Zahllose Kinder weltweit haben Hans Christian Andersens Geschichten gelesen. Sie werden ihnen meist zu einem Begleiter auf dem Lebensweg, bewusst oder unbewusst: Des Kaisers neue Kleider, Der Zinnsoldat, Die Nachtigall, Das tapfere Schneiderlein, Die freche kleine Ratte, Die kleine Meerjungfrau, Das hässliche Entlein und viele andere.
In einer Alltagssprache geschrieben, ausdrucksstark und gefühlvoll, haben sich die Erzählungen tief in Kinderseelen eingeprägt und sich als Helfer in schwierigen Transformationsprozessen zum Erwachsenwerden erwiesen.
Andersens beste Erzählungen enthalten Botschaften, die in Tiefenebenen hineinwirken und im Verlauf des Lebens zu einer Unterstützung werden, um existentielle Konflikte zu lösen. Sie sind von ähnlicher Bedeutung, wie es auch die Volksmärchen sind, man denke zum Beispiel an Schneewittchen, Aschenputtel, Der gestiefelte Kater, Rotkäppchen …
Kinder erleben, wie auch Erwachsene, mitunter Spannungen, narzisstische Frustrationen, Rivalitäten, mangelndes Selbstwertgefühl und Ähnliches. Sie können dies in der Regel nicht rational verstehen, und deshalb gehören Angst, Wut, Hass, Schuldgefühle und anderes zu den Folgen. Doch es gibt die Märchen, die solche Konflikte behandeln. Dem Kind wird ein Schlüssel gereicht, der es ihm erlaubt, die Konflikte zu meistern und mit ihnen zu leben. Auch Andersens Geschichten fügen sich ein in die Kette dieser Helfer.
Da ist zum Beispiel Das hässliche Entlein, eine Erzählung, die oft von Therapeuten verwendet wird, um zum Beispiel Adoptivkindern zu helfen, die Ablehnung erfahren, weil sie „anders“ sind. Geschrieben 1845, enthält Das hässliche Entlein eine grundlegende Lehre für die Entwicklung des Menschen. Wer hat sich in seinem Leben nicht schon einmal abgelehnt gefühlt? Wer hat sich nicht schon einmal fremd gefühlt, als sei er fehl am Platz, als lebe er in einer Welt, die nicht die seine ist? Und: Ruht nicht in der Tiefe der menschlichen Seele das Gefühl, sich hier in der materiellen Welt im Exil zu befinden?
Das hässliche Entlein wird wegen seiner Ungeschicklichkeit und Hässlichkeit verspottet. Im späteren Leben erringt es jedoch seine wahre Identität – es entfaltet sich zum Schwan. Welch eine Metapher, die durch schwierige Wachstumsprozesse hindurch führen kann!
Das hässliche Entlein beschreibt auch Phasen aus Andersens eigenem Leben. Er stammte aus einfachsten Verhältnissen und verlor seinen Vater im Alter von elf Jahren. Vor seinem fünfzehnten Geburtstag reiste er nach Kopenhagen, um sein Glück als Opernsänger, Tänzer oder Schauspieler am Königlichen Theater zu versuchen. Doch man verspottete ihn und lehnte ihn ab: er hatte keine attraktive Gestalt, sein Aussehen war exzentrisch, seine Kleidung billig. Aber er fand einen Gönner, der ihm finanzielle Hilfe gewährte, unter anderem, um Komödien zu schreiben. Doch auch sie interessierten niemanden.
1828 erhielt er seinen Hochschul-Abschluss, und nach mehreren Misserfolgen gab er die Idee auf, Schauspieler zu sein und widmete sich ganz dem Schreiben. Der Erfolg kam 1835 mit der Veröffentlichung seines ersten Romans Der Improvisator und des ersten Bandes Abenteuer erzählt für Kinder, der vom Publikum mit Begeisterung aufgenommen wurde.
Die Atmosphäre extremer Armut, in der er seine Kindheit verbrachte, spiegelt sich in Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern (1845) wider, einer der traurigsten Geschichten der Kinderliteratur. Sie erzählt vom Leben der Mutter des Schriftstellers, die als Kind um Almosen betteln sollte, doch ohne einen Pfennig nach Hause zurückkehrte, weil sie vor Scham den Tag mit Weinen verbracht hatte.
In Die Nachtigall hinterließ Andersen weitere autobiografische Hinweise. Die Geschichte ist inspiriert von den Enttäuschungen, die er in Liebesangelegenheiten erlitten hatte. Dazu zählte seine Verehrung einer dreiundzwanzigjährigen Sängerin, die als „die schwedische Nachtigall“ bekannt war.
Oft jedoch gehen die Erzählungen über Persönliches hinaus und vermitteln Botschaften universeller Art. So zum Beispiel Des Kaisers neue Kleider – wo auf humorvolle Weise die menschliche Heuchelei widergespiegelt wird, und Der Zinnsoldat – ein Loblied auf die Liebe, die fähig ist, sich über alle Schwierigkeiten zu erheben, oder Die kleine Meerjungfrau – in der Andersen meisterhaft die Sehnsucht nach einer höheren Existenz anklingen lässt. Die kleine Meerjungfrau wurde zum Symbol einer Liebe, die durch Neutralität, Großzügigkeit und Selbstlosigkeit alles überwindet und eine neue seelische Ebene erreicht.
Andersens Erzählungen sind Nahrung für die Seele des Kindes – und auch für die manches Erwachsenen.