Viele Menschen in der modernen westlichen Kultur streben nach Erfüllung im Leben – Erfüllung auf verschiedenen Ebenen durch eine Zunahme an Wissen, Vergnügen, Fitness, Ansehen, Macht, Besitz oder Erfolg. Das führt dazu, dass immer etwas zu tun ist. Ein schier endloser Strom an Aktivitäten, Abhängigkeiten und Ängsten ist die Folge.
In der modernen Sprache gibt es dafür den Begriff FOMO – Fear of missing out (deutsch: Angst, etwas zu verpassen, Akronym FOMO). Das Herz-Sutra, ein buddhistischer Text, scheint in auffälligem Gegensatz zu diesem Phänomen zu stehen.
Der Text gilt als eine der tiefgründigsten und prägnantesten Lektionen im buddhistischen Kanon und ist auch als Prajnaparamita Hridaya Sutra auf Sanskrit bekannt, was soviel wie „Das Herz der vollkommen Weisheit“ bedeutet. Er gehört zum Weisheitsschatz der Menschheit. Das Sutra ist geschrieben als eine Art der Unterweisung einer Person namens Shariputra durch den Bodhisattva. Das Herz-Sutra wird in der Regel in buddhistischen Gemeinschaften als Form der Meditation oder spirituellen Praxis rezitiert oder gesungen. Es wird oft von einer Kommentierung oder Erklärung begleitet, da der Text in einer sehr tiefgreifenden und symbolischen Sprache geschrieben ist, die ohne Anleitung schwer zu verstehen ist.
Das Herz-Sutra ist Teil der größeren Prajnaparamita-Sutras, einer Sammlung buddhistischer Texte, die sich auf das Konzept der „Leerheit“ konzentrieren. Im Buddhismus bezieht sich Leerheit darauf, dass alle Dinge leer und frei von immanenter Existenz sind. Im Herz-Sutra wird gesagt, dass Form Leerheit und Leerheit Form ist, was unter anderem bedeutet, dass alles, was wir als fest und substantiell erkennen, tatsächlich ein Produkt unserer eigenen Wahrnehmungen und Interpretationen ist. Das Konzept der Leerheit beinhaltet auch, dass alle Dinge voneinander abhängig und miteinander verbunden sind und dass es keine Trennung zwischen dem Selbst und der Welt um uns herum gibt. Das Herz-Sutra ist eine prägnante und kraftvolle Zusammenfassung dieser Idee. Es „ver-rückt“ in radikaler Weise unser modernes Weltbild und entzieht uns gleichsam den Boden unter den Füßen. Man fühlt sich wie auf einem „Berg“, auf dem die Form stirbt. Jegliches Streben wird dabei in Frage gestellt.
Die Lehre des Buddhismus besagt, dass Anhaftung die Ursache für alles Leiden ist. Wenn wir die prinzipielle Leerheit aller Form erkennen können, dann verschwindet zu einem Teil auch die Anhaftung an die manifestierten Dinge, also die Identifikation mit dem Formaspekt, und wir sind ein wenig von der Illusion der Trennung befreit. Das Erkennen der Leerheit und die Anhaftung an die Dinge sind wie zwei gegensätzliche Seiten der einen Medaille unserer Existenz.
Das Herz-Sutra erklärt außerdem das Konzept der fünf Skandhas, der fünf Aspekte unseres Wesens, die unser Selbst-Konzept ausmachen: Form, Empfindung, Wahrnehmung, Willensimpuls und Bewusstsein. Im Text wird ausgedrückt, dass auch diese fünf Skandhas leer und frei von innewohnender Existenz sind und dass unser Bewusstsein von uns selbst, unsere Identität, letztendlich eine Illusion ist.
Man kann das Herz-Sutra auch als eine Reihe von Koans verstehen. Koans sind Rätsel, Paradoxa oder Geschichten aus der Zen-Tradition, die dazu dienen, das Herz und die Intuition zu schulen. Sie sind oft schwer zu interpretieren und können den Verstand in eine Sackgasse führen, was dazu führt, sich auf die Intuition des Herzens zu verlassen, um eine Antwort zu finden.
Es gibt keine „richtige“ Interpretation und auch keine „richtige“ Lösung. Der Satz aus dem Herz-Sutra „Form ist Leere und Leere ist Form“ enthält zwar keinen logischen Inhalt für das Denken – er kann aber energetisch entschlüsselt werden. Dieses „Ent-rätseln“ zeigt sich dann als eine Art des spontanen und unerklärlichen Verstehens.
Das Ziel der Koans ist es, den Verstand zu leeren und Raum für Intuition zu schaffen. Indem das Bewusstsein still wird, kann das Herz seine Arbeit tun und tiefere Einsichten frei legen. Durch das Überwinden von Denkmustern und das Loslassen der normalen Bewusstseins-Ankerpunkte können wir Offenheit erlangen und die Wahrheit, d. h. die Essenz der Dinge sehen.
Ein Werk, das ebenso wie das Herz-Sutra die Bedeutung der Leerheit und der innerlichen Stille betont, ist das Buch Die Stimme der Stille von Helena Petrovna Blavatsky. Sie stellt darin die Lehre des Herzens der Lehre des Auges gegenüber. An einer Stelle im Buch heißt es:
Suche nach den Pfaden. Aber, o Lanu,
sei reinen Herzens, ehe du deine Reise beginnst.Lerne noch vor deinem ersten Schritt,
das Wirkliche vom Falschen,das immer Flüchtige vom ewig Dauernden zu unterscheiden.
Lerne vor allem, Kopfwissen von der Seelenweisheit,
die „Augen-“ von der „Herzenslehre“ zu trennen.[1]
Dieses Zitat betont die Einschränkungen des menschlichen Verstandes und der Wahrnehmung. Die Lehre des Auges führt uns zu den begrenzten Erfahrungen der Welt, die nur auf das sichtbare, materielle Universum beschränkt sind. Die Lehre des Herzens jedoch öffnet uns für die höhere Wahrheit und die spirituelle Realität, die über das Sichtbare hinausgeht.
Wahres Verstehen deutet darauf hin, die hinter den sichtbaren Phänomenen liegenden Ursachen zu erkennen (engl. understand = „Unter-Stehen“, d. h. erkennen, was „darunter“ steht). Das intuitive Verstehen ermöglicht uns, in das Innerste des Inneren hineinzuhorchen und das Göttliche darin zu erkennen. Das geschieht allerdings nur, wenn wir die von uns gebildeten Wahrnehmungsfilter beiseite lassen können, damit eine Offenheit, eine Leerheit ensteht.
Sowohl das Herz-Sutra als auch das Buch Die Stimme der Stille sind kraftvolle und prägnante Texte, die ein tiefes Verständnis über das Wesen der Existenz und die Reise zur Erleuchtung erschließen können. Sie verwenden beide eine poetische und metaphorische Sprache, und sie vermitteln eine intensiv-spirituelle und mystische Atmosphäre, die dem Leser anbietet, tief in sich selbst einzutauchen.
Die beiden Werke betonen die Notwendigkeit, sich von festen Konzepten und Vorstellungen zu lösen und eine tiefere Ebene der Weisheit zu erreichen, die jenseits aller Dualität liegt. Durch die Praxis des Nicht-Anhaftens und die Erkenntnis der Leerheit aller Phänomene können wir uns von der Illusion der Trennung befreien und die Einheit allen Lebens erkennen. Gleichzeitig laden die beiden Texte dazu ein, das Still-Werden im eigenen Wesen zu einer täglichen Lebenspraxis zu erheben. Das höchste transzendente Bewusstsein kann sich offenbaren, wenn man es einlässt.
Das Herz der vollkommenen Weisheit (Herz-Sutra)
Avalokiteshvara Bodhisattva, in tiefste Weisheit versenkt, erkannte, dass die fünf Skandhas leer sind
und wurde damit von Leid und allem Schmerz befreit.Shariputra, Form ist nichts anderes als Leere, und Leere ist nichts anderes als Form.
Form ist identisch mit Leere,
und Leere ist identisch mit Form.Und so ist es auch mit Empfindung, Wahrnehmung, Willenskraft und Bewusstheit.
Shariputra, alle Dinge sind in Wahrheit leer.
Nichts entsteht, und nichts vergeht.
Nichts ist unrein, nichts ist rein.
Nichts vermehrt sich, und nichts vermindert sich.
Es gibt in der Leere keine Form, keine Empfindung, Wahrnehmung, Willensimpuls und kein Bewusstsein.
Keine Augen, Ohren, Nase, Zunge, Körper oder Geist.
Es gibt nichts zu sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen oder denken.
Keine Unwissenheit und auch kein Ende der Unwissenheit, kein Altern und keinen Tod, noch deren Aufhebung.
Kein Leiden, kein Entstehen, kein Vergehen und keinen Weg der Erlösung, kein Verstehen, kein Erreichen, kein Nicht-Erreichen.
Weil es nichts zu erreichen gibt, leben Bodhisattvas das, und ihr Geist ist unbeschwert und frei von Angst.
Befreit von allen Verwirrungen, allen Träumen und Vorstellungen, verwirklichen sie vollständiges Nirvana.
Alle Buddhas der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft leben Prajnaparamita und erreichen damit die höchste Erleuchtung.
Erkenne deshalb, dass Prajnaparamita das große Mantra ist, das strahlende Mantra, das unübertroffene Mantra, das höchste Mantra, das alles Leiden stillt.
Dies ist die Wahrheit, die Wahrheit ohne Fehl, deshalb sprich das Prajnaparamita Mantra:
Gate gate paragate parasamgate bodhi svaha!
(Gegangen, gegangen, über alles hinaus, über alles ganz und gar hinausgegangen, Erleuchtung, Freude!)
[1] Aus: Die Stimme der Stille, Kapitel II Die zwei Wege