LOGON Magazin Nr. 20

LOGON Magazin Nr. 20

FREMD SEIN. Die kurzen Momente, die Berührungen aus der Tiefe veranlassen mich, nach ihm, diesem Unbekannten zu suchen, nach ihm, der wie ein Fremder in mir ist.
Den Bruch zwischen ihm und mir möchte ich kitten. Aber wie? Es geht nur durch ihn, das spüre ich. Wir sind zwei ungleiche Brüder, die einander fremd geworden sind. Jeder lebt in einem anderen Land. Ich öffne mich ihm, so weit ich es vermag. Und es geschieht, wenn auch allmählich, auf unsicheren Bahnen: Wir nähern uns einander an, ziehen einander an – und werden irgendwann zu Gefährten

 

Liebe Leserinnen und Leser

manchmal fragt man sich: Wo bin ich hier eigentlich? Was ist hier los – was ist los mit mir und den anderen? Es mag ein Schock sein, vielleicht eine Reaktion auf Negatives. Aber es kann auch sein, dass ich mich plötzlich erhoben fühle, hinausgetragen über mich selbst.

LOGON stimmt in diesem Heft den Gesang von Fremdsein und Heimkehr an, den existenziellen Gesang des Menschen.

Singen Sie doch einfach mit!
Ihr Gunter Friedrich
LOGON Magazin Nr. 20 Fremd Sein erhalten Sie im Online Shop als Printversion und digital

Fremdsein als Wegweiser

Angela Paap

Wir Menschen sind grundsätzlich Fremde, denn wir kennen uns selbst nicht. Sind wir auch in der Fremde? Ein Versuch, einander überlagernde Fremdheiten zu sichten.

Wer heute in einem hochentwickelten Land lebt, lebt ziemlich sicher ein entfremdetes Leben, denn unser Bewusstsein hat sich von vielen natürlichen Lebenszusammenhängen gelöst, ohne dass wir dadurch von ihnen unabhängig geworden wären. Zu den vielen Aspekten der Entfremdung zählen höchst arbeitsteilige Jobs, Leben in fast völlig menschengemachten Umgebungen und außerdem nicht zuletzt die fortschreitende Digitalisierung des Alltags. Wir sehen meist nur Teile eines Ganzen, und wir erfahren eine immense Beschleunigung als Folge des Fortschritts – nicht nur in der Fortbewegung oder in Herstellungsprozessen, sondern auch durch eine unaufhörliche Veränderung gesellschaftlicher Strukturen, die uns vieler früherer Sicherheiten beraubt. Und Sicherheit könnte uns zumindest eine Art von Heimatgefühl geben. …

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Ich bin ein Fremder

Christoph Reichelt

Das Kind, das ich war, wusste am Anfang genau, dass es hier nicht zuhause ist. Es konnte doch sein, dass ich im Mittelpunkt eines groß angelegten Experimentes stehe. Mein Leben, das, was ich für mein Leben halte, ist eine Art Test, ein Film oder eine superrealistische 3D-Animation zum Mitspielen … Doch ich werde geduldig durchhalten, bis es beendet ist.

Das Kind, das wir waren, hat vieles von dem gewusst, was wir dann erst noch zu leben hatten. Während in den letzten Jahren die Simulationstheorie immer bekannter wurde und sich zu einem populären Konzept in der KI-Szene entwickelte, wurde mir allmählich klar, wie vertraut mir diese Ideen sind. Ein erster Gedanke, ein erstes Gefühl war: Diese Welt ist nicht die richtige. …

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Poetische und andere Gedankensplitter zum Wert des Fremdseins

Gudrun Gwiesdek

Sich fremd fühlen kann nur, wer eine Ahnung von Heimat hat. Erst der Verlust der Heimat weckt die Sehnsucht, lehrt uns, das Verlorene zu schätzen und wieder zu suchen.

Als es aus dem Strudel, der es eingesogen hatte, zu sich kam, blickte es um sich und – erkannte gar nichts. Wo war es? Wo bin ich?, fragte es sich und schaute umher. Entsetzen überkam es. Es war eingesperrt! Nur raus hier, schrie eine Stimme in ihm, doch so sehr es auch zappelte und schrie, es blieb gefangen in dieser Schwere aus Fleisch. Müde von seinen vergeblichen Anstrengungen schlief es ein. Da wurde es leicht und licht. …

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Sich selbst fremd geworden sein

Das Thomasevangelium, Platonund die Nahtoderfahrungen
Gunter Friedrich (LOGON) interviewt
Prof. Dr. Enno Edzard Popkes (Universität Kiel)

Nach einer Nahtoderfahrung sagen sich viele, dass sie sich selbst in ihrem Leben fremd geworden waren. Und das ist wiederum vergleichbar mit Platons Höhlengleichnis. Wenn man durch eine Nahtoderfahrung erkannt hat, dass man gleichsam in der Höhle ist und eigentlich die Heimat ganz woanders ist, nämlich außerhalb der Höhle, dann muss man sich wieder ganz neu mit dieser Höhle anfreunden. Auf andere Weise als zuvor wird man zu der Welt „ja“ sagen können. Man ist Fremdling, aber es kommt darauf an, das Leben im Hier und Jetzt vollkommen anzunehmen.

Das Thomasevangelium hat ebenso wie zum Beispiel das Weltbild Platons eine hochreflektierte Seelenwanderungs und Seelenwachstumsvorstellung. …

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EINSAMKEIT – EWAS PERSÖNLICH

Burkhard Messer

Eine Reise im Außen kann eine Reise im Innern sein.

Sich einsam fühlen oder allein sein ist für viele Menschen unangenehm. Für mich nicht, ich fühle mich einsam wohl. Da stimmt doch etwas nicht mit mir. Ich bin – wie meine Frau sagt – beziehungsunfähig, oder ich habe Angst vor Nähe, oder ich habe Angst, mich zu öffnen. Es ist ja vollkommen natürlich, zusammen mit Menschen zu sein. Aber nicht ich, ich fühlte mich in der Corona-Zeit richtig wohl. Ist das nicht „fremd“? Psychisch ist die Sache klar. Ich wurde in der Jugend und später häufig verletzt, ich gehörte zu diesen Typen, die immer am Rand stehen, den Losern, zu denen, die nichts wert sind, jedenfalls nach der Meinung der Anderen. Also habe ich mich zurückgezogen und dort, im Alleinsein, mein Glück versucht. Kein Kontakt heißt: keine Gefahr der Verletzung. Das verletzte Reh flüchtet sich zum Sterben in den dichten Wald. Ja, das ist die Erklärung.

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Der kleine Häwelmann wird erwachsen

Burkhard Lewe

Das Fremde kann magisch anziehend sein. Etwas drängt uns in unbekannte Weiten. „Mehr, mehr!“ schreit eine Stimme in uns. „Weiter, weiter!“ Theodor Storms Geschichte vom Kleinen Häwelmann1, der mit seinem rollenden Bett bis in den Himmel fährt, spiegelt diesen inneren Impuls. Die Reise des kleinen Häwelmann beginnt überraschend, muss jedoch abrupt enden. Er wird aus dem Himmel verstoßen. Doch in der heutigen aufgeklärten Zeit kann für dieses Märchen ein Fortsetzungskapitel geschrieben werden …

„Mehr, mehr!“
Als Kind hat mich das Märchen von Theodor Storm Der kleine Häwelmann in Bann gezogen. Meine Eltern haben es mir erzählt. Es handelt von einem kleinen Jungen, der Häwelmann heißt. Nachts schläft er in einem Rollenbett und auch
am Nachmittag, wenn er müde ist. Wenn er aber nicht müde ist, muss seine Mutter ihn in seinem Rollenbett in der Stube umherfahren, und davon kann er nie genug bekommen. …

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Die Macht der Entfremdung

Heiko Haase

Die verstärkte Wahrnehmung des Urgrunds führt dazu, dass sich viele Menschen zunehmend der kulturellen Umgebung entfremden. Solche Zeiten verstärken ein Lebensgefühl der Ratlosigkeit und Unsicherheit, und manche werden schon mit einem Gefühl des Fremdseins geboren.

Jeden Sommer zur Ferienzeit zieht es uns in die Ferne. Vielleicht nicht alle, aber viele. In Bildungsreisen tauchen sie ein in fremde Kulturen, besuchen in Form von Sehenswürdigkeiten die Vergangenheit und versuchen, das ihnen Fremde der Gegenwart zu erfassen. Je weiter wir uns dabei von unserer Kultur entfernen, umso fremder mögen uns die Menschengruppen und Kulturen erscheinen, in die wir eintauchen. Und doch gibt es in der Tiefe der kulturellen Symbolik oft Bilder, die in unserer Seele ihren Widerhall finden.

In dieser Seelentiefe ist sich die Seele der Gegenwart des Urgrundes immer bewusst. Die stärker werdende Kraft aus dem Urgrund lässt viele Menschen mit einem Gefühl der Entfremdung reagieren

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AM ANFANGWAR DER BLITZ

Klaus Bielau

Der Radwechsel
Ich sitze am Straßenhang.
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
Mit Ungeduld?
Bertold Brecht

… Es ist schon eigenartig, aber scheinbar muss es so sein. Da ist viel Fremdheit in dieser Welt, viel Unglücklichsein in dieser Welt. Unglücklichsein – nicht weil Krieg ist oder enge Freunde sterben, oder weil Hungersnot, Mangel an allen einfachen Dingen ist, die man so braucht zum Überleben. Nein, ein Schmerz, der in der Brust nagt, manchmal brennend wie Feuer, als wäre da ein Loch, dort wo das Herz ist. Und man kennt die Ursache nicht. Die klugen Menschen, die so viel verstehen, die für alles eine Antwort haben, schicken den
Unglücklichen gern zum Psychologen oder Psychiater oder – das ist dann die nächste Stufe – man füttert ihn mit Pillen, die Glücklichsein versprechen.

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Weltfremd

Edwin E. F. Hübner

Die künstliche Intelligenz ist tote Intelligenz; aus ihr kommen prinzipiell – auch wenn sie noch so genial zu sein scheint – keine Zukunftsimpulse. Der in ihr liegende Geist sagt: Wie es war, wird es wieder sein. Zukunftsimpulse kommen einzig und allein aus dem lebendigen, im gegenwärtigen Hier und Jetzt aktiven Denken und Wollen des Menschen.

Symptom
Eine Jugendherberge im Harz. Sie ist groß, modern ausgerüstet und bietet den Jugendlichen ein riesiges, teilweise bewaldetes Spielgelände, einen Sportplatz, einige Tischtennisplatten usw.; es ist ideales Frühlingswetter, die Sonne scheint und die Lufttemperatur ist angenehm. Die Herberge ist ausgebucht, 210 Jugendliche haben eine Unterkunft gefunden; aber das riesige Gelände wird nur von einer einzigen Klasse genutzt. Alle anderen Schülerinnen und Schüler saßen vor oder im Haus und waren mit ihrem Smartphone beschäftigt. Und warum verhielt sich diese eine Klasse anders? Ganz einfach: Die Kinder mussten ihre Smartphones zu Hause lassen; ihre Klassenfahrt war handyfrei!

Die Erscheinungen der realen Welt lieben zu können, ist das ausgleichende Gewicht, das hilft, der Versuchung zur Weltfremdheit gewachsen zu sein

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Gewohnheitstier oder Wundernase?

Cathrine Spiller

Wie die Prinzessin im Märchen Der Froschkönig spielten wir im königlichen Garten mit der goldenen Kugel des Geistes, bis diese in einen dunklen Brunnen fiel. Ein Frosch erschien, als wir die Verbindung mit dem Geist verloren hatten. Er brachte uns die Kugel zurück, allerdings nur, weil wir ihm versprachen, ihn an unserem Tisch sitzen und aus unserem goldenen Tellerchen essen zu lassen.

Wundernase1 ist ein schweizerdeutscher Begriff, der eine neugierige Person bezeichnet und freundlicherweise nicht auf Gier, sondern auf Wunder baut. Beginnen wir mit dem Wunder, denn am Anfang war das Wunder, dann kam die Wissenschaft, am Anfang war der Baum des Lebens, dann kam der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse.

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Der Transhumanismus und die Vollendung des Menschseins

Gerd Müller und Gunter Friedrich

Der Glaube der Transhumanisten an die Technologien fällt mit einer neuen Art von Religion zusammen, die darauf basiert, unsterblich zu werden. Ihr Menschenbild beschränkt sich auf das Dasein in dieser Welt. Darüber hinausreichende Dimensionen des Menschseins gehören nicht dazu.

Bewusstseinszustand ist Lebenszustand
Viele Menschen empfinden tief, dass wir im Mangel sind. Irgendetwas fehlt, auch wenn im Äußern alles – oft sogar im Überfluss – vorhanden ist. Dies könnte nicht empfunden werden, wenn wir nicht tief in unserem Inneren einen Maßstab besäßen, dass es so etwas wie Erfüllung, Vollständigkeit, Sattsein, wirkliche Zufriedenheit und letztlich Angekommensein gibt. Da wir uns also häufig defizitär, als Mangelwesen, fühlen, suchen wir. Wir suchen nach einer Lösung für unser Dilemma. Tiere tun das nicht. Als suchende Menschen befinden wir uns auf einem unbekannten Weg, der uns wieder „nach Hause“, in die Fülle und Erfüllung führen soll. Wie Fremdlinge, die nicht wirklich wissen, was sie genau suchen und was ihnen fehlt, die aber tief innerlich wissen: DAS HIER kann nicht alles sein.

Der Transhumanismus (von lat. trans = über und humanus = menschlich, kurz „h+“) ist eine intellektuelle, kulturelle und philosophische Bewegung, die darauf abzielt, die menschliche Spezies, sowohl biologisch als auch intellektuell, durch den Einsatz fortschrittlicher Technologien zu transformieren. Kerngedanke ist die Überwindung der biologischen Grenzen des Menschen, um eine neue, bessere Existenzform zu erreichen.

Der Transhumanismus bildet eine Art Gegenpol zu den Ursprüngen der menschlichen Kulturen und ihrem geistigen Wissen. Diese Ursprünge berichten von der göttlichen Herkunft des Menschen und dem daraus verbliebenen göttlichen Keim in ihm

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Franz Kafka –– ein Fremder

Olga Rosenkranzowa

Es mag den Anschein haben, dass Kafka in seinen Schriften nur die Sinnlosigkeit aufdeckt und die Leere meisterhaft beschreibt. Aber er öffnet dadurch die Tür zu existenziellen Fragen.

Franz Kafka beschreibt hintergründige Mechanismen des bürgerlichen Lebens: die sozialen Rollen, das Justizsystem, die Rechtsordnung. Seine Hauptfiguren gelangen in Situationen zugespitzter Absurdität, die die Sinnlosigkeit der Dinge offenbar machen, die Ausweglosigkeit des Lebens in unserer Matrix. Kafkas Geschichten haben kein Happy End, sie lassen den Leser in einer Sphäre des Unbestimmten zurück.

Die Welt, in der wir leben, ist relativ. Alle ihre Werte sind relativ, jede ihrer Wahrheiten, jede Gerechtigkeit. Daran können wir uns gewöhnen, aber letztlich identifizieren können wir uns damit nicht. Mitunter spitzen sich Situationen zu – und wir erleben uns als Fremde, Außenstehende.

 

 

 

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Datum: Oktober 3, 2024
Autor: LOGON Magazin Redaktion Deutschland

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