Der vierte Zustand. Sinneswahrnehmung und Erfahrung

Our sensory perceptions are the basis of our experiences in the external world. However, they are only one 'mode' of human consciousness. There is another possibility for us: waking up in the supreme reality.

Der vierte Zustand. Sinneswahrnehmung und Erfahrung

Die Frage, wie Sinneswahrnehmungen entstehen und welche Rolle sie bei unseren Erfahrungen und unserer Entwicklung spielen, hat schon viele beschäftigt. Aristoteles etwa sieht die Fähigkeit der sinnlichen Wahrnehmung als Unterscheidung zwischen Tieren und Pflanzen an.[1] Wenn ein Tier heranwachsen, leben und sich fortpflanzen soll, muss es in der Lage sein, sich in der Welt zurechtzufinden. Die Fähigkeit der Wahrnehmung dient diesem Zweck. Entsprechend bilden sich bei den Lebewesen verschiedene Sinnesorgane aus, die die Wahrnehmungen ermöglichen.

Kant betont die sinnlichen Wahrnehmungen in ihrem Zusammenwirken mit dem Verstand.[2] In einer „kritischen“ Reflexion beschreibt er einen Ansatz, um hieraus die „Bedingungen der Möglichkeit“ menschlicher Erfahrungen zu erfassen. Beide Ansätze haben im Mittelalter und der Moderne zu einer Fülle von Überlegungen geführt und viele Denker beschäftigt.

Eine zentrale Frage ist immer, wie unsere Wahrnehmungen zur Grundlage unserer Erfahrungen werden. Eine wichtige Frage ist hierbei auch das Phänomen der Wahrnehmungsillusion und der Halluzination. Wenn diese Arten von Irrtum möglich sind, wie zuverlässig sind dann unsere direkten Wahrnehmungen der Welt?[3]

Wahrnehmung, Verstand, Intention

Unsere Wahrnehmungen beruhen zunächst auf dem Wirken unserer Sinnesorgane. Mit ihrer Hilfe nehmen wir Anteil an der äußeren Welt. Beim Entstehen der Wahrnehmungsinhalte spielen neben den Sinnesorganen aber auch andere Faktoren eine wichtige Rolle.

Man kann dies am Beispiel eines Spiels verdeutlichen. Auf einem Projektor werden verschiedene berühmte Gebäude gezeigt, etwa die Freiheitsstatue oder der Eiffelturm. Zunächst ist der Projektor unscharf gestellt, man erkennt nur vage Farbimpressionen ohne klare Umrisse. Allmählich macht man das Bild dann schärfer. Derjenige oder diejenige, die das Gebäude zuerst erkennt, hat gewonnen. An diesem Beispiel sieht man, wie der Verstand und die Erinnerung die Sinneseindrücke zu einem Ganzen zusammenführen. Erst so entsteht ein Zusammenhang zwischen den Impressionen und man erkennt das Gebäude. Kant nennt diesen Vorgang die „Synthesis des Mannigfaltigen“.

Man kann davon ausgehen, dass dieser Prozess auch bei Tieren stattfindet. Auch für sie geht es ja um die Identifikation von anderen Objekten ihrer Umwelt. Der Vorgang ist beim Menschen durch die Fähigkeit des begrifflichen Denkens und der Sprache allerdings noch differenzierter. Und auch bei der technischen Bilderkennung spielt der Prozess eine wichtige Rolle: die einzelnen Datenpunkte einer digitalen Kamera werden durch diverse technische Ansätze so verarbeitet, dass Objekte erkannt werden, beispielsweise Buchstaben auf einem Brief oder Objekte im Straßenverkehr.

Aber es sind nicht nur Inhalte der Erinnerung und des Verstandes, die in unsere Sinneswahrnehmungen einfließen und sie strukturieren. Sondern auch andere psychische Inhalte spielen hier eine entscheidende Rolle. Die Wahrnehmungen entstehen am Schnittpunkt der Sinne und des inneren Zustandes. Unsere Wünsche oder Befürchtungen nehmen entsprechend Einfluss auf das, was wir sehen. Im Alltag spricht man manchmal davon, dass man nur das sieht, was man sehen will. Oder für das man noch vor dem Wahrnehmungserlebnis sensibilisiert ist.

Die spontanen Verbindungen und Interpretationen, die bei jedem Wahrnehmungsvorgang stattfinden, erfordern ein „Vorverständnis“, also eine von vornherein vorhandene Vorstellung, einen vorhandenen Begriff von etwas. Unsere Gefühlslagen und unsere Absichten oder Intentionen spielen hierbei eine zentrale Rolle. Das ist in vielen Zusammenhängen wichtig, um schnell reagieren zu können. Die Einordnung von Wahrnehmungen im Straßenverkehr muss schnell erfolgen, und die entsprechenden Konditionierungen ermöglichen uns schnelle Entscheidungen.

Aber es gibt neben diesem schnellen Denken auch „langsames“ Denken.[4] Gerade wenn es darum geht, Dinge tiefer und anders wahrzunehmen, können uns die Konditionierungen behindern. Unvoreingenommenheit und Offenheit sind wichtige Voraussetzungen für neue Wahrnehmungen und Einsichten. Deshalb kann es wichtig sein, sich konstruktiven Provokationen zu öffnen, sich der eigenen Sichtachsen bewusst zu werden, sie zu hinterfragen und loszulassen.

Der „vierte Zustand“

Unsere Sinneswahrnehmungen sind Grundlage für unsere Erfahrungen in der äußeren Welt. Sie sind aber nur ein „Modus“ des menschlichen Bewusstseins. So werden beispielsweise in der Mandukya Upanischad vier Zustände beschrieben:[5]

2 Brahman ist alles und das Selbst (Atman) ist Brahman. Das Selbst hat vier Bewusstseinszustände. Der erste wird Vaishvanara genannt, in dem man mit allen Sinnen nach außen gerichtet lebt und sich nur der äußeren Welt bewusst ist. […] 4 Taijasa heißt der zweite, der Traumzustand, in dem man, mit nach innen gekehrten Sinnen, die Eindrücke vergangener Taten und gegenwärtiger Wünsche verarbeitet. 5 Der dritte Zustand wird Prajna genannt, der tiefe Schlaf, in dem man weder träumt noch begehrt. In Prajna gibt es keinen Intellekt, gibt es kein Getrenntsein; aber der Schläfer ist sich dessen nicht bewusst. Lass ihn in Prajna bewusst werden, und es wird ihm die Tür zum Zustand der anhaltenden Freude öffnen. […] 7 Der vierte ist der überbewusste Zustand, Turiya genannt, weder innerlich noch äußerlich, jenseits der Sinne und des Intellekts, in dem es keinen anderen gibt als den Herrn. Er ist das oberste Ziel des Lebens. Er ist unendlicher Frieden und Liebe. Erkenne ihn!

Hier wird eine andere Perspektive eingenommen. Ausgangspunkt ist die Aussage, dass das Selbst und Brahman eins sind. Als Lebewesen sind wir Teil der Natur und ähnlich wie unsere Verwandten aus dem Tierreich mit Sinnesorganen ausgestattet, die sich über lange Perioden entwickelt haben und die uns an der äußeren Welt teilnehmen lassen. Aber daneben – so die Mandukya – ist unser Kern eins mit der höchsten Realität. In dieser Sicht ist es logisch, dass neben den Sinneswahrnehmungen, ihrer Strukturierung durch den Verstand und die Erinnerung, neben der Formung der Erfahrungen durch Intentionen und Befürchtungen, ein Zustand gesucht wird, in dem wir mit dem innersten Kern in Verbindung treten.

Die Upanischad benennt neben dem Wachzustand zwei Formen des Schlafes. Die moderne Schlafforschung unterscheidet die sogenannten REM-Phasen (REM = Rapid Eye Movement) und NREM-Phasen (Nicht-REM-Phasen). Eine REM-Phase ist ein Schlafstadium, das durch schnelle Augenbewegungen, erhöhte Herzfrequenz, intensive Atmung und lebhaftes Träumen gekennzeichnet ist. Die Hirnaktivität (gemessen als EEG) ähnelt der des Wachzustandes.[6] Es liegt nahe, diese Phase mit dem Traumzustand der Mandukya in Beziehung zu setzen und die NREM-Phasen des Tiefschlafs mit dem, was in der Upanischad ‚traumloser Schlaf‘ genannt wird (obwohl hier nach heutigem Verständnis auch Träume stattfinden, die aber tatsächlich ganz anderer Natur sind als die der REM-Phasen).

Im Verständnis der Upanischad erleben wir im Zustand des Tiefschlafs zwar das Aufheben der Trennung, aber dies erfolgt, ohne dass sich der oder die Schlafende dessen bewusst wird. Im „vierten Zustand“ – Turiya – geht es aber gerade darum, in einem voll bewussten Zustand zu erwachen. Das wird als höchstes Ziel des Lebens beschrieben, als das Erlangen eines reinen Bewusstseins.

Dabei ist dieses reine Bewusstsein nicht getrennt von den anderen Zuständen, also auch nicht von den Sinneswahrnehmungen. Vielmehr liegt der vierte Zustand den drei anderen Bewusstseinszuständen zugrunde und durchdringt sie. Je mehr die „Tür zur anhaltenden Freude“ geöffnet ist, desto mehr werden auch die anderen Zustände daran Anteil erhalten. Wer in Turiya erwacht, sieht auch die äußeren Dinge mit neuen Augen.

Ausblicke

Das Gesagte eröffnet eine sehr weit reichende Perspektive. Eine solche Perspektive findet sich nicht nur in der indischen Tradition. Bei den Griechen könnte man beispielsweise über die „Traumfahrt“ des Parmenides sprechen [7] ,[8]. In der westlichen Mystik finden sich ähnliche Gedanken beispielsweise bei Meister Eckhart [9]. Und es gibt sicher noch zahlreiche andere Hinweise in anderen Kulturen und Epochen.

Das ist für sich interessant, aber noch unmittelbarer ist die Frage, ob und wie wir etwas davon erleben. Kennen wir jenes Stillwerden, jene Hesychia [10], in der unsere Sinneswahrnehmungen zur Ruhe kommen, in der wir Erinnerungen, Wünsche und Befürchtungen loslassen können, in der wir einen Raum der Stille und Offenheit schaffen? In Turiya tauchen wir in eine Stille ein, die die Grundlage jeder echten Dynamik ist, in eine Tiefe, in der wir uns selbst finden. Von dieser Tiefe aus spricht die Upanischad schließlich das dreifache Shanti (Frieden) aus, das die drei anderen Zustände durchdringt.

 


[1] De Anima ii 3; De Sensu 1

[2] Kant, Immanuel, Critik der reinen Vernunft, Riga 1781

[3] Crane, Tim; French, Craig, The Problem of Perception, in: Edward N. Zalta (Ed.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy; Fall, Metaphysics Research Lab, Stanford University, 2021

[4] Kahneman, Daniel, Thinking, fast and slow, London 2012

[5] Easwaran, Eknath, The Upanishads, Nilgiri Press, S. 204

[6] Brockhaus, Schlaf. http://brockhaus.de/ecs/enzy/article/schlaf-20 (aufgerufen am 2022-02-05)

[7] Kingsley, Peter, In the dark places of wisdom, London 2001

[8] Kingsley, Peter, Reality, Point Reyes 2004

[9] Steiner, Rudolf (1901): Die Mystik im Aufgange des neu-zeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung. 3. Auflage (2009): Rudolf Steiner Online-Archiv.

[10] Personifikation der Ruhe in der griechischen Mythologie

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Datum: Februar 8, 2022
Autor: Orestis Terzidis (Germany)
Foto: Daniel Reche auf Pixabay CCO

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