(Zu Teil 1)
Die große Sehnsucht
„Meine Hilfe kommt von dem Herrn, dem Schöpfer des Himmels und der Erde“, so berichtet der Dichter von Psalm 121. Wir mögen mit dieser Aussage nicht zufrieden sein. Wie kann uns ein Gott der traditionellen Religion plötzlich helfen?
Hier müssen wir erkennen, dass die Bibel größtenteils eine Sammlung inspirierter Schriften ist, eine Fülle verschleierte Botschaften über den mystischen und geheimnisvollen Weg, der zur Vereinigung mit dem Absoluten führt. Die Worte im 121. Psalm beziehen sich auf den Moment, in dem der Mensch aufhört, mit den Methoden dieser Welt nach Befreiung zu suchen. Er richtet sich auf etwas, das einer anderen Seinsordnung angehört.
Carl Gustav Jung stieß bei seinen Forschungen zur Alchemie auf folgende Aussage: Ein alter Alchemist ermutigte einen seiner Schüler mit den Worten: „Ganz gleich, wie entfremdet und einsam du dich fühlst, wenn du deine Arbeit fleißig weitermachst, werden unbekannte Freunde zu dir kommen.“
Wahre Alchemie besteht darin, die „unedlen Metalle“ der eigenen Natur in das Gold des Geistes zu verwandeln. Die „unbekannten Freunde“ sind die göttliche Hierarchie, die über die geistige Entwicklung der Menschheit wacht. Sie werden versinnbildlicht durch die „rechte Hand“ des Herrn, der Himmel und Erde geschaffen hat.
Wenn ein Mensch erwacht und sich nach einer anderen Welt zu sehnen beginnt, wenn er ahnt, dass seine Heimat im geistigen Raum liegt und er ein Fremdling auf der Erde wird, dann bedeutet dies, dass ein Aspekt der geistigen Sonne in ihm aufleuchtet. Er wird ergriffen von dem, was Michail Naimy in seinem Werk Das Buch von Mirdad poetisch als die „Große Sehnsucht“ beschreibt, die unstillbare Sehnsucht nach der geistigen Heimat. „Suchet, und ihr werdet finden; klopfet an, und die Tür wird euch geöffnet werden.“ (Matth. 7,7)
Ein Mensch, der sich nach Gott sehnt, beginnt unbewusst, eine Herzensstrahlung auszusenden, die das Licht der göttlich-geistigen Welt und die Hilfe der in ihr lebenden Wesen anzieht. Er empfängt Zeichen, die ihn zu Quellen und Orten führen, an denen er den Weg erkennen kann, der ihn zum mystischen Tod des Ego und zur Erfahrung des Einsseins mit der ganzen Schöpfung führt.
Ich bin, der ich bin
Im biblischen Buch Exodus (2. Mose 3) gibt es die Erzählung, in der Gott dem Mose in der feurigen Flamme eines Busches erscheint. Der Busch brennt, aber er verbrennt nicht. In ihm können wir eine Analogie zur neuen menschlichen Seele finden, die vom göttlichen Prinzip des Feuers entflammt ist, das ihr Unsterblichkeit verleiht. Mose fragt: Wie ist dein Name? Und er erhält die Antwort: „Ich bin, der ich bin“ (ehyeh asher ehyeh, auch: „Ich werde sein, der ich sein werde“).
In diesem Namen können wir das verborgene Axiom von Thoth/Hermes Trismegistus entdecken: „Wie oben, so unten.“ Das erste „Ich bin“ deutet auf das ursprüngliche Bewusstsein, die Essenz des ungeoffenbarten Gottes, des Vaters hin. Das „der“ (auch: „wer“) in der Mitte des Ausspruchs kann als Symbol für das schöpferische Wort dienen, den Logos, die Maat, den göttlichen Plan, aus dem heraus sich das Sichtbare entfaltet. Und das zweite „Ich bin“ lässt sich als die Verkörperung dieses Plans in der offenbarten Welt verstehen.
Damit ein Mensch sich zu einem Wesen verwandelt, das mit Gottes ursprünglichem Plan übereinstimmt, muss er in Herz, Verstand und Handeln „still“ werden, muss ruhiger Spiegel werden, in dem sich das „Ich Bin“ Gottes reflektieren kann.
Wenn wir dieses „Ich bin“ spüren, erheben wir uns über die duale Wahrnehmung der Realität. Wir hören auf, emotional auf die Manifestationen von Gut und Böse zu reagieren. Sie haben ihr Echo, ihre Entsprechung in uns. In der Hinwendung zum „Ich bin“ verstummt jedoch dieses Echo. Wir geben unserer niederen Natur insofern keine Nahrung mehr.
Das „Ich bin“, das wir dann erleben, reflektiert sich auf die äußere Welt, und wir beginnen zu verstehen, dass alles einfach „ist“. Wir hören auf, das Äußere zu bewerten und zu beurteilen. Das heißt nicht, dass wir unmoralisch werden, sondern wir werden still, frei von Vorlieben, Erwartungen, Vorurteilen und Vorverurteilungen. Wir beginnen zu erkennen, dass alles, was existiert, jetzt, in diesem Moment, notwendig ist. So erlangen wir Respekt vor den Dingen.
Innere Stille
Eine solche innere Stille geht von der „Stimme der Stille“ aus, von dem göttlichen Funken in uns, dem Teilchen der spirituellen Sonne in unserem Herzen. Sie ist der Same, aus dem sich das Gewand einer neuen Seele entwickelt, die zur „Hochzeit“ mit dem Geist fähig ist.
Der Weg, dies zu erreichen, ist das Schweigen in Bezug auf das Ich, ist der Tod des alten Ich. Darauf spielen die Worte des Paulus in seinem Brief an die Römer (12, 1-2) an: „Darum ermahne ich euch, Brüder und Schwestern, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber als lebendiges, heiliges und Gott wohlgefälliges Opfer darbringt – das sei euer wahrer und angemessener Gottesdienst. Passt euch nicht dem Muster dieser Welt an, sondern lasst euch umgestalten durch die Erneuerung eures Geistes. Dann werdet ihr fähig sein, zu prüfen und zu erkennen, was der Wille Gottes ist – sein guter, wohlgefälliger und vollkommener Wille.“
Und einige Verse weiter heißt es: „Trachtet nicht nach Größe, sondern lasst euch von dem ziehen, was demütig ist“ (Römer 12, 16).
Eine natürliche Seele kann nicht zu wahrer Größe gebracht werden. Deshalb muss sie „sterben“, um einer anderen Seele Platz zu machen, einer Seele, die leuchtend ist, hoch schwingend, aus Äthern gewoben, die nicht von dieser Welt sind. In diesem Prozess der Erneuerung werden nach und nach drei „Tempel“, drei Bereiche des Menschen geheiligt: das Haupt, das Herz und das Tun der Hände. Dann kann die Seele die ihr entgegengestreckte „Hand“ des Geistes ergreifen. Dann wird sie zum Mittler zwischen Erde und Himmel, bereit, mit Hilfe der heiligen Substanz der göttlichen Maat-rix in unserer Welt zu wirken.
In der Jakob Böhmes Schrift Vom übersinnlichen Leben spricht der Meister zum Jünger:
Wenn du stille schweigest, so bist du das, was Gott vor Natur und Kreatur war, daraus er deine Natur und Kreatur erschuf: so hörst und siehst du es mit dem, mit dem Gott in dir sah und hörte, ehe dein eigenes Wollen, Sehen und Hören anfing. […]
Der Jünger fragt: Wie mag ich durch die Natur in den übersinnlichen Grund kommen, ohne Zerbrechung der Natur:
Der Meister antwortet: Dazu gehören drei Dinge. Das erste ist, dass du deinen Willen Gott ergibst und dich zu Grund in seine Barmherzigkeit einsenkst. Das andere ist, dass du […] nicht tust, wozu dich dein Wille treibt. Das dritte ist, dass du dich dem Kreuze unseres Herrn Jesu Christi in Geduld unterwirfst, damit du die Anfechtung der Natur und Kreatur ertragen kannst. So du das tust, so wird dir Gott einsprechen und deinen gelassenen Willen in sich in den übernatürlichen Grund einführen, so wirst du hören, was der Herr in dir redet.
Die Sprache der Mysterien ist immer wieder anders, ihre Botschaft jedoch ist dieselbe.