Sturzbäche prasselnden Regens ergießen sich auf meine Windschutzscheibe. Der Scheibenwischer kann die Wasserfluten nicht fassen. Ich bin gezwungen, langsamer zu fahren. Durch einen Schleier strömender Wassermassen ist die Fahrbahn nur noch ansatzweise zu erkennen. Der Scheibenwischer meines Autos kämpft in einem hektischen Tempo gegen die Naturgewalten. Ich muss meine Geschwindigkeit noch einmal verlangsamen.
Gedankenfetzen rasen durch meinen Kopf. Ich komme von einer Wanderwoche, die ich mit einer Gruppe von Freunden im Westerwald erlebt habe. In Gesprächen und Besinnungen haben wir uns in diesen Tagen tief mit unserem Verhältnis zur Natur und zur Weltseele beschäftigt. Bilder steigen auf von unseren Wanderungen. Oftmals stießen wir mitten im Wald ganz unversehens auf Schneisen der Verwüstung. Dort, wo noch eine Woche zuvor moosbewachsene Wege durch üppiges Grün geführt hatten, fanden wir eine schlammige, von tiefen Reifenspuren durchpflügte Landschaft vor. Überall lagen Unmengen von nackten Fichtenstämmen: gefällt, entastet, gestapelt. Der Weg war kaum noch zu erkennen. Ein ganzes Waldareal war auf beinahe unerträgliche Art geschändet. Das verursacht in mir einen heftigen Schmerz.
Auf der Autobahn kommt mir jetzt eine lange Reihe von Feuerwehrautos entgegen. Es sind mehrere Dutzend blau blinkender Mannschaftswagen – auf dem Weg zu ihren Einsatzorten im Sauerland, wo – wie in der Eifel, in Südbayern und in der Sächsischen Schweiz – verheerende Starkregengüsse die Bäche und Flüsse haben über die Ufer treten lassen. Viele Häuser wurden dabei weggerissen, Dörfer und Städte mit Schlammmassen überflutet, Tiere und Menschen mussten ihr Leben lassen. Die in einem langen Verbund hintereinander fahrenden Feuerwehrwagen lassen mich die Kette der Ereignisse in diesem Jahr aneinanderreihen:
Corona-Pandemie – massives Waldsterben – häufige Starkregengüsse – Perioden der Hitze und Dürre von bisher unbekanntem Ausmaß.
Die Weltklimaerwärmung mit ihren verheerenden Auswirkungen ist nicht mehr nur ein „abstraktes“ Geschehen, von dem wir aus den Medien erfahren. Sie findet heute direkt vor unserer Haustür statt. Eine prominente Politikerin sagte im Fernsehen: „Wir werden uns mit aller Macht den Naturgewalten entgegenstemmen!“
Damit wird genau der Denkweise Ausdruck verliehen, die dieses Ungleichgewicht erzeugt hat, nämlich der Überzeugung, dass wir von der Welt, von der Natur getrennt seien, dass wir uns über sie erheben, sie beherrschen könnten.
Wir sind Teil der Natur
Der kalifornische Sufi-Lehrer Llewellyn Vaughan-Lee stellt demgegenüber fest:
Die Welt ist keineswegs ein Problem, das es zu lösen gilt, sondern ein lebendes Wesen, zu dem auch wir gehören. Sie ist ein Teil unserer selbst, und wir sind ein Teil ihrer leidenden Ganzheit. Solange wir nicht unserer Vorstellung von der Abgetrenntheit auf den Grund gehen, kann es keine Heilung geben. Und der tiefste Teil unserer Abgetrenntheit von der Schöpfung besteht darin, dass wir ihre heilige Natur vergessen haben, die auch unsere heilige Natur ist.
Ich sehe mich vor einer großen Herausforderung. Wenn ich die Natur, den Wald nicht mehr als etwas von mir Getrenntes wahrnehmen will, muss ich mich ganz anders auf sie einlassen, muss ich versuchen, in eine innere Beziehung zu den Geschöpfen der Natur einzutreten. Ich kann meine Sinnesantennen in beschaulicher Wahrnehmung weit ausfahren, in absichtslosem Schauen kann ich mich in die Geheimnisse der Steine, Pflanzen und Tiere vertiefen, ja mit ihnen eine innere Verbindung aufnehmen.
Neues Wahrnehmen
So kann ich an einer Pflanze etwas wahrnehmen, was mir nie zuvor aufgefallen ist. Ihre Farben leuchten viel intensiver, wenn ich sie tief in mich aufnehme, ihre Härchen und Fasern gleichen feinen Lichtstrahlen. Es ist wie ein Eintauchen in eine „Anderswelt“, in eine nicht alltägliche Welt.
Und in mir kann die Empfindung entstehen, als schaue die Pflanze zurück, als wolle sie wissen, wer sich mit ihr beschäftigt, als wolle sie auch mit mir in eine intensive Verbindung eintreten.
Beobachter und Beobachtetes fließen ineinander. Ich befinde mich in einer feineren, ätherischen Dimension, so dass ich die Pflanze nicht mehr nur mit den physiologischen Augen anblicke, sondern auch mit „ätherischen Augen“ schaue (wie es Rudolf Steiner ausdrückt). Gleiches wirkt auf Gleiches. Mit den ätherischen Sinnen wird der Ätherleib der Pflanze sichtbar.
Das Heilige in der Natur
Mir wird bewusst: Wir haben das Gespür für das Heilige in der Natur verloren – und auch für das Heilige im Menschen. Wissenschaft, Technologie und eine weltabgewandte Spiritualität haben uns der ursprünglichen Verbindung mit der göttlichen Dimension des Lebens in unserer Welt beraubt – der Verbindung zwischen unserer Seele und der Seele der Welt. Wir haben vergessen, dass wir Teil eines einzigen lebendigen und spirituellen Wesens sind, der Weltseele.
Marsilio Ficino (1433-1499) sah die Weltseele überall wirken und umschrieb sie mit folgenden Worten:
Die Seele ist alle Dinge zusammen […],
und da sie im Zentrum aller Dinge ist,
besitzt sie die Kräfte all dieser Dinge.
Und da sie die wahre Verbindung aller Dinge ist,
geht sie in eines über, ohne die anderen zu verlassen. […]
Deshalb nennt man sie zu Recht die Mitte der Natur,
den Angelpunkt aller Dinge,
das Gesicht von allem und die Verknüpfung
und den Knotenpunkt des Universums.
Jan van Rijckenborgh spricht in seinem Werk Die Chinesische Gnosis von der tröstenden, heilenden Kraft der Weltseele.
Das Licht der Natur und das Licht des Geistes
Die wahren Alchemisten erkannten die schöpferische Kraft im Innersten der Natur. Sie erkannten das Licht, das in der Materie und in den Kräften der Natur verborgen ist. Sie nannten es das Lumen Naturae (Licht der Natur), eine heilige Essenz im Gewebe der Schöpfung, das sie durch Experimente und Imagination zu befreien suchten.
Dieses in der Materie verborgene Licht geht von der Weltseele aus und verbindet sich mit dem Lumen Dei, dem göttlichen Licht, das aus den höchsten Sphären des transzendenten Geistes strahlt.
Die Weltseele, die Anima Mundi, ist der göttliche Funke in der Materie, das universell funkelnde Feuer im Licht der Natur, das den himmlischen Geist als höchstes Bewusstseinspotenzial in sich trägt.
Unser natürliches Licht ist Teil des Lichtes der Weltseele. Wir können an dem alchemischen, seelischen Prozess der Erneuerung teilhaben. Wir können das Licht unseres inneren Funkens befreien. Es kann sich mit dem Lumen Dei, mit dem Licht des höchsten Geistes, verbinden.
Dann wird das „Blei“ – das unseren aktuellen Zustand symbolisiert – in „Gold“ verwandelt, der immanente göttliche Funke und das transzendente göttliche Licht vereinigen sich und der göttliche Geist kann sich in uns Menschen offenbaren.