Seit dem 15. Jahrhundert hat die rosenkreuzerische Bewegung den religiösen Dogmatismus in Frage gestellt, wie wir erläutert haben. In jüngerer Zeit stellt sie auch den wissenschaftlichen Dogmatismus in Frage. Die Wissenschaft bestätigt durch ihre Methodik, dass alles Wissen aus der Erfahrung stammt; dabei missachtet sie jedoch den Erfahrungsbereich der geistigen und seelischen Realitäten des Menschen. Ihre Methodik beschränkt sich auf das Physische, und so begrenzt sie auch das Konzept des „Menschen“ insgesamt auf das Physische.
Von der Koexistenz der materiellen und der geistig-seelischen Realitäten
Rosenkreuzerisch gestimmte Menschen waren daran beteiligt, die neu entstehende Wissenschaft von den Einflüssen des religiösen Dogmatismus und Aberglaubens zu befreien. Sie versuchten, die Grundlagen einer ganzheitlichen Wissenschaft aufzuzeigen. Das Ganzheitliche hat jedoch zunächst keinen Widerhall gefunden, jedenfalls nicht in den vorherrschenden Richtungen der Wissenschaft. Heute geht es nun darum, dieses Konzept des ganzheitlichen Menschen und seine Interaktion mit der Welt und dem Leben in die Wissenschaft einzuführen – ein Ansatz, bei dem Wissenschaft und Geist koexistieren, ebenso wie die weltliche und die symbolische Sprache.
Die uns heute von der Wissenschaft auferlegte Konzentration auf die rein physischen Aspekte des Menschen und der Welt hat zu einem existenziellen Materialismus beigetragen, der sich zunehmend zerstörerisch für unseren Planeten auswirkt. In ihrem Bestreben, die Existenz eines anthropomorphen Gottes und Schöpfers zu leugnen, haben die Naturwissenschaftler zugleich das Wissen unterdrückt, dass es eine spirituelle Seite des Lebens gibt. Heute zeigt sich, dass sich dieser Ansatz als ineffektiv erweist, wenn es darum geht, die Probleme, die durch die materialistische Sicht herbeigeführt wurden, zu lösen.
Die Versuche, der eskalierenden Zerstörung unserer Umwelt entgegenzuwirken, müssen auf allen Ebenen scheitern, wenn sie die Existenz der spirituellen Dimensionen des Lebens – und dazu gehören die des Mineral-, Pflanzen-, Tier- und Menschenreiches – nicht akzeptieren. Eine neue, ganzheitliche Sichtweise muss von der Erkenntnis ausgehen, dass die Erde und der Kosmos insgesamt Lebewesen sind, die mit der gleichen Idee und dem gleichen Zweck wie der Mensch erschaffen sind – jedes individuell und differenziert durch die eigene Bewusstseinsebene.
Von den Grundlagen der Wirklichkeit
In diesem Stadium wird es von Vorteil sein, die rosenkreuzerische Philosophie genauer kennen zu lernen. Wir können zunächst darauf hinweisen, dass jüngste „Entdeckungen“ der Physik, das „Higgs-Feld“ und das „Gottesteilchen“, bereits im Buch der goldenen Gebote beschrieben wurden, einer Abhandlung des Kalacakra-Tantra, eines Kompendiums der mehrere tausend Jahre alten östlichen Weisheit.
Hier erfolgt die Beschreibung des „Gottesteilchens“ in einer symbolischen und nicht in einer technischen Sprache. Es wird kein Zweifel daran gelassen, welch bedeutsame Rolle es bei der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts der universellen Manifestation spielt. Tatsache ist, dass das Eindringen in die Grundlagen der Realität im Mittelpunkt aller großen spirituellen Impulse stand. Es ist nicht möglich, sich einem Verständnis dessen, was Realität ist, wirklich zu nähern, ohne das Geheimnis zu enträtseln, das der materiellen Manifestation zugrunde liegt.
Lange vor Einstein war die Beziehung zwischen Energie und Materie in den spirituellen Schulen bekannt. Es ist eine Illusion zu glauben, dass sich physische Materie und Energie nur in verschiedenen Schwingungszuständen manifestieren. Nehmen wir das Johannesevangelium, eines der spirituellsten christlichen Evangelien. Es beginnt mit der Erläuterung, dass alles aus dem „Wort“ hervorgegangen ist, einer Handlung, die zur Manifestation führt, mit anderen Worten, dem Logos. Was hier mit „Wort“ gemeint ist, ist mehr als nur eine Schwingung. Die Stringtheorie der modernen Physik enthält Ansätze, die in diese Richtung weisen.
Das, was man gedanklich postuliert und erforscht, bedarf einer strengen Methodik und auch der Verwendung hochentwickelter Apparate, um die Ergebnisse zu demonstrieren. Interpretiert werden können die Ergebnisse aber nur richtig, wenn die Einsicht und Weisheit der anderen hochentwickelten Instrumente, des menschlichen Geistes und des Körpers, hinzu kommen. Dann zeigen sich die sog. objektiven Forschungsergebnisse im umfassenden Licht. Belässt man es bei dem ausschließlich „objektiv“ gewonnenen Ergebnis, setzt man dieses also absolut, dann bleibt es in einer „Schräglage“. Es ist vielfältig interpretierbar und es wird von einem „Subjektiven“ angewandt, das sich seiner selbst nicht ohne Weiteres bewusst ist. Deshalb geht die rosenkreuzerische Bemühung dahin, das individuelle Bewusstsein möglichst von Konditionierungen, Konventionen, Traditionen und externen Autoritäten zu befreien, die das Denken beeinflussen, damit der Geist zu wahrer Einsicht und Weisheit gelangen kann.
Vom Weg des „Erwachens“
Das ist ein mühsamer Prozess, bei dem alle Fähigkeiten der menschlichen Intelligenz genutzt werden, insbesondere ihre Fähigkeit, jede neue Erkenntnis an der Messlatte der manifestierten Natur und des praktischen Alltages zu bewerten. Diese Methode ist ebenso anspruchsvoll wie die des Wissenschaftlers in seinem Labor, des Künstlers in seinem Atelier oder des Mystikers in seinen Meditationsmomenten, denn sie umfasst sie alle drei gleichzeitig. Für diejenigen, die die höchsten Ebenen des „Erwachens“ erreichen, wie Gautama der Buddha den Zustand höchster Erleuchtung definiert hat, besteht die einzige Möglichkeit, anderen mitzuteilen, was sie entdeckt haben, darin, die Sprache der Symbolik und Analogie zu verwenden.
Für die rosenkreuzerische Sicht befindet sich die Mehrheit der Menschheit in einem Zustand, der dem des Träumens ähnelt, gefangen in der Illusion der äußeren Sinneswahrnehmung, während das „Wirkliche“, das durch die Erscheinungen hindurch wirkt, unberücksichtigt bleibt. Alle Bemühungen des Rosenkreuzes zielen daher darauf ab, die Wahrheit Schritt für Schritt mit einer konsequenten und bewussten Selbstkontrolle zu erwecken.
Die Realität unserer Existenzebene ist kaum zu ertragen. Das menschliche Elend, die moralische Entartung und die täglichen Gräueltaten auf der Welt sind für unsere Psyche nur auszuhalten, wenn sie in kleinen Dosen aufgenommen werden. Um das vollständige Ausmaß unserer „Realität“ zu betrachten, ist ein erhebliches Seelenwachstum erforderlich. Die Folge ist ein tiefes Mitgefühl. Diese Seelenreife kann nicht allein durch Glauben erreicht werden, sondern bedarf der Vernunft und Erfahrung, die sich aus einer engagierten Aktivität im Leben und einer Hinwendung zum Leben ergeben. Von der ältesten Vergangenheit her bis in die Gegenwart öffnet sich die Tür zur Einweihung in die Wahrheit denen, die sich selbst bis in die Tiefe kennen, wie der Aphorismus am Tempel in Delphi deutlich macht: „Mensch, erkenne dich selbst.“
Auf dem Weg der Erfahrung führt der Weg der Rosenkreuzer auch zur Erkenntnis der immateriellen Welten, der „höheren“ Dimensionen,. Sie teilen denselben unendlichen Raum mit uns, unterliegen aber anderen Schwingungsgesetzen. Neben unserer Welt, die von menschlichem Elend erfüllt ist, gibt es unverschmutzte, reine Domänen des Lebens, gefüllt mit Wesenheiten, die ihre Dualität überwunden haben, die geistig wiedergeboren sind und dennoch eine Verbindung zu unserer Ebene der Existenz aufrechterhalten. Aus der Perspektive dieses Bewusstseins findet die rosenkreuzerische Arbeit der Unterstützung der Menschheit statt.
Neues Handeln aufgrund neuen Bewusstseins
Es gibt viele Themen, um die wir uns bemühen: Was ist das, die Seele? In welcher Beziehung steht sie zur göttlichen Monade? Was hat es mit den subtileren Körpern des Menschen auf sich? Welche spirituellen Gesetze wirken in unserem materiellen Leben? Für viele mögen das hochinteressante Themen sein. Für Rosenkreuzer sind es nur Instrumente des Verstehens, die bei der Entwicklung eines neuen Bewusstseins eingesetzt werden und durch die ein neuer kreativer Handlungsradius der Seele entsteht, der die reine Ethik der geistigen Gesetze widerspiegelt.
All dies ist natürlich nicht das ausschließliche Erbe einer speziellen rosenkreuzerischen Schule. Es viele spirituelle Schulen im Osten wie auch im Westen, die die gleichen oder sehr ähnliche Philosophien entwickelt haben. Das vielleicht herausragendste Merkmal der rosenkreuzerischen Philosophie, das sich auch im Osten wiederfindet, besteht darin, dass der Fokus auf der „Lehre des Herzens“ liegt, bzw. der Lehre der Seele liegt und dass diese Lehre mit der „Lehre des Auges“ oder dem Lernen durch die Sinne verschmolzen wird.
Die „Lehre des Herzens“ zielt auf den Zustand der Verbindung mit dem Geist und seinem Ideenstrom ab, während die „Lehre des Auges“ die Erfahrung der Manifestation betrifft, die Erfahrung unserer Realität und ihrer Anforderungen.
Die Verbindung dieser beiden Lehren wird in den rosenkreuzerischen Manuskripten durch zwei Bücher symbolisiert, die im Grab des Christian Rosenkreuz gefunden wurden: das „Buch T“, das Buch Gottes (Theos), und das Buch M, das Buch der Welt (mundus). Hierin liegt der Schlüssel, der es dem Rosenkreuzer ermöglicht, das zu erfüllen, was Hermes Trismegistos am Beginn der „Smaragdtafel“, der Tabula Smaragdina, dem bekanntesten Text der rosenkreuzerischen Alchemie, mit den Worten beschrieben hat:
„Es ist wahr! Es ist die volle Wahrheit! Das, was unten ist, ist gleich dem, was oben ist, und das, was oben ist, ist gleich dem, was unten ist, damit die Wunder des Einen erfüllt werden.“