Am Ende der Nacht

Am Ende der Nacht

Jeder Mensch erwacht mindestens einmal täglich. Was dabei vor sich geht, ähnelt dem Erwachen des wahren Selbstes.

Wir sind wach, wenn wir denken und fühlen, uns bewusst in der Welt verorten und in ihr handeln können. All dies fließt in einem individuellen Bewusstseinsfeld zusammen, das sich auch als vier Körper darstellen lässt, die gemeinsam ein Ichbewusstsein hervorbringen. Seit der Zeit der Upanishaden wurde dieses Konzept in leicht variierenden Anschauungen weitergegeben: Demnach besitzt der Mensch einen materiellen Körper und darüber hinaus drei weitere, feinstoffliche: seinen Äther-, Astral- und Mentalkörper. Der Ätherkörper ist Energiezentrale und Willenszentrum, im Astralkörper wohnen die Gefühle, und der Mentalkörper ist der Sitz seines denkenden Bewusstseins. Vom Stoffkörper beginnend sind die folgenden Körper jeweils feiner und ausgebreiteter, so dass sie die jeweils gröberen durchdringen und auch überragen.

Im Schlafenden sind seine Persönlichkeitsfahrzeuge voneinander getrennt, denn der Astral- und der Mentalkörper des Menschen liegen nicht mehr konzentrisch im physischen Körper und seinem ätherischen Doppel. Die feineren Körper können sich im Schlaf sogar weit vom Stoffkörper entfernen. Diese Trennung ist die Ursache dafür, dass unser Wachbewusstsein im Schlaf erlischt, ja, dass keiner der so getrennten Persönlichkeitsteile über die Nacht hinweg ein konstantes Bewusstsein besitzt[1]. Erst wenn alle vier Teile seiner Persönlichkeit wieder ineinandergleiten, erwacht der Mensch.

Beim Erwachen als Mikrokosmos vollzieht sich analog zum morgendlichen Erwachen, das wir täglich erleben, die Vereinigung mit den drei höheren, ewigen Fahrzeugen des Menschen. Hier geht es darum, dass Manas, Buddhi und Atman – das ewige, wahre Selbst des Menschen – sich in die vier niederen Körper einsenken, bis die ewigen Wesensglieder konzentrisch in den niederen, vergänglichen liegen. Von seinen höheren Aspekten ausgehend durchzieht das Erwachen den gesamten Menschen. Manas, Buddhi und Atman erweisen sich als festes Bewusstseinsfundament. Sie begründen ein unvergängliches und universelles Bewusstsein. So lange dieser Prozess nicht einsetzt, bleibt der Mensch gleichsam ein Träumer.

Im erwachten Menschen konzipiert Manas den konkreten Plan des Werdens, des Prozesses einer sich immer weiter entfaltenden göttlichen Schöpfung im eigenen Wesen; er ist also die Schnittstelle zwischen dem wahren Selbst und seiner konkreten Offenbarung. Buddhi ist die erwachte[2] Geistseele, die eins mit allen und allem ist. Atman ist der Urgrund im eigenen Wesen, der über alles Existierende hinausreicht und zugleich der formlose Quell von allem ist. Mit diesen insgesamt sieben Wesensgliedern ist der erwachte Mensch umschrieben. Jeder Mensch kann selbst prüfen, inwieweit er oder sie ein solches Bewusstsein besitzt.

Während wir Menschen einen Weg zum Erwachen gehen, übernimmt das anfangs noch verborgene wahre Selbst in uns sukzessive die Rolle des vorläufigen Selbstes, des Ichs. Und das Ich lässt das zu, wenngleich nicht ohne Kampf. Es ist ein Ringen um Erkenntnis (und zwar auch darum, Erkenntnis zuzulassen), um Befreiung (aus der Sicht des Ichs geht es eher ums Loslassen) und um das wahre Leben (was sich für das Ich immer wieder wie Sterben anfühlt).

Wir sind geneigt, uns das spirituelle Erwachen als Bewusstseinserweiterung vorzustellen. Das ist nicht falsch, führt aber in die Irre, weil wir auf diese Weise am ehesten an die Ausweitung unseres jetzigen Bewusstseins denken. Weil der Erwachte ein Anderer, Ewiger in uns ist, ist das erwachte Bewusstsein auch von ganz anderer Art.

Zwei Gaben

Am Beginn des Erwachens können zwei diametral verschiedene Bewusstseinsprozesse stehen. Viele Menschen erleben peak expereriences, überwältigende Berührungen eines Seinszustandes, der ebenso ungreifbar wie auch real ist. Doch nach dem Gipfelerlebnis, das eine neue Perspektive schenkt, muss der Mensch wieder ins Tal hinunter. Und dort wartet, gerade in Verbindung mit der Freiheit und Vollkommenheit, die man schon geschmeckt hat, die Unvollkommenheit, Halbheit und Begrenztheit des Ichs – unsere derzeitige Realität. Der Kontrast zu dem innerlich Erfahrenen, das das Bewusstsein einmal erleuchtet hat, bildet die Grundlage für eine immer tiefer gehende Selbsterkenntnis, die für das Ich notwendig ist, damit es zur Seite treten kann. In jedem Menschen wirken fragmentierte Bilder des Einen, das er in sich trägt und die er meint leben zu können. Liebe, das Vermögen zu helfen und zu heilen, Macht und Vollkommenheit wollen sich ausdrücken. Und sie können es nicht oder nur mit unerwünschten Nebenwirkungen; das Ichbewusstsein, das einen Schimmer von etwas anderem, Größerem gesehen hat, muss es sich irgendwann eingestehen. So beginnt der Weg unter anderem mit Erfahrungen des Nichtkönnens, die den Menschen auf dem Pfad lange begleiten werden und ihm helfen, schließlich zugunsten des wahren Selbstes zum großen Loslassen zu finden.

Ein Weg beginnt

Die meisten Menschen haben zum Loslassen einen intuitiven Zugang. Regale voller Werke zur Lebenshilfe stehen in den Buchhandlungen bereit, um diesen Zugang zu erweitern. Anfänglich ist es relativ leicht zu begreifen, dass das Loslassen von Bindungen uns freier macht. Wenn man frei von Besitzdenken ist, schwinden die Verlustängste. Sich von unguten Bindungen zu lösen bringt eine neue Freiheit, sich selbst zu entdecken und sein eigenes Leben zu führen. Letztlich steckt in diesem Thema der ganze Weg, denn wann immer wir an etwas oder jemand gebunden sind, hängen wir an an der Vergänglichkeit und sind in ihr gefangen. Alles Schöne trägt immer schon den Schmerz des Abschieds in sich. Dinge verschleißen, Menschen werden krank und sterben. Auch wir. Nichts in unserer Welt bleibt, wie es ist. Wenn man sich also auf den Weg macht, Bindungen zu lösen, geht es letztlich darum, wie man grundsätzlich in der Welt steht, sie wahrnimmt und sich in jedem Augenblick mit ihr befasst, sich in ihr verortet, sich seinen eigenen Raum in ihr schafft. Unser Bewusstsein arbeitet in jedem Moment an dieser Weltbeziehung, es versichert sich seiner selbst darin, es ist vollständig von ihr erfüllt. (Prüfen Sie dies einmal nach.) Der Versuch, das Bewusstsein in dieser Hinsicht zur Ruhe zu bringen, führt nicht zum Erwachen, es sei denn, im Innern ist bereits der Anfang einer bewussten Verbindung zum wahren Selbst anwesend. Darum geht es.

Der Beginn liegt im Herzen, und beim Weitergehen öffnet sich im Gehirn – am Ort des Stirnchakras – ein Raum, der nicht mehr vom Ich besetzt wird und der frei ist für das Einströmen des wahren Selbstes. Ist dieser Anfang gemacht, dann verändern alle Weltbeziehungen ihren Charakter, denn sie gehen dann von einem Punkt aus, der nicht mehr völlig dem Ich und der Vergänglichkeit angehört. Dann macht das Ringen ums Loslassen wirklich Sinn, weil das wahre Selbst sich dann im Bewusstsein einen Stützpunkt schafft. Wenn die Dinge und Beziehungen dieser Welt das Bewusstsein nicht mehr dominieren und begrenzen, ist eine weitere Stufe dieser Bergbesteigung errungen.

Die gewonnene Freiheit bringt es mit sich, dass der Standpunkt des Ichs und des physischen Menschen im Bewusstsein nicht mehr absolut, abgegrenzt und unbedingt verteidigungswürdig erscheint. Im Gegenteil, andere Standpunkte und andere Beziehungen können klarer wahrgenommen werden; sie rücken uns näher und werden sukzessive zum „eigenen“ Anliegen, weil das wahre Selbst auch an anderen Orten gleichsam durchscheint, so wie es im eigenen Wesen durchzuscheinen beginnt. Zu urteilen wird immer weniger wichtig. Aniehung und Abstoßung verlieren als Arbeitsweise des Astralkörpers ihre Bedeutung, weil Innen und Außen nicht mehr als wirklich getrennt erlebt werden. Der Astralkörper entfaltet die Fähigkeit eines stillen Strahlens. Das Ichgefühl im eigenen Bewusstsein kann sich phasenweise so weit auflösen, dass eine weite Leere entsteht. Sie kann positiv erfahren werden, weil sie der reine Anfang einer ganz neuen Entwicklung ist. Sie kann negativ erfahren werden, weil das Ich sich in dieser Leere nicht mehr findet und den alten Zustand zurückhaben möchte.

Das Ringen ums Selbst

Angesichts dieser Leere findet der Kampf darum statt, wer wir sein wollen und können. Suchen wir wirklich Grenzenlosigkeit, dann müssen wir alle Grenzen aufgeben. Sind wir vor allem das konkrete, vergängliche Wesen mit all seinen kleinen Freuden, aber auch Schmerzen und Ängsten, oder können wir uns frei machen für das wahre Selbst, das keine konkrete Form als sein „eigen“ kennt, obwohl es immer wieder neue Formen schaffen wird? Hier geht es nicht darum, was wir uns in einem Moment spiritueller Erhebung wünschen, sondern darum, wozu das ganze Wesen schon bereit ist – oder auch nicht. Das ist keine Entscheidung im Supermarkt der Identitäten, sondern das Hineinreifen in einen Zustand, in dem das alte „Selbst“ gleichsam wie eine Schale abgeworfen wird. Catharose de Petri schreibt in Transfiguration darüber: „Im neuen Leben steigt der vollkommene Mensch, nachdem er den ganzen Weg zurück gegangen ist, in seiner Endphase absolut hinaus über Form und Veränderung […] der absolute Neue Mensch ist eine Über-Form-Entität. Er ist, als Unbegrenzter, im Unbegrenzten.“[3] Dieses wahre Selbst, das „die Über-Form-Entität“ in uns ist, muss in diesem Prozess in uns zur Wirkung kommen.

Dieser Weg führt uns in einen Kampf, denn für das Ich ist er ein Weg ins Nichts. Kein „Das bin ich, da komme ich her, da will ich hin, das muss ich verhindern, das ist mein“ mehr, auf das wir uns dann noch stützen. Was wir uns in unserem Kopf ohne Unterlass über uns selbst erzählen, um unser Ich zu konstituieren und in die Zukunft zu projizieren, hört nach und nach auf. Wenn diese zwanghafte innere Erzählung endet, ist der Mensch nicht schwächer, sondern freier als zuvor. Es wird im Lauf dieser Erfahrungen auch klar, dass das Ich in seiner Rolle als Selbst eine Illusion ist, allerdings eine Illusion, die nach wie vor sehr viel Kraft und Beharrungsvermögen besitzt.

Die Schönheit des Weges

Die Leere hat ihre eigene Schönheit, denn sie wird zu einem Ruhepol im eigenen Wesen, zum Weltinnenraum, in dem wir allen Dingen auch von innen her begegnen können. Das ist kein rein poetisches Empfinden und keine Illusion, sondern der Beginn eines echten Einheitserlebens. Hier mündet das individuelle Erwachen ins Menschheitserwachen, weil ein Mensch, der diesen Weg geht, beginnt, in allem und allen zu erwachen.

Wenn das Ich sich seine Geschichte nicht mehr unaufhörlich erzählt und damit die Identifikation des Alltagsbewusstseins mit Gestern und Morgen schwächer wird, entsteht ganz selbstverständlich ein Gegenwartsbewusstsein, das potenziell frei von Ängsten ist. Auch hinter dieser Entwicklung steht der allmähliche Wechsel des Selbstes, denn das ewige, wahre Selbst ist frei von Angst, Sorge und Furcht. Diese Gegenwärtigkeit, in der das Ich ganz still geworden ist, öffnet die Tür zum Ewigen im eigenen Wesen. Deshalb legen viele spirituellen Richtungen einen solch großen Wert auf Gedankenstille und Gegenwärtigkeit.

Auf dem Weg vom Ich zur Einsenkung des wahren Selbstes macht jeder Mensch sehr viele Erfahrungen. Manche, die üblicherweise als negativ beurteilt werden, erweisen sich als Stufen des Weges, weil sie helfen, sich vom Ich zu lösen, das zugrundeliegende wahre Selbst immer deutlicher zu erkennen und sich ihm zu öffnen. Das wahre Selbst jedoch wirklich und endgültig zu DEM Selbst werden zu lassen, bleibt für die meisten Menschen ein Ringen. Jeder kämpft hier seinen eigenen Kampf unter seinen besonderen Vorzeichen. Für mich steht immer wieder die Frage im Raum: Wer will ich sein? In meinem Bewusstsein treffen sich zwei entgegengesetzte Kräfte. Die einen kommen mit einem enormen Beharrungsvermögen aus dem Unterbewusstsein, sie besitzen die Kraft der Identifikation mit dem Zeitlichen und der jahrhundertelangen Verankerung darin, auf der anderen treffen sich die Selbsterkenntnis des Ichwesens und etwas Tiefes, Umfassendes, Tragendes, das in mir und um mich ist, und dem ich vertrauen lerne. Rumi sagt zum krönenden Abschluss des Weges, den das Ich hier zu gehen hat:

In Gottes Gegenwart passen keine zwei Ich. Du sagst Ich und Er sagt Ich – entweder stirbst du vor Ihm oder Er stirbt vor dir, damit keine Zweiheit bleibe. Dass Er stürbe, ist unmöglich im Äußeren wie als Vorstellung; denn Er ist der Lebendige, der nicht stirbt. So huldvoll ist Er, dass, wäre es möglich, Er um deinetwillen sterben würde, damit die Zweiheit verschwände. Nun, da Sein Sterben nicht möglich ist, stirb du, damit Er bei dir aufscheinen möge und die Zweiheit verschwände![4]

Auf dem Weg des Erwachens verwandelt sich das Paradox unserer Zweifachheit als ewiges und vergängliches Wesen in durchscheinende Klarheit, wenn das alte Bewusstsein es aufgegeben hat, Mitte und Wesen sein zu wollen und das Selbst als Strahl des Einen aufleuchtet. Das Symbol des geschliffenen Diamanten passt gut hierhin. Als konkretes Wesen stellen wir dann eine Facette des kristallinen Steins dar. In seiner Mitte scheint das alles durchdringende weiße Licht des Urgrundes.

 


[1]     Auf die Überwindung dieser Unbewusstheit im Schlaf sowie auf Astralreisen geht dieser Text nicht ein. Beides spielt im hier geschilderten Prozess des Erwachens keine Rolle.
[2]     Denn der Wortstamm budh bedeutet im Sanskrit Erwachen.
[3]     Catharose de Petri: Transfiguration, Haarlem 1995, Seite 51
[4]     in: Annemarie Schimmel: Rumi. Von Allem und vom Einen, München 2008, Seite 88

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Datum: Mai 23, 2024
Autor: Angela Paap (Germany)
Foto: brilliant-Tom auf Pixabay CCO

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