Auf der Suche nach Licht

Auf der Suche nach Licht

In der Novelle „Der blinde Musiker“ zeigt der ukrainische Musiker Vladimir Korolenko, dass ein Mensch immer dann Erfüllung im Leben finden kann, wenn er nicht auf sich selbst und seinen Kummer fixiert bleibt, sondern den spirituellen Sinn seiner Existenz erkennt.

Wir erblicken in der Bibel keinen historischen Bericht, sondern eine aktuelle Signatur des Menschen, der den aufstrebenden Pfad geht […]. Das christliche Einweihungsmysterium ist ein eigenartiges und seltsames Geschehen. (1)

Es ist nicht einfach, die Bibel als einen Reiseführer durch sein Leben erkennen zu können. Die Symbolsprache, in der sie verfasst wurde, gibt bis heute die Möglichkeit zu zahlreichen Auslegungsvarianten, erklärt die daraus entstandenen verschiedenen christlichen Strömungen und die nicht seltene Ablehnung der Bibel gerade in unserer heutigen Zeit. Es gibt Menschen, die viele Sprachen sprechen, die in die verschiedenen Kulturkreise eintauchen und sich orientieren können, jedoch die Feinheiten und Besonderheiten der Bibel aus ihrem Blickwinkel nicht erkennen können. So ist es nicht verwunderlich, dass in Bezug auf sie das Chaos weiter zunimmt, obwohl diese Schrift die Völker einen soll.

Ein faszinierendes Beispiel, das Neue Testament als Hilfestellung für die eigene Entwicklung zu verstehen, beschreibt Wladimir Korolenko (1853-1922) in seiner Etüde Der blinde Musiker. Der in der Ukraine geborene Korolenko (2) nimmt den Leser an die Hand und führt ihn gleichsam durch sein Leben, zeigt auf, wie aus seiner Blindheit Sehvermögen und aus seiner Unwissenheit Erkenntnisfähigkeit werden können. An dieser Studie arbeitete er über 30 Jahre, veränderte, fügte hinzu und hoffte, seinem Leser eine immer klarere Aussagekraft seines Anliegens liefern zu können. Korolenko lädt zu einem großartigen Experiment ein. Weder der Zar noch die Diktatur Lenins, weder eine 4-jährige Verbannung nach Sibirien, davon ein Jahr im ewigen Eis, noch Kriege konnten seine erworbene strahlende Lebenseinstellung trüben. Im Gegenteil, die schwersten Jahre bezeichnete er später als die besten und heitersten Jahre seines Lebens.

Den eigenen strahlenden Christus in sich selbst bringt er dem Leser im Blinden Musiker wie folgt nahe:

In eine reiche Gutsbesitzerfamilie wird ein blinder Sohn, Peter Popelsky, geboren. Eine liebevolle Mutter, ein sorgender Vater, eine einfühlsame Spielgefährtin und ein verständnisvolles Dienstpersonal umgeben ihn. Diesem Kind werden alle Wünsche erfüllt, bis auf den einen: sehen zu können. Spielen, Reiten, Ausflüge, nichts kann ihn trösten. Aus seinem Klavier erklingen immer traurigere Weisen. Überwältigt von seiner eigenen Egozentrik, erkennt der Blinde die Ausweglosigkeit seiner Situation. Sein Onkel Maxim, ein gebeutelter Kriegsveteran, führt  ihn mit blinden Bettlern auf den staubigen Landstraßen zusammen. Peter beschließt, sich diesen Bettlern anzuschließen. Nach längerer Zeit kehrt er zurück, geläutert, heiter, grenzenlos dankbar. Ein neues Leben hat begonnen. Er heiratet seine Spielgefährtin. Der gemeinsame Sohn ist SEHEND.

Als begnadeter Pianist bezaubert er ab nun sein staunendes, ihn anbetendes Publikum.

Warum war der Schriftsteller Wladimir Korolenko zu seiner Zeit so beliebt und ist er auch heute noch aktuell? Vor allem, weil seine Helden aktiv auf der Suche sind; ihre Gedanken und Seelen sind in ständiger Bewegung. Korolenkos Helden bleiben in ihrer Entwicklung nicht stehen, sondern streben trotz Schwierigkeiten und Prüfungen im Leben weiter. Diese unaufhaltsame Suche ist für jeden von uns von essentieller Bedeutung. Seine Lieblingsfiguren lassen uns die innere Überwindung schwieriger Umstände erkennen und ermöglichen uns, in uns selbst etwas Hohes und Wahres zu entdecken: den tiefen Sinn unserer Existenz.

Der blinde Musiker ist von einer spannungsgeladenen Suche nach dem Geist durchdrungen. Im Vorwort zur sechsten Auflage schrieb der Autor:

Das grundlegende psychologische Motiv der Etüde ist der instinktive, organische Hang zum Licht. Hieraus erwächst die seelische Krise meines Helden und seine Lösung. (2)

„Licht“ ist der Schlüsselbegriff in diesem Werk. W. Korolenko verwendet ihn nicht nur in der Bedeutung als Streben eines blinden Jungen und dann jungen Mannes nach dem natürlichen Licht, sondern auch für das Verständnis des geistigen Lichts, der geistigen Welt.

Korolenko schlüpft gleichsam in die Rolle eines Wissenschaftlers, eines Forschers. Deshalb nannte er sein Werk eine Etüde (aus dem Französischen: „Studie“, „Forschung“) in Analogie zu den Etüden der französischen Realisten und Naturalisten der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts (Emile Zola, Jules und Edmond Goncourt, Guy de Maupassant und anderen). Ähnlich wie die französischen Schriftsteller erforschte Korolenko die Auswirkung äußerer Lebensumstände auf die geistige Entwicklung des Menschen. War es dort vor allem die materielle Not, so ist es bei Korolenko das körperliche Leiden, die Blindheit, mit der der Protagonist zu ringen hat.

Peter Popelskys schwieriger Weg bis zur Entdeckung der geistigen Welt bildet die Handlung des Werks. Diese Geschichte handelt nicht nur von der physischen, sondern vor allem von den spirituellen Prüfungen eines Menschen, der sich selbst und den Sinn seiner Existenz finden muss. Lehrt uns doch die Bibel, dass wir sehend blind und hörend taub sind. W. Korolenko zeigt, dass ein Mensch immer dann Erfüllung im Leben finden kann, wenn er nicht auf sich selbst, auf seinen Kummer und seine persönlichen Erfahrungen fixiert bleibt, sondern den spirituellen Sinn seiner Existenz erkennt. Peter fand sich selbst und seine Berufung unter anderem in der Musik, die nicht nur für ihn, sondern auch für die Menschen um ihn herum bedeutsam war. Die Heirat mit Evelina und die Geburt eines Sohnes, der nicht blind, sondern sehend ist, sind für ihn die große Belohnung für seine schwierige Suche. Das innere Licht begleitet ihn nun für immer und erhellt sein Leben auf eine neue Weise.

Das Werk endet mit Peters Klavierkonzert vor einem großen Publikum. Onkel Maxim hört seinem Neffen zu, wie er wunderbare Melodien spielt – wahr und aufrichtig. Melodien, die nicht nur die Freude am Leben, sondern auch den Schmerz und das Leid enthalten, die Peter zusammen mit seinem Volk erlebt. Und Onkel Maxim erkennt, dass Peter sich dramatisch verändert hat; er ist geistig sehend geworden:

Ja, er hatte eine Offenbarung… Anstelle von blindem und unstillbarem egoistischem Leiden trägt er in seiner Seele einen Sinn für das Leben, er fühlt sowohl menschlichen Kummer als auch menschliche Freude, er hatte eine Offenbarung und wird in der Lage sein, die Glücklichen an die Unglücklichen zu erinnern …’. Und der alte Soldat senkte sein Haupt immer tiefer. Hier hatte er sein Werk getan, und er hatte nicht umsonst in der Welt gelebt, das sagte ihm die ganze Wucht der herrischen Töne, die im Saal standen und die Menge beherrschten … (2)

So ist Peter Popelsky auf seine Weise dem Weg des Leidens, dem Weg Christi gefolgt und ist zu einem neuen Bewusstsein, einer lichten Heiterkeit des Gemütes gelangt. Eine umfassendere Dimension des Lebens hat sich für ihn geöffnet, ein Leben zum Wohle der Menschheit. Kunst und Kreativität können Zeugen des Lichts und kraftvoller Quellen sein. Nachdem er das Licht in sich selbst gefunden hat, beginnt Peter, es zu anderen Menschen zu tragen, die körperlich sehend, aber geistig blind sind. So bekräftigt Korolenko die Idee, dass es mehr Licht und Wahrheit in der Welt geben wird, wenn Menschen mit ihrer Lebenskunst Herzen erwecken und sie zur Wahrheit und zum Licht rufen.

Jeder Künstler weiß, dass er sein Bestes nur leistet, wenn sein Geist gänzlich dem Werk der Minute hingegeben ist und vom Werk der Minute verbraucht wird. Er ist dann befähigt, all seine Kraft hinzugeben und, was mehr ist, er zieht so höhere Kraft an sich, denn Kraft, die so empfangen wird, verbleibt für immer. (3)

In jedem Menschen sind unsagbare Schätze gespeichert, die er heben und damit schöpferisch geistig arbeiten kann, denn das ist der wahre Sinn unseres Seins.

In jedem kann das Wunder geschehen, kann der neue Mensch im Herzen erwachen. Nicht mehr die blinde Anbindung des Geistes, sondern das bewusste, wache Sein im Geist wartet auf den Menschen. Er soll SEHEND werden. Jakob Böhme sagt es so:

Der Himmel ist durch die ganze Welt und außer der Welt überall, ohne Trennung, Ort oder Stätte und wirkt durch göttliche Offenbarung nur in sich selber; und in dem, das darein kommt, oder in dem, darinnen er offenbar wird, allda ist Gott offenbar. Denn der Himmel ist anders nichts als eine Offenbarung des ewigen EINS, da alles in stiller Liebe wirkt und will. (4)

Es ist Zeit für ein neues Menschenbild. Es ist Zeit für einen neuen Realismus. (5)


Literatur

1   Jan van Rijckenborgh und Catharose de Petri, Die Universelle Gnosis, Haarlem (NL) 1994

2   Wladimir G. Korolenko, Episoden und Erzählungen, 1953

3   Prentice Mulford; Ausgewählte Texte, 1986

4   Jakob Böhme, Glaube und Tat, Berlin 1976

5   Rutger Bregman, Im Grunde gut, 2023

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Post info

Datum: Juli 17, 2024
Autor: Rotraut Reinhardt (Germany)
Autor: Olha Nicolenko (Ukraine)
Foto: kid-Bild von dara nilrothanak auf Pixabay HD

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