Der Heilige Gral – Teil 1

Schon als Jugendlicher war ich fasziniert von den Geschichten rund um den Heiligen Gral, von den Rittern der Tafelrunde, vom Zauberer Merlin, den schönen Jungfrauen und der dunklen Fee Morgain. Doch was hat der Gral mit all den abenteuerlichen Sagengestalten zu tun? Warum taucht er ausgerechnet im kunterbunten Umkreis der Feen und Artusritter auf? Wieso zeigt er sich erst im kontrastreichen Spiel mit einer heidnisch anmutenden Zauberwelt und nicht etwa im abgeschlossenen Geistesbezirk eines mönchischen Klosters?

Der Heilige Gral – Teil 1

„Vor allem, daß man schone

Der Wildniß …“

(aus Friedrich Hölderlins Hymne An die Madonna)

Der Gral – Kelch Christi

Bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts hatte kaum jemand vom Gral gehört, doch schon hundert Jahre später war er europaweit in aller Munde. Wie aus dem Nichts tauchte der Gral eruptiv im Bewusstsein der Zeit auf und ergriff die Menschen in ihrem Innersten. Mal wurde er als Kelch beschrieben, mal als flache, tellerähnliche Schale, dann wieder als mysteriöser Stein oder als kostbares Juwel. Zum ersten Mal ist vom Graal um das Jahr 1190 in Chretien de Troyes Le Conte du Graal zu lesen. Etwa um die gleiche Zeit verfasste Robert de Boron seinen Roman Estoire dou Graal. Während bei Chretien der unmittelbare Bezug zum christlichen Erlöser noch fehlte, knüpfte Robert eine nahtlose Verbindung vom Gral zum Kelch Christi, dem sagenumwobenen Gefäß des letzten Abendmahls. Joseph von Arimathia soll bei der Kreuzigung die Blutstropfen des sterbenden Jesus darin aufgefangen haben, ehe er mit dem Gral nach Britannien übersiedelte und in Glastonbury die erste Kirche gründete. So kommt das Christentum in Berührung mit der keltischen Welt und nähert sich einer noch ursprünglicheren Gralsschicht an.

Der Kessel der Kelten – eine ursprünglichere Magie

Im ältesten Gralstext der gesamten Artusliteratur, dem walisischen Gedicht Preiddeu Annwfn[i] bricht König Artus mit seinen Gefährten auf eine gefährliche Nachtmeerfahrt auf, um aus der Unterwelt einen magischen Kessel zu rauben. Die dichterische Inspiration der Barden entspringt diesem Kessel, der – wie es heißt – durch den Atem von neun Jungfrauen entzündet wird. Auch der alte irische Gott Dagda ist im Besitz eines magischen Kessels, ebenso wie der walisische Riese Bran. Es sind wunderliche Gefäße, die wie ein nie versiegendes Füllhorn für alle Menschen Speisen und Getränke spenden können. Im Kessel können sogar die Toten zu neuem Leben erweckt werden. All diese herrlichen Attribute der Nährung und Verwandlung wurden bereits dem keltischen Cauldron zugeschrieben, lange bevor der Gral als christlich geprägtes Symbol etabliert war. Doch warum wurde später von den Dichtern die Brücke vom keltischen Seelenbild zum christlichen Heilssymbol gespannt? Was verbirgt sich hinter diesem Versuch, Heidnisches mit Christlichem zusammenzuweben?

Das Nachtgesicht des Menschen wird offenbar

In allen Geschichten, in denen ausdrücklich vom Gral die Rede ist, erscheint er stets in einem sonderbaren Doppelantlitz. Wie ein Januskopf mit einem offiziellen Tagesgesicht und einem inoffiziellen Nachtgesicht. Besonders eindrücklich tritt diese Paradoxie im Prosa-Lancelot zutage. Unverkennbar ist hier eine stark vom Gedankengut der Zisterzienser geprägte Gralsvorstellung in ihrer moralischen Überlegenheit. Das Gralsheil ist abhängig vom Triebverzicht und somit gebunden an sexuelle Reinheit. Nur dem keuschen, sündefreien Leben winkt Erlösung und Aufnahme in den Weihebezirk. Doch diese reine Gralssterilität bleibt nur im Schein, auf Kosten des zugrunde gehenden Artusreiches, bestehen. Innerhalb der irdischen Sphäre kann die Kraft des Grals auf diese Weise nicht wirksam werden.

            Lancelot scheitert

Und so steht hier denn auch nicht der reine Gralsritter Galahad im Mittelpunkt der Erzählung, sondern sein umherirrender Vater Lancelot, der trotz allem Edelmut mehrfach dem Wahnsinn und der Raserei verfällt. Obendrein wird Lancelot als Anstifter zum Ehebruch entlarvt, da er sich auf eine heimliche Affäre mit Guinevere, der Gattin von König Artus, eingelassen hatte. Lancelot ringt über Jahre vergeblich darum, den Gral zu schauen, doch immer wird er ihm schmerzlich verweigert. Zuletzt verzichtet er auf den Gralsweg und bekennt sich aus vollem Herzen zum Minneweg. Guinevere ist sein Leitstern und seine Göttin, die selbst den Gral überstrahlt.

            Anfortas leidet

Ein ähnlicher Konflikt tritt in der Gestalt des alten Fischerkönigs Anfortas zutage, der auf wilden Abenteuern um die Liebe einer schönen Frau geworben hatte, die mit einem anderen Mann liiert war. Als Gralskönig wäre er dazu verpflichtet gewesen, sich an das Keuschheitsgelübde zu halten, welches ihm alle amourösen Eskapaden verbot. Doch Anfortas, ganz Mensch, scheiterte an dem strengen Gralsgesetz. Wie zur sinnbildlichen Strafe wurde daraufhin sein Hoden im Kampf von einem vergifteten Heidenspeer durchbohrt. Seitdem war er gelähmt und litt schreckliche Schmerzen, bis sein Nachfolger kommen und ihn durch „das Fragen“ erlösen würde. Doch Parzival ließ auf sich warten und so siechte der alte Gralskönig qualvoll vor sich hin. Jeden Tag durfte Anfortas zwar den Gral schauen, wodurch sein Tod verhindert wurde, seine Wunde jedoch wurde nicht geheilt. So blieb er am Leben, aber als ein Leidender und Gelähmter. Dem Leser drängt sich unweigerlich die Frage auf, welche Wunder der Gral hier eigentlich noch wirkt. Ist er nur noch leeres Zeichen ohne Kraft? Oder liegt das Gralsgeheimnis gerade in der Offenbarung des verwundeten Menschen, der seine Ganzheit verloren hat und händeringend nach dem verlorenen Teil Ausschau hält?

            Sigune verzweifelt

Schlimmer noch erging es Sigune, der Cousine Parzivals, die bis zur Selbstzerstörung um ihren verstorbenen Geliebten Schionatulander trauerte. Auch sie wurde regelmäßig durch Cundrie mit der Gralsspeise versorgt, doch schien die Heilkraft des Grals im Angesicht des menschlichen Leidens nun völlig erloschen zu sein. Sigune fand weder Trost, Freude noch Aufrichtung durch den Gral. Nichts konnte ihre Trauer stillen, nichts ihre Treue zu dem Toten brechen. Völlig von Sinnen begann sie, ihre Zöpfe auszureißen, bis sie keine Haare mehr auf ihrem Kopf trug. Ihr Körper war von den langen Kasteiungen gänzlich ausgezehrt. Parzival erkannte die blutleere Cousine kaum wieder, so erschreckend zeigte sich bereits die Verwesung. Schließlich ließ sich Sigune in eine enge Klause mit nur einem einzigen kleinen Ausguck einmauern. Darin begrub sie den Leichnam ihres geliebten Freundes und kniete täglich betend über seinem Grab, bis sie selbst verstarb.

            Ein tragischer Weg

Obwohl es Parzival noch gelungen war den leidenden Anfortas durch die Frage zu erlösen, musste sein Gralskönigtum mit dem Sigune-Stachel leben. Diese Vergeblichkeit spitzt sich in Wolfram von Eschenbachs Spätwerk dramatisch zu. Die Geschichte von Sigune und Schionatulander, über deren Hintergründe im Parzival geschwiegen wurde, wird nun im Titurel-Fragment bruchstückhaft erzählt (das nach dem Stammvater der Gralssippe benannt ist). Sigune und Schionatulander hatten sich in den Wald zurückgezogen, wo sie durch das Bellen eines Jagdhundes aufgeschreckt wurden. Der Hund trug den Namen Gardeviaz, was so viel heißt wie: „Hüte die Fährte“.[ii] Schionatulander fing den Bracken ein und brachte ihn zu Sigune. Als sie den Hund festband, wurde sie des wundersamen Brackenseils gewahr, welches er mit sich schleifte. Es bestand aus kostbaren Seidenbändern, auf denen mit goldenen Nägeln Edelsteine befestigt waren. Die Edelsteine bildeten Buchstaben, die sich zu einem Text formierten. Der Text erzählte eine Liebesgeschichte, die sich auf der 20 Meter langen Hundeleine wie auf einer Schriftrolle entspann. Sigune begann sofort, mit Begeisterung zu lesen und war davon wie in einen magischen Bann gezogen. Mitten in der Erzählung riss sich der Hund mit einem Ruck los und entkam ins Dickicht des Waldes. Sigune, die noch versucht hatte, die Leine festzuhalten, schnitten die scharfen Kanten der Edelsteine Wunden in die Haut. Schionatulander eilte überstürzt los und folgte dem Hund in die Wildnis. Nach einer Weile kehrte er jedoch erfolglos zurück, am ganzen Leib von Dornen verwundet. Doch nichts war Sigune wichtiger, als die Aventiure vom unbekannten Liebespaar bis zu ihrem Ende zu lesen, und so schickte sie ihren Geliebten erneut los. Geradezu flehentlich bat sie ihn, er möge ihr ihren sehnlichsten Wunsch erfüllen und die Leine zurückerobern. Wenn er sich aufopferungsvoll für das Brackenseil einsetzen würde, dann versprach sie ihm als Lohn ihre aufrichtige Liebe. Und so brach Schionatulander erneut in die Wildnis auf, um Sigunes Herz zu erobern. Doch er verstrickte sich unentwirrbar im Labyrinth des Waldes und fand nie mehr lebend zu ihr zurück.

Schionatulander war es nicht gelungen, die Fährte zu hüten. Zu weit hatte er sich von seinen natürlichen Instinkten entfremdet. So konnte Sigune die Liebesgeschichte nicht weiterlesen. Und Wolfram, der Dichter, konnte sie nicht weiterschreiben. Seine Erzählung bricht genauso jäh ab wie die Hundeleine. Doch wieso rang der Dichter mit dem Verstummen? Welche Ahnung war so gewaltig, dass es ihm die Sprache verschlug? Und was an dem Brackenseil war so lebenswichtig, dass Sigune völlig irrational handelte und alles darüber vergaß? Die Hundeleine war Sigune kostbarer als der Gral, ja, sie lag ihr so sehr am Herzen, als wäre sie selbst der neue Gral.

Die Sehnsucht nach dem Transzendenten … und die irdische Liebe

In all den kurz skizzierten Bildern bekommt die christlich geprägte Vorstellung vom Gral tiefe Risse. Das Gefäß des Heils droht zu zerspringen und wird im Subtext radikal in Frage gestellt. Für viele Protagonisten aus dem Artuskreis ist der Gral nicht mehr das höchste Ziel. Die himmlische Sphäre ist ihnen nicht mehr der einzige Sehnsuchtsort. Und so fragen die Dichter, verborgen im Unterstrom all der Gralsabenteuer: Wieso umarmt das göttliche Herz nicht die ganze Schöpfung? Wieso sieht und liebt es nicht die Erde? Wieso ist das Reich der Sinne ein vom Gralsheil ausgeschiedener Bezirk? Wieso wendet sich der Gralssucher nicht genauso hingebungsvoll der Naturwildnis zu wie dem Himmel? Wieso gibt es neben dem Gott nicht auch eine gleichberechtigte Göttin? All diese existenziellen Fragen wühlen die Gralsdichter auf, und so wird ihnen die schmerzliche Gralsdämmerung zur stillen Hoffnung eines neuen Aufgangs. Sie hoffen auf ein Heilsgefäß der Gegensatzvereinigung, von dem nichts mehr ausgeschlossen ist.

(wird fortgesetzt in Teil 2)

 


[i] Caitlin & John Matthews, King Arthur’s raid on the underworld, The oldest Grail Quest, Gothic Image Publications, Glastonbury 2008

[ii] Wolfram von Eschenbach, Titurel, Vers 148

 

 

 

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Datum: August 1, 2021
Autor: Martin Spura (Germany)
Foto: Free_Photos auf Pixabay CCO

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