(Teil 2)
Das Gespräch zwischen den beiden Figuren verläuft in gegenseitigem Verständnis und in Einigkeit. Als der Kleine Prinz fragt, wo eigentlich die Menschen seien, man fühle sich so einsam in der Wüste, sagt die Schlange: „Man fühlt sich auch unter den Menschen einsam.“ Dagegen ist nichts zu sagen, denn genau das hat der kleine Mann bei der Begegnung mit den Bewohnern der von ihm besuchten Asteroiden erlebt. Es scheint, dass die Schlange nicht nur allgemeingültige Wahrheiten ausspricht, sondern dass sie ihre Antworten irgendwie aus dem eigentümlichen Besucher herausholt. Als sie sich um den Knöchel des Kleinen Prinzen windet, stellt sie lakonisch fest, dass sie jeden mit einer Berührung durch ihre Reißzähne in den Tod, „ins Erdreich“ schicken kann. Aber der zerbrechliche kleine Mann ist so rein, dass die Schlange ihm eine Gnade erweisen möchte. Sie bietet ihm an, ihm zu helfen, zurück auf seinen Planeten zu gelangen. Der Kleine Prinz hat keinen Zweifel daran, wie diese Hilfe aussehen wird. In völligem Einverständnis sitzen die beiden schweigend beieinander – ruhig wie die Wüste, und der Stern des Kleinen Prinz leuchtet über ihnen am Himmel.
Eine „armselige“ Blume „mit drei Blütenblättern“ teilt dem Protagonisten mit, dass man nie wissen kann, wo die Menschen zu finden sind: „Der Wind verweht sie. Es fehlen ihnen die Wurzeln, das ist sehr übel für sie.“ Von dem kleinen Wanderer kommt keine Antwort, er verabschiedet sich nur. Es muss sich für ihn seltsam anfühlen, Wurzeln zu besitzen, die in den Himmel wachsen.
Er stößt auf einen Weg, der zu einem Rosengarten führt. Dort gibt es fünftausend Blumen und alle sehen aus wie seine Rose, die er für einzigartig hielt. Er ist verzweifelt und bricht in Tränen aus.
Und dann taucht der Fuchs auf. Es ist kein Zufall, dass er genau dort, bei den Rosen, erscheint. Der Fuchs hat etwas mit den Rosen gemein – insbesondere mit der Rose des Kleinen Prinzen. Sie sind miteinander verbunden durch ihre feurige Farbe, ihre weiblichen Züge und ihre Persönlichkeit. Außer ihnen und der armseligen Blume mit den drei Blütenblättern sind alle anderen Figuren der Geschichte Männer oder maskuline Wesen. Das Leben und Denken der Rose und des Fuchses repräsentieren die Notwendigkeit, sich zugehörig zu fühlen und den Wunsch, gezähmt zu werden. Erst dadurch wird ein Wesen vollständig.
Als der Kleine Prinz den Fuchs trifft, hört er nur einen Gruß, sieht aber niemanden. Er dreht sich um, kann den Fuchs aber immer noch nicht wahrnehmen, sondern erst dann, als die Stimme ihm sagt: „Ich bin da, (…) unter dem Apfelbaum“. Das deutet darauf hin, dass die Begegnung mit dem Fuchs das Leben und die Denkweise des Kleinen Prinzen umkrempeln, verändern („bekehren“) und ihn zur Vollkommenheit – dem Apfelbaum – führen wird.
Denn der Fuchs macht ihm den Wert seiner Rose und die Art und Weise, wie er sich mit ihr verbinden kann, deutlich. Kein Wunder, dass er dies vermag. Denn er repräsentiert die Rose. Er übersetzt ihren Duft in Worte.
Der Fuchs kündigt an, ein Geheimnis zu „verschenken“. Er rät dem Kleinen Prinzen, zu den fünftausend Rosen im Garten zurückzugehen. Die Zahl Fünftausend lässt sich auf die Zahl Fünf, das magische Pentagramm, zurückführen, das Symbol der göttlichen Ordnung und der Wiedergeburt. Auch die Proportionen und die Struktur der Rose sind mit der Zahl Fünf verbunden.
Die Worte, mit denen sich der Kleine Prinzen über die fünftausend Rosen äußert, wirken auf den ersten Blick verletzend. Er hat sich noch nicht von seiner Enttäuschung erholt, dass der Wert seiner „einmaligen“ Rose von dem Garten der vielen Rosen (scheinbar) in Frage gestellt wird. Doch bei näherer Betrachtung ist seine Rede nicht egoistisch, ausgrenzend oder herabwürdigend, sondern ein Lob der einen Ewigen Rose. Eine statt viele, eine innere statt eine äußere: die „Rose des Herzens“. Wenn er sich mit ihr vereinen kann, werden für ihn alle Rosen eine sein – und er wird für sie alle verantwortlich sein.
Nun empfängt der Kleine Prinz vom Fuchs die berühmten Worte der Einweihung:
„Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar. […]
Die Zeit, die du für deine Rose verloren hast, sie macht deine Rose so wichtig. […]
Du bist für deine Rose verantwortlich …“
Hier beginnt die religio, genauer gesagt: die Phase des Glaubens.
Glaube
Nach der Begegnung mit dem Fuchs trifft der Kleine Prinz auf zwei Menschen, deren Beruf und Weltanschauung denen auf den Asteroiden ähnelt.
Der erste ist ein Weichensteller der Eisenbahn. Seit der Begegnung mit dem Fuchs haben sich die Perspektive und das Leben des Protagonisten verändert – es verläuft auf neuen „Schienen“. Das Rauschen und „Donnergrollen“ der Züge, die von einem Bahnsteig zum anderen umgeleitet werden, sind das komplette Gegenteil der Leere und gemächlichen Stille der Wüste. Das Ziel der Züge ist für den Weichensteller ohne Bedeutung. Für ihn liegen Sinn und Macht in seiner Fähigkeit, Züge zu verschiedenen Bahnsteigen zu schicken. Seine mechanische Aufgabe ähnelt der des Laternenanzünders auf dem Asteroiden. Der Weichensteller spiegelt aber auch den König wider, denn er teilt ebenfalls eine Perle der Weisheit mit, und zwar in Bezug auf die Fahrgäste: „Man ist nie zufrieden dort, wo man ist.“ Diese Worte müssen den Kleinen Prinzen zutiefst berühren, aber er zeigt keine Reaktion, wie auch sonst nicht in der Geschichte.
Die andere Figur ist ein Händler, der Pillen verkauft, die den Durst stillen können. Mit einer Pille kann eine Stunde „gespart“ werden, die sonst mit Trinken verbracht worden wäre. Der Verkäufer dieses scheinbar nützlichen Produkts ähnelt dem Geschäftsmann und dem Wissenschaftler der Asteroiden.
So werden die letzten beiden scheinbar nützlichen Charaktere der Asteroiden in diesen beiden irdischen Personen noch einmal wachgerufen. Die dritte Person, die der Kleine Prinz auf der Erde trifft, ist der Pilot, der in der Wüste, weit weg von allen anderen, versucht, den Motor seines Flugzeugs zu reparieren. Er ist jemand, der die Zeit und Freundschaft des Protagonisten verdient. Das beweist die Tatsache, dass, als der Kleine Prinz den Piloten bittet, ihm ein Schaf zu zeichnen, der Mann es versucht, aber erst beim vierten Versuch den Wunsch des Protagonisten erfüllen kann, indem er etwas Unkonventionelles tut: er zeichnet eine Schachtel, in der sich das Schaf befindet. Dies war eine Lektion, die der Pilot lernen musste: Als typischer Erwachsener hatte er versucht, sich der Aufgabe auf praktische Weise zu entledigen, aber durch den Kleinen Prinzen musste er lernen, dass in den Dingen ein Geheimnis steckt. Er musste die Kluft zwischen dem Erwachsenen-Ich und dem Kinder-Ich überbrücken.
Die Freundschaft zwischen dem Protagonisten und dem Piloten vertieft sich, sie lernen mehr und mehr voneinander und übereinander. Sie verkörpern zwei getrennte Welten, aber ihre Wurzeln sind die gleichen. Dieses gemeinsame Fundament kommt immer mehr zum Vorschein und führt – abgesehen von ein paar Rücksichtslosigkeiten, Meinungsverschiedenheiten und Ärgernissen – zu gegenseitigem Verständnis und dem Gefühl der Zusammengehörigkeit.
Ihr Verhalten, als dem Piloten der Wasservorrat ausgeht, ist das beste Beispiel dafür, dass sie aus unterschiedlichen Welten kommen. In der Angst zu sterben, gibt der Pilot dem Kleinen Prinzen, den die körperlichen Bedürfnisse Essen und Trinken offensichtlich nicht besonders bewegen (wohl aber das Schlafen), eine schroffe Antwort. Der Protagonist versetzt sich in den Ernst der Lage für den Piloten, behauptet, ebenfalls durstig zu sein und schlägt vor, einen Brunnen zu suchen. Die Idee erscheint dem Piloten absurd, aber da er keinen besseren Plan hat, machen sie sich auf den Weg. Nach stundenlangem Umherirren bricht die Nacht herein. Die beiden setzen sich unter dem Sternenhimmel zur Ruhe. Als der Pilot fragt, ob der Kleine Prinz wirklich durstig sei, sagt der kleine Mann: „Wasser kann auch gut sein für das Herz …“
Der Pilot versteht ihn nicht. Aber es zeigt sich, dass es zwei Arten des Durstes gibt: einen des Körpers und einen der Seele. Die beiden, der Kleine Prinz und der Pilot, sind auf unterschiedliche Weise durstig: Sie brauchen einen Brunnen, der beides stillen kann. Sie sind erschöpft. Bevor der Kleine Prinz einschläft, verkündet er zwei wichtige Gedanken:
„Die Sterne sind schön, weil sie an eine Blume erinnern, die man nicht sieht …“.
„Es macht die Wüste schön, (…) dass sie irgendwo einen Brunnen birgt.“
Die zweite Aussage berührt den Piloten und er drückt seine Zustimmung aus. Als er das Gesicht des schlafenden Prinzen – den Spiegel seiner Seele – zärtlich betrachtet, begreift er: „Das Eigentliche ist unsichtbar…“
Er erkennt und begreift, dass das, was auf einer höheren Ebene existiert – was nicht von dieser Welt kommt – unsichtbar ist, dass es aber durch das Sichtbare hindurch scheint und es schöner macht. Als er mit dem Kleinen Prinzen, der in seinen Armen schläft, weitergeht, findet er in der Morgendämmerung den Brunnen – dann, wenn das Licht geboren wird. Für den Piloten beginnt nun die Phase des Glaubens, für den Kleinen Prinzen die der Hoffnung.
(wird fortgesetzt in Teil 4)