Manchmal, wenn ich Menschen in größerer Anzahl sehe, bekomme ich die Empfindung eines ungeheuren Potenzials, so groß, dass es die Erde zu einem neuen Stern machen könnte, einem Kunstwerk im All. Natürlich kommt der Gedanke auf, dass wir doch einen großen Schaden an der Erde anrichten. Aber könnte das nicht ein – wenn auch bizarrer – Hinweis darauf sein, dass wir auch in der anderen Richtung etwas sehr Besonderes bewirken können?
Manche Forscher vermuten, dass die Menschheit in ihrer Bewusstseinsentwicklung gerade in der Pubertät angekommen ist (C.G. Jung, Wolfgang Schad). Das lässt sich nachvollziehen. Die Krisen, die wir hervorrufen, wären dann Bestandteil eines Weges zum Erwachsenwerden.
Das Denken Vieler deutet in diese Richtung. In einem Zwiegespräch mit der Erde sagt Goethes Faust: „Du regst und rührst ein kräftiges Beschließen, zum höchsten Dasein immer fortzustreben“ (Faust II). Ein solches Dasein haben wir noch nicht erreicht. Rilke führt ebenfalls ein Zwiegespräch mit der Erde. In seiner Neunten Duineser Elegie fragt er:
Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar
in uns erstehn? – Ist es dein Traum nicht,
einmal unsichtbar zu sein? – Erde! unsichtbar!
Was, wenn Verwandlung nicht, ist dein drängender Auftrag?
Erde, du liebe, ich will.
Namenlos bin ich zu dir entschlossen, von weit her.
Was ist mit diesem Unsichtbaren gemeint?
Jakob Böhme, der großen Mystiker, der vor etwa 400 Jahren lebte, schrieb von einer Entwicklung, durch die die Erde und der Mensch durchsichtig werden:
In unserem grobstofflichen Körper ist eine „subtile Kraft, gleichwie in der Erden eine subtile gute Kraft ist, welche sich mit der Sonnen vergleichet und einiget, welche auch im Anfang der Zeit aus göttlicher Kraft entsprungen ist, daraus auch die gute Kraft des Leibes ist genommen worden.“ Diese gute Kraft“ unseres sterblichen Körpers – so fährt Böhme fort – „soll in schöner, durchsichtiger, kristallinischer, materialischer Eigenschaft, in geistlichem Fleische und Blute wiederkommen und ewig bleiben oder leben: wie dann auch die gute Kraft der Erden, da dann die Erde wird auch kristallinisch sein, und das göttliche Licht wird allen Wesen leuchten. … die Grobheit vergehet an allen Dingen“.[1]
Der Anthropologe Jean Gebser erläutert in seinem Werk Ursprung und Gegenwart, in dem er die Bewusstseinsentwicklung der Menschheit darstellt, dass sich Transparentes, Durchsichtiges anbahnt. Gebser nennt es das Diaphainon. Es wird alles durchscheinen, was „Wesens-Charakter“ hat. Worin liegt der Grund für eine solche Entwicklung? Gebser: „Es ist die Ursprungsgegenwärtigkeit, die selber Bewusstsein erreicht, da einer ihrer Träger, der Mensch, durch die raum-zeitlich bedingte Bewusstseins-Entfaltung gegangen ist, sich durch diese hindurchgefreut hat, aber auch durch sie hindurchgelitten wurde.“ [2]
Der Ursprung des Lebens gibt die Impulse zu den großen Entwicklungsschritten. Uns obliegt es, sie zu erfassen, zu verstehen und unser Leben auf sie abzustimmen. Wir müssen „um den sich vollziehenden Vorgang wissen“ (Gebser).
Rilke schreibt in einem Brief (vom 13.11.1925): „ … unsere Aufgabe ist es, diese vorläufige, hinfällige Erde uns so tief, so leidend und leidenschaftlich einzuprägen, dass ihr Wesen in uns ‚unsichtbar’ wieder aufersteht. Wir sind die Bienen des Unsichtbaren. Wir heimsen unablässig den Honig des Sichtbaren ein, um ihn aufzuheben in dem großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren.“ Und in der Siebenten Duineser Elegie spricht Rilke vom „geträumten Tempel der Zukunft“, der sich ankündigt.
Wenn die Dinge durchsichtig werden
Das Unsichtbare, das Durchsichtige ist das Seelische und Feinstoffliche, das zu jeder Wesenheit gehört. Es kann durch die Quellen des Ursprungs erneuert werden. Wenn das in uns stattfindet, können wir daran mitwirken, es überall herzurufen, in allem Leben in der Natur. Die materiellen Formen werden dann von innen her leuchtend, das Grobstoffliche wird durchsichtig, seine Beseelung wird erfahrbar.
Als Kind hatte ich das Gefühl, dass ich „so“ nicht würde leben können, „so“, wie ich es überall um mich herum wahrnahm. Ich folgte dann doch den „normalen“ Bahnen. Die Kraft dazu erhielt ich aber durch eine intensive Suche. Kürzlich begegneten mir Worte Hölderlins: „Freude war es, von nun an zu wohnen in liebender Nacht und bewahren in einfältgen Augen, unverwandt, Abgründe der Weisheit“ (in: Patmos). Die „liebende Nacht“ kann ich erleben, das unsichtbare Geistig-Seelische, das uns trägt. Und auch den Wert „einfältiger Augen“.
Kürzlich saß ich in der Abenddämmerung und las in einem Buch. Es war eine wundervolle Geschichte, erzählt aus der Perspektive eines Kindes. Als es zu dunkel wurde, legte ich das Buch zur Seite und schaute nach oben – und der Himmel stand offen. War es eine Sinnestäuschung? Ich konnte es nur wenige Momente ertragen. Alles war durchsichtig. Alles zeigte ein inneres Leben, das zu mir „sprach“.
Wir nehmen meist nur den äußeren Aspekt der Dinge wahr. Doch wir erleben es ja bei uns selbst, dass es die Innenwelten gibt. Alles, was lebendig ist, verfügt über ein Innen und ein Außen. Mehr und mehr Menschen berichten davon, dass ihnen eine neue Beziehung zu Bäumen möglich wird. Bäume können eine Beziehung zum Menschen suchen. Ich habe erlebt und kann es immer wieder erleben, wie Impulse von der Natur ausgehen. Ich verstehe sie so, dass sie auf neue Weise wahrgenommen werden will.
Jeder arbeitet an seiner eigenen inneren Form
Was ist es für ein Potenzial, das in uns erwachen kann? Es ist eine neue seelische Form, eine innere Statur, die von anderer Kraft und Tiefe ist als die, die wir bislang besitzen. Das Lebendige drängt auf neue Weise in die Gegenwart. Wenn es in unserem Bewusstsein aufleuchtet, erspüren wir die Lebensformen, die um uns herum sind, von innen her. Und wir erahnen einen Auftrag.
Jeder arbeitet an seiner eigenen inneren Form. Die Werkzeuge dafür sind unser Denken, Empfinden, Wollen und Handeln. Sie formen die feinstoffliche Gestalt. Diese ist unsichtbar, durchsichtig, und doch entscheidend für unser Leben. Sie gehört dem „Weltinnenraum“ an (Rilke), der Parallelwelt zu dem, was wir äußerlich wahrnehmen. Alles Lebendige besitzt die unsichtbare Gestalt im Weltinnenraum. Außen und innen entsprechen einander.
Die höchsten inneren Welten werden göttlich-geistig genannt. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, dass in ihnen der Ursprung des Lebens liegt, die Ursprungsgegenwärtigkeit, von der Gebser spricht. Die Impulse, die von dort kommen, bedürfen der Bereitschaft und der Kraft, sie zu verwirklichen. Spirituelle Gemeinschaften können hierbei helfen, sie können Kräfte bündeln und einen intensiven Erfahrungsaustausch ermöglichen. Die Impulse wandeln sich im Laufe der Geschichte. Sie haben uns in die Individualisierung geführt. Denn jeder muss die innere Gestalt in sich selbst verwirklichen. Doch in der Gleichheit des Auftrags liegt die Basis für eine neue Art des Gemeinschaftlichen. Wir sind Gefährten auf einem gemeinsamen Weg.
Alles hängt davon ab, welchen der kosmischen Innenwelten wir die Spiegelung in uns ermöglichen, auf welche ihrer „Frequenzen“ wir reagieren.
Unser äußeres Leben zeigt dies. Die innere Gestalt entsteht durch unsere Lebensführung. Die Erde „verlangt“ von uns, dass es ein Kunstwerk wird, eine wegweisende Form. Denn dann erleben wir mit den neuen Augen das Lebendige von innen her, erleben die Erde neu. Manche sprechen von den heiligen Bereichen der Erde (van Rijckenborgh). Die Art unseres Zusammenlebens ändert sich. Auf der neuen seelischen Ebene werden wir den Schaden, den wir angerichtet haben, aufheben können. Eine Kooperation mit der Erde kann auf ungeahnt neue Weise stattfinden.
Die hohen Kräfte der Innenwelt dynamisieren wir in dem Maße, in dem wir sie in unser Bewusstsein aufnehmen und in unserem Denken, Fühlen, Wollen und Tun austragen. Sie erbauen sich in uns die ihnen gemäße Form. Sie sind der Künstler. Und im Verlauf unserer inneren Verwandlung erwachen wir – und arbeiten mit, in uns und um uns herum. Wir tun den Schritt und erleben, wie sich das Kunstwerk überall heranbildet, die unsichtbare innere Gestalt. Gewinnt sie an Kraft, so wird das Äußere durchsichtig. Hierauf scheint die Erde zu warten.
[1] Jakob Böhme, Vom übersinnlichen Leben, in: Über die Umkehr und die Einsicht, hrsgeg. von Anton Brieger, Pforzheim o.D., S. 31 f.
[2] Jean Gebser, Gesamtausgabe, Band II, Schaffhausen 1986, S. 207