Unser Leben ist ein farbiger Abglanz. Aber der, der sich in unserem Dasein abbildet, möchte gefunden werden.
Manchmal ändern Ströme ihren Lauf. Die Quelle bleibt am selben Ort und ebenso das Meer, aber der Weg zwischen beiden verläuft anders. Wo früher Wasser strömte, bleiben tote Arme zurück, Tümpel, Teiche, Seen. Sie werden weiter gespeist, von unten durch das Grundwasser, von oben durch den Regen. So bleiben sie indirekt mit dem Strom verbunden, aber zugleich werden sie zu etwas Eigenem. Hierzu schmückt sie die Zauberin Natur, stattet jedes auf seine Weise aus. Ein Auenland entsteht mit herrlichen Orten, Artenvielfalt und wundervollen Biotopen, „Abbildern des Lebens“ (griech. bios=Leben, topos=Bild, Ort).
Wir streben nach Spiritualität und sprechen davon, „im Strom“ zu sein. Alles fließt, selbst die verdichtete Substanz ist in Bewegung. Wir wollen allerdings auf höherer Ebene „fließen“, in Strömen geistig-seelischen Lichts. Denn wir spüren: Dort ist Einssein, dort sind Freiheit, Freude, Liebe, wahres Leben. Aber – könnte es nicht sein, dass wir nur schöner und prachtvoller ausgestatteten Tümpeln, Teichen, Seen oder toten Flussarmen gleichen?
Auch Seelen bilden Landschaften, wundervoll blühende, dunkel brütende oder auch zerstörte, vergiftete. In fast allen herrscht, auf irgendeine Weise, Streit, offen und lautstark oder subtil, hintergründig, versteckt. Wir benötigen einander, wirken zusammen, vielleicht mögen wir einander – und doch ist da etwas, das uns abgrenzt und uns im Innern aufbringt, oder aufbringen möchte gegen den anderen. Es sind oft banale Anlässe, aus denen uns unser Einzeln-Sein ergreift, unsere Eigenheit, Abgetrenntheit, unser Besonders-Sein, das Herausgetreten-Sein aus dem Strom. Der gute Wille, harmonisch zusammenzuleben, ist da. Doch da ist auch ein verborgener Wider-Wille, ein innerer Widersacher. Und der scheint an Macht zu gewinnen. Unterliegt unser Einzeln-Sein einer Entwicklung hin zu wachsenden Katastrophen? Der Schriftsteller Hans-Magnus Enzensberger verfasste 1993 einen Essay mit dem Titel: Aussichten auf den Bürgerkrieg. Darin schreibt er:
Geführt wird er [der Bürger-Krieg] nicht nur von Terroristen und Geheimdiensten, Mafiosi und Skinheads, Drogengangs und Todesschwadronen, Neonazis und Schwarzen Sheriffs, sondern auch von unauffälligen Bürgern, die sich über Nacht in Hooligans, Brandstifter, Amokläufer und Serienkiller verwandeln.
Und er diagnostizierte einen gemeinsamen Nenner:
Das ist, zum einen, der autistische Charakter der Täter und, zum anderen, ihre Unfähigkeit, zwischen Zerstörung und Selbstzerstörung zu unterscheiden. In den Bürgerkriegen der Gegenwart ist jede Legitimation verdampft. Die Gewalt hat sich von allen ideologischen Begründungen befreit.
Vor 100 Jahren erklärte Rudolf Steiner, in die Zukunft schauend, dass unsere Kulturperiode einmal mit einem „Krieg aller gegen alle“ enden werde:
Wir müssen nur einmal ins Auge fassen, was die Grundlage, die eigentliche Ursache dieses Krieges ist. Diese Grundlage oder Ursache ist das Überhandnehmen des Egoismus, der Ichsucht, der Selbstheit der Menschen. […] Wer nicht begreift, dass dieses Ich ein zweischneidiges Schwert ist, der wird kaum den ganzen Sinn der Menschheits- und Weltenentwickelung verstehen. Auf der einen Seite ist dieses Ich die Ursache dessen, dass die Menschen in sich selbst sich verhärten, dass sie alles, was ihnen zur Verfügung stehen kann an äußeren Dingen und inneren Gütern, in den Dienst dieses ihres Ichs einbeziehen wollen. Es ist dieses Ich die Ursache, dass sich alle Wünsche des Menschen darauf richten, dieses Ich als solches zu befriedigen. Wie dieses Ich danach strebt, einen Teil des gemeinsamen Erdenbesitzes an sich heranzubringen als sein Eigentum, wie dieses Ich danach strebt, aus seinem Gebiete alle anderen Iche hinwegzutreiben, sie zu bekriegen, zu bekämpfen: das ist die eine Seite des Ichs. Aber auf der anderen Seite dürfen wir nicht vergessen, dass dieses Ich zugleich dasjenige ist, was dem Menschen seine Selbstständigkeit, seine innere Freiheit gibt, was den Menschen im wahrsten Sinne des Wortes erhöht. In diesem Ich ist seine Würde begründet. Es ist die Anlage zum Göttlichen im Menschen. (in: Apokalypse des Johannes, GA 104)
Unser Ich ist der explosive Faktor, in ihm tragen wir unseren Untergang in uns. Aber auch unseren Aufgang. Die Frage ist nur, wie schnell wir das eine oder andere aktualisieren. Enzensberger spricht von den autistischen Zügen unseres Bewusstseins und der damit einhergehenden Selbstzerstörung. Man kann sie überall beobachten, die Verzweiflungstaten, das Zerbrechen am Einzeln-Sein. Das Selbst der Menschen ist überladen, überfrachtet von Spannungen. Die Zerreißproben häufen sich. Zu viel des Unvereinbaren hat sich im Bewussten und Unbewussten angesammelt. Die Medien befeuern dies, sie tragen die Flammen von Konfliktsfeldern aus aller Welt in uns hinein. Und irgendwann werfen wir das unheilige Feuer, das in uns entzündet wird, nach außen. Denn alles Innere drängt nach außen, ganz dem schöpferischen Prozess entsprechend, in den auch wir eingebunden sind. Allerdings haben wir die große Möglichkeit, alles, was an zerstörerischen Kräften in uns eintritt und wirkt, dem Göttlichen in unserem Innersten zu übergeben – und es tritt verwandelt nach außen.
Der Strom ist noch da, immer noch sind da Sympathie, Liebe, Empathie, Spiritualität. Sie klopfen weiterhin an, wollen zurückkehren, uns reinigen und erfüllen. Aber es gelingt nicht so recht, unsere Bemühungen bleiben Stückwerk. Zu viel ist in uns abgelagert, Ergebnisse jahrtausende langen Streits.
Lass die Toten ihre Toten begraben;geh du aber hin und verkündige das Reich Gottes (Lukas 9, 60). Das sind seltsame Worte – wir haben sie vielleicht schon einmal gelesen. Nun erklingen sie im Innern, ganz neu, gleichsam durch innere Wolken und Schwaden hindurch. „Jetzt bist du tot, aber das Leben wartet auf dich.“ Wo ist es denn, das Leben? Eine Aussage fällt mir ein: Im farbigen Abglanz haben wir das Leben (Goethe, Faust Teil 2, 1. Akt, Anmutige Landschaft). Wie lange muss ein Satz wirken, ehe er seine Bedeutung wahrhaft enthüllt?
Mein Körper mit seiner wunderbaren Gestalt, seiner Organstruktur und seinen Gliedmaßen, mein Ich und sogar meine Lebenszeit – sie sind Spiegelungen, sind ein farbiger Abglanz. Sie kommen irgendwo her, sind nicht einfach so da. Jeder besitzt einen Ursprung, ein Urbild, dessen Abbild er ist. Auch seine Freiheit wird in ihn hineinprojiziert. In ihr sind wir fort-geschritten von dem, was in unserem Innersten ist. Doch nun ruft es uns zur Rückkehr auf, zum erneuten Einssein mit ihm, mit uns selbst. Das Innerste will uns umhüllen, uns mütterlich tragen als sein Kind, uns leiten bei unserem Reifwerden. Das Weggehen, unser Fortschritt, erweist sich als ein Gang ins Haltlose, ins Hüllenlose, in ein Außen, das den Bezug zu seinem Innen verloren hat. Die Folge davon ist – so der Philosoph Peter Sloterdijk – die „Psychose“, das „latente Urthema der Moderne“. Der Prozess der Moderne [impliziert] eine Initiation der Menschheit ins absolute Außen. (Sloterdijk, Sphären, S. 335)
Wir halten die materiellen Gestalten der Welt für die alleinige Wirklichkeit. Der Segen der Wissenschaft öffnet die Tür auch für den folgenreichsten Aberglauben, den Glauben an das absolute Außen. Das heißt: an den Tod. Wir haben den aktiven, den fortwährend schöpferischen Pol, den Pol des Lebens, vergessen. So ziehen wir haltlos, hüllenlos, alles in die Ungleichgewichte unseres Bewusstseins hinein, was uns stabilisieren könnte. So umhüllt uns nun Fremdes. Die Konsequenzen dieser Selbstzerstörung sind, dass wir auch das Umfeld zerstören, in dem wir leben. Viele Menschen wissen und spüren nichts mehr vom Innenleben der Natur.
Aber das Potenzial, wieder ganz zu werden, besteht weiter. „Du bist gar nicht so allein, wie du meinst, du bist noch nicht völlig zerstört“, so könnte man eine innere Stimme deuten. „Du bist meine Offenbarung, durch dich will ich mich in der Welt zeigen.“
Mitunter geraten Menschen in Lebensgefahr. Ihr inneres Gefüge bricht auseinander, vielleicht nach einem Unfall, bei einer schweren Krankheit oder einer Nahtoderfahrung. Und plötzlich ist es da, das Ich-Bin. Ruhig, gelassen, erfüllt von Frieden, Freude, Liebe. Unberührt von der äußeren Szenerie, die dramatisch sein mag, leuchtet es auf, eins mit allem und doch es selbst.
Aber man muss nicht in Lebensgefahr geraten, um eine solche Erfahrung zu machen. Die inneren Abgründe reichen dafür aus. Sie können eine gewaltige Sehnsucht erwecken, können uns zu einem Hilfeschrei veranlassen, der in die Tiefen unseres Innern hineinschallt.
Und es kommt Antwort. Das scheinbare Nichts schaut mich an, spricht „Worte der Stille“ zu mir. Ich suche diesen Blick immer wieder – und es entstehen in mir Augen für ihn. Ich lausche den „Worten der Stille“ immer wieder – und es entstehen in mir Ohren für sie.
Aus der Morgenröte der Menschheit klingen Worte herauf, die dies widerspiegeln:
Nicht durch Reden, nicht durch Denken, nicht durch Sehen erfasst man ihn. „Er ist!“ durch dieses Wort wird er und nicht auf andere Weise erfasst. „Er ist!“ so ist er auffassbar, sofern er beider Wesen ist. „Er ist!“ wer so ihn auffasst, dem wird klar seine Wesenheit.
(Kathaka Upanishad, Sechste Valli)Es ist wahr! Es ist sicher! Es ist die volle Wahrheit!
Was unten ist, ist gleich dem, was oben ist,
und was oben ist, ist gleich dem, was unten ist,
damit die Wunder des Einen sich vollziehen.
(Tabula Smaragdina)
Friedrich Hölderlin gehört zu denen, die „es“, das Große, in unsere Zeit übertragen. Über sie, die reif werden, sagt er: Sie hören das Wort, längst ausgesprochen von Morgen nach Abend [Osten nach Westen], jetzt erst.
Denn: Nah ist / und schwer zu fassen der Gott. / Wo aber Gefahr ist / wächst das Rettende auch. Wer sich diesem Rettenden öffnet und sich mit ihm vereint, in ihm geht eine neue Sonne auf, in ihm erscheint der Gott in goldnen Wolken seiner Aura. (aus: Friedensfeier, Patmos und Der Archipelagus)
Hierfür sind wir sowohl Geburtenschoß wie auch Hebamme. Der Gott in uns, das ewige Ich-Bin, will als ein Rettendes emporsteigen. Als Abgenabelte können wir den mütterlichen Urgrund erneut finden, können uns ihm anvertrauen und uns gleichsam in ihn ausgießen. Unsere Seelen gleichen dem Wasser, der Urgrund gleicht dem Feuer. Wenn unsere Sehnsucht groß genug ist und wir unser Leben auf sie abstimmen, wandelt sich das Wasser zu Wein, wie es das Gleichnis sagt. Wir finden Anschluss an den kosmischen Weinstock und werden zu seinen Reben.
Eine zweite Gestalt bildet sich innerhalb der jetzigen heran, eine Gestalt aus Licht, aus „Wasser und Geist“. Licht, Träger des Lebens, stirbt in uns hinein und strukturiert sich in uns zu einem seelischen „Körper“, subtil, ätherisch, sich nach Belieben ausweitend und zusammenziehend. Die unsterbliche Gestalt entsteht durch die vollkommene Hingabe unseres Ichs und des inneren Gottes zugleich. Sie vereinen sich in gemeinsamer Schöpfung, sterben beide hinein in das neue Abbild, den unsterblichen Menschen.
Die Taten der Vergangenheit haften noch am alten Körper, sie begleiten uns noch. Ja, die Schatten treten jetzt, unter dem Einfluss des Lichtes, erst richtig zutage. Denn sie wollen erlöst werden, wollen durch Erkenntnis verwandelt werden in Weisheit. Das geschieht durch Vergebung, Gnade, Akzeptanz. Wir müssen sie aushalten, müssen sie durchschauen. Alles, was wir hierbei tun und lassen, bildet sich ab in der Struktur des neuen Seelenkörpers. Es verleiht ihm die Tiefe der Reifung; die Ernte des so langen Einzeln-Seins wird eingefahren.
Auch die Zeit wandelt sich. Bislang Ausdruck karmischer Kräfte, wird sie nun leichter, erhebt sich auf eine andere Ebene. Was den neuen Seelenkörper betrifft, entsteigen wir den Kausalitäten der Vergangenheit. Vertikales tritt auf und erfüllt die Momente. Wie weit das geschieht, hängt vom Ausmaß unserer Hingabe an das überzeitliche Ich-Bin ab. Und von unserer Möglichkeit, mit seiner Hilfe die aus dem Unterbewussten aufsteigenden Schatten zu verwandeln. Allmählich bildet sich unser „Ort“, das neue Abbild des Lebens in den Seelensphären zwischen unten und oben. Zeit und Zeitlosigkeit verschränken sich hier und ermöglichen Wege in aufwärts führenden Strömen. Von Moment zu Moment vollzieht sich die Neuschöpfung, ergießt sich der Eine in sein Abbild.
Sei hilflos, erstaunt,
unfähig, ja oder nein zu sagen.
Dann werden wir von der Trage der Gnade aufgehoben.
Wir sind zu benebelt, um diese Schönheit zu sehen.
Wenn wir sagen, wir könnten es, dann lügen wir.
Wenn wir sagen: „Nein, wir sehen sie nicht“,
dann enthauptet uns dieses „Nein“
und verschließt unser Fenster zum Göttlichen.
So lasst uns lieber in Bezug auf alles unsicher sein,
außer uns selbst,
und auch das nur, damit Wunder wirkende Wesen uns zur Hilfe eilen.
Ganz außer uns liegen wir im Kreis des Nichts, still,
und werden schließlich mit erstaunlicher Wortgewandtheit sagen:
„Führe uns!“
Wenn wir uns dieser Schönheit vollkommen hingegeben haben,
werden wir kraftvolle Freundlichkeit sein.
(Rumi)