Die Wahrnehmung und Beschreibung eines göttlichen Dreiklangs, einer Dreieinheit, zieht sich durch viele verschiedene religiöse Lehren, unabhängig von Kulturkreis und zeitlicher Epoche. Auch das vorliegende Heft nennt einige Beispiele einer solchen Dreieinheit des Göttlichen. Doch wie ist es im Beispiel der bekannten Lehre der beiden allgegenwärtigen Bewegungen des chinesischen Yin-Yang?
Yin-Yang
Wenn wir uns das bekannte Symbol des Yin-Yang, das Taijitu, vor Augen führen, so scheint dieses Symbol zunächst von einer Zweiheit geprägt zu sein, einer immerwährenden Polarität, die auch als Dualität oder Dialektik aufgefasst werden könnte. Das Yin steht dabei für die absteigende, zusammenziehende, schließende, passive Bewegung und wird in schwarz dargestellt. Das Yang steht für die aufsteigende, ausdehnende, öffnende, aktive Bewegung und wird in weiß dargestellt. Diese beiden Prinzipien von Bewegung können wir als Menschen in unserem täglichen Leben und in der Natur zweifelsohne beobachten und wiedererkennen. So ist beispielsweise beim Blick über das Meer ein aufsteigender Wellenkamm Ausdruck des Yang, eine einbrechende Welle, die auf den Strand aufläuft und zusammenschlägt, symbolisiert Yin. Doch wenn wir das Symbol des Taijitu tiefer betrachten, so erkennen wir, dass die Polarität der beiden Kräfte Yin-Yang äußerst subtil von einem Dritten getragen wird, von einer ewigen Harmonie, einer heiligen Ordnung, dem Dao, welche die Polarität der Kräfte des Yin-Yang in einer Dreieinheit trägt.
Ein Betrachter, der die Bewegungen des Yin-Yang in der Natur ohne Bewusstsein für das Dao betrachtet, erfährt einen ewigen Streit einer kämpfenden Dualität im Außen und im Innern und verliert sich in diesem Streit. Er kann dazu verleitet werden, diesem erfahrenen Streit entfliehen zu wollen. Doch das Fliehen-wollen ist in sich selbst die Bewegung des Streites. Wenn sich jedoch die Natur des Dao im Betrachter zu offenbaren beginnt, vermag er im Yin-Yang die Widerspiegelung einer heiligen Polarität wahrzunehmen, die in Dao eine ewige Dreieinheit bildet.
Dao
Doch was ist das Dao?
Die gleiche Frage stellte jemand dem chinesischen Daoisten Liu Yiming (1734-1821)[1]. Er sagte darauf:
[…] Wenn du es betrachten willst, so siehst du es nicht. Wenn du ihm zuhören willst, so hörst du es nicht. Wenn du es fassen willst, so kannst du es nicht. Es umfasst und hält eingehüllt die Himmel und die Erde und gibt Leben und nährt die zehntausend Dinge. Es ist so umfassend, dass nichts außerhalb von ihm ist, so klein, dass nichts innerhalb von ihm ist. […] Es hat keinen Namen, aber wenn man gezwungen ist, es zu benennen, wird es das Dao genannt. Wenn man es festlegen will, liegt man falsch, und wenn es diskutiert wird, so verliert man es. Es hat weder Körper noch Bild. Es ist nicht Form noch Leere, es ist weder Sein noch Nicht-Sein. Wenn man ihm die Bilder der Formen oder der Leere zuordnet, von Sein und Nicht-Sein, ist es nicht das Dao.
In welchem Zustand hinterlässt uns diese Antwort?
Wir lernen, dass Dao sich allem Wissen und aller Vorstellung entzieht. Wir lernen, dass das Denken Dao nicht erfassen kann und der Wille es nicht berühren kann. Und doch durchwirkt es und ist der Grund der 10.000 Dinge. Es ist daher auch am Grund des Menschen.
Nun könnte man sagen, all das sind schöne Konzepte, schöne Ideen, doch was hat das ganz praktisch mit mir zu tun? Ist darin eine Wahrheit, die der Mensch erfahren kann? Und wenn ja, was bedeutet sie?
Reines Gewahrsein
Um Dao am Grund der Bewegungen des Yin-Yang wahrzunehmen, benötigt es ein reines Schauen, ein reines Gewahrsein, das frei von dem sich zusammenziehenden Yin schaut, und frei von dem sich ausdehnenden Yang.
In der Konzentration auf ein Bild, auf ein Mantra, auf ein Ideal oder auf eine Methode zum Beispiel sind wir gebunden im sich zusammenziehenden Yin. Im Projizieren von Vorstellungen und der Spekulation, ist der menschliche Geist hingegen gebunden in der Bewegung des sich ausdehnenden Yang. All das ist nicht Dao.
Solange der menschliche Geist also in der Aktivität des Yin-Yang gebunden ist, kann er Dao nicht wahrnehmen. Wenn er aber sowohl die Bewegungen des Yin als auch die Bewegungen des Yang im Geiste urteilslos wahrnimmt, so steht er weder im Yin noch im Yang. Er ist selbst unbewegt und sinkt daher in dieser Ruhe zu seinem Grund, dem Dao.
Ist es möglich, dass alle Bewegung, innerlich und äußerlich, so in reines Gewahrsein münden? Lassen Sie uns diese Frage gemeinsam stellen. Ist es möglich, dass da ein unbewegtes Gewahrsein aller Bewegungen des Denkens, Verlangens und des Wollens ist?
Ein „ja“, „nein“, „vielleicht“ oder „glaube ich nicht“ wird es nicht tun.
Ein Geist, der fragt, aus dem Grund der Tatsache des Nicht-Wissens heraus, hat keine Richtung. Denn er weiß ja nicht wohin. Er ist also unbewegt wie Dao und gleichzeitig empfänglich. In dieser Unbewegtheit trägt die Frage Frucht, in Dao.
Das reine Gewahrsein des inneren Zustandes der Orientierungslosigkeit, des „Nicht Wissen wohin“, ist der Beginn des Endes der Orientierungslosigkeit. Das Ende von Orientierungslosigkeit liegt also nicht außerhalb von Orientierungslosigkeit. Es liegt im reinen Gewahrsein des inneren Zustandes von Orientierungslosigkeit.
So will also die gesamte Bewegung des menschlichen Geistes wahrgenommen werden. Alle Bewegung des Versuchens, des Strebens, der Verzweiflung, des Ausrichtens, der Spekulation, aus der Hoffnungslosigkeit, aus der Orientierungslosigkeit, alle Bewegung, die ohne Dao verloren ist in der Polarität des Yin-Yang, will in diesem urteilslosen Schauen in Gleichheit wahrgenommen werden.
Der Dreiklang
Wenn es tatsächlich so wahrgenommen wird, so beginnt durch den menschlichen Geist hin immer tiefer und tiefer der unhörbare Klang des Dao zu dringen. Dann erklingt im Menschen eine sich entfaltende bewusste Dreieinheit der göttlichen Bewegung, in welcher die alte, dissonante Bewegung des Yin-Yang in Dao endet und verwandelt wird. Dao kann dann mit, im und durch den dazu erwachten Menschen seine heilige Ordnung in aller Bewegung entfalten. Dies ist ein schöpferisches Tun durch Nicht-Tun, das vor allem innerlich ist. Es wird im Daoismus auch Wu Wei genannt.
Wenn wir das in Stille begonnen haben zu umfangen, so kann sich Dao auch in der Bewegung der Atmung offenbaren. Denn reines Gewahrsein umfasst jeden Aspekt des menschlichen Seins, auch die Atmung. Und so mündet auch die natürliche Atmung in stilles Gewahrsein. Das aktive Prinzip Yang mit den Wirkungen „aufsteigend, ausdehnend, öffnend“ entspricht in der natürlichen Atmung dem Einatmen. Yin mit den Qualitäten „absteigend, zusammenziehend, schließend“ entspricht dem Ausatmen. Wenn der natürliche Fluss der zweifachen Atmung in reines Gewahrsein mündet, so zeigt sich auch darin ein Dreiklang – die Dreieinheit in Dao; der eigentliche Dreiklang der Atmung.
So erkennen wir, dass keine Atemtechnik, keine Absicht, keine Kontrolle, keine Methode, je den Dreiklang der Atmung hervorbringen kann. Denn das Dao ist am Anfang. Es selbst nährt die 10.000 Dinge. Aus ihm selbst geht der natürliche Atem hervor. Das Dao herrscht über alles. Es lässt sich nicht beherrschen, es lässt sich nicht fassen. Und doch ist es da; jenseits des Inhaltlichen, jenseits des Ideals, jenseits der Absicht, Jenseits der Bewegungen des Yin-Yang.
Jede Absicht, sich auf den Atem richten zu wollen, um etwas Vermeintliches zu erreichen, will gleichfalls im reinen Gewahrsein geschaut werden, damit es in dieser streitlosen Stille in Berührung mit Dao enden kann.
Wenn wir das für uns selbst ergründen, so sehen wir, dass es nicht nur der physische Körper ist, der aus Dao den rechten Fluss des Atems erhält, sondern der gesamte Mensch, in seiner vollen ganzheitlichen Form erhält seinen Atem aus Dao.
Der Dreiklang der Atmung in Dao resoniert mit dem Dreiklang des sogenannten Pranava, oder „Om“. Das Om, wie es in den indischen Upanishaden beschrieben wird, ist der höhere Dreiklang des Menschen, bestehend aus Atman-Buddhi-Manas [2].
Diese Dreieinheit des erwachenden, innerlichen Menschen umfasst Manas, welches mit Bewusstsein korrespondiert, Buddhi, welches mit reinem Gewahrsein korrespondiert, und Atman, welches mit der reinen, schöpferischen Geistkraft korrespondiert.
Die neue Geburt
Der beginnende Dreiklang in Dao, dieser Einklang, ist also gleichzeitig ein beginnender Einklang in allen Dimensionen, in denen der Mensch seinem Wesen nach existiert. Es ist der Beginn eines Erblühens in mündiger Freiheit, dem ganzen Wesenskern nach. In der Stille des liebenden Gewahrseins von Herz und Haupt können wir für uns selbst herausfinden, ob in all dem Wahrheit ist oder nicht.
Und so bleibt die Frage: Was ist die Stille des reinen Gewahrseins? Der Philosoph Jiddu Krishnamurti gibt darauf eine interessante Antwort in einem seiner Gespräche mit dem Quantenphysiker David Bohm, indem er zunächst die Position eines Suchenden einnimmt[3]:
Krishnamurti: Eine Million Jahre an Erfahrung haben ein gewisses Vermögen in mir hervorgebracht. Und ich stelle fest, am Ende des Ganzen, ist da keine Beziehung zwischen mir und Wahrheit. Richtig? […] Jene sagen also, “sei still”. Also praktiziere ich Stille. Ich habe das für tausend Jahre getan und es hat mich nirgendwohin geführt… Es gibt also nur eine Sache, nämlich zu entdecken, dass alles, was ich getan habe, nutzlos ist. Es ist alles Asche. Sehen Sie, das führt einen nicht in eine Depression. Das ist die Schönheit des Ganzen. Ich denke, es ist wie der Phönix.
Bohm: Sich erheben aus der Asche.
Krishnamurti: Geboren aus der Asche. […] Etwas vollkommen Neues wird geboren.
[1] Liu Yiming, Xiuzhen biannan [Gespräche über das Hervorbringen der Realität], übersetzt ins Deutsche durch den Autor auf der Basis der englischen Übersetzung von Fabrizio Pregadio.
[2] Helena Petrovna Blavatsky, Band XII, Wheaton, IL, Theosophical Publishing House, 1980.
[3] Dialog 5 zwischen Jiddu Krishnamurti und David Bohm, 1980, Ojai, Kalifornien, USA, aus der Dialogreihe „Das Enden der Zeit“.