte Energie in der begrenzten und begrenzenden Materie äußert, entstehen die vielfältigen Gestalten der Natur, in der sich – in harmonischen Proportionen – die Einheit in Schönheit offenbart. Schönheit ist das Erscheinen des Unendlichen in endlicher Gestalt. Dort hat auch die Kunst ihre Werkstatt.
Wenn du das Unsichtbare erkennen willst, musst du so tief als möglich in das Sichtbare eindringen
(Kabbala)
war das Motto des KUNST KLOSTER-Zeichen-Seminars in der Konferenzstätte Bad Münder, das im Zusammenhang mit einer Konferenz zur LEBENsKUNST stattfand.
Die Instrumente für dieses Eindringen und Erkunden des Sichtbaren waren zunächst ein schlichtes leeres Blatt und ein Bleistift.
Beim Zeichnen der Natur müssen die so selbstverständlich scheinenden und begrifflich leicht zu erfassenden Dinge visuell übersetzt werden. Solches Zeichnen kann kein geistloses Abzeichen sein, sondern wird die Übersetzung des Sichtbaren in einen Erkenntnisprozess. Dabei verändern sich die Dinge. Vom Vorbild werden sie über das Abbild zum Sinnbild, vom Sinnbild zum Symbol eines Rätsels, das sich hinter einer Spiegelmauer aus Deutung und Gewöhnung verbirgt und das mit uns in Kontakt treten kann. Denn die Natur hält Ausschau nach Augen, die sie sehen. Durch das Zeichnen werden die Gestalten der Natur wie eine visuelle Partitur, von einem genialen Schöpfer geschrieben, erkannt. Die Hand erspielt und interpretiert dann mit einfachen bildnerischen Instrumenten, wie dem Bleistift, möglichst werkgetreu, was dem Augensinn im Licht – unerhörtes – begegnet.
Dann vergesse ich die alte dramatische Mimesis[1]-Diskussion über Schein und Sein.
Vergesse, dass alles nur Illusion und Täuschung sei und eitel und Haschen nach Wind.
Vergesse, dass alles nur ein sinnloser Zufall wäre, der sich auf ein dutzend Teilchen reduzieren lasse, und alles andere unsere Deutung sei, weil wir es nicht ertrügen, in einem zufälligen, gottlosen und sinnlosen Sein zu existieren.
Vergesse, dass es in manchen Religionen für Künstler, die sich ketzerisch ans Schöpferische wagen, extra Höllen gäbe.
Vergesse, dass die moderne Kunst den Naturalismus längst erfolgreich überwunden hat.
Vergesse, dass die Schönheit und die Natur missbraucht und zerzweckt werden für die unersättliche Gier egomanischer Interessen.
Vergesse, dass sie zur Kulisse verniedlicht werden, um Bedürfnisse für Produkte zu wecken, die niemand braucht …
vergesse, vergesse, vergesse.
Ich sehe die göttliche Manifestation, das Unsichtbare im Sichtbaren und zeichne, was ich sehe. Nur das. Dabei geschieht von selbst: beseligende, nährende, sinnstiftende Freude. Gebet. Preisung. Dankbarkeit. Und dann ist da ein Sturz … ein Flug – hinaus ins Innerste.
Über das teleskopgleiche Hineingehen in die Tiefe der Erscheinung und das mikroskopisch genaue Erkunden der Form, Farbe, Rhythmen und Strukturen der Gestalt dringt der forschende Sinn über das Sichtbare zum Ursprung vor. Es öffnet sich eine neue schöpferische Wahrnehmung – von innen her. Sie erkennt die pure Lebendigkeit im ALL, in Allem, das ein vielgestaltiges Ganzes ist – und in einer wilden Möhre am Wegesrand den Kosmos offenbart.
Wenn sich das menschliche Bewusstsein mit dem göttlichen Bewusstsein verbindet, geschieht eine Verschmelzung zwischen Zeit und ewiger Gegenwart. Jedoch nicht nur so, dass der zeitlich individuelle Tropfen sich dann – endlich erlöst vom karmischen Filz – selig im unendlichen Nirwana-Ozean auflöst, sondern auch so, dass sich der gesamte Ozean in jedem individuellen Tropfen bewusst offenbart.
[1] Mimesis: nachahmende Darstellung der Natur im Bereich der Kunst