Leben und Tod sind wie zwei Seiten einer Medaille. Das Verkörpertsein und die Zeit zwischen Tod und Geburt bilden zusammen den Gang der Inkarnationen.
Für das materiegebundene Bewusstsein sind solche Gedankengänge jedoch reine Theorie, es sieht nur (Da-) Sein und Nichtsein und verdrängt daher den Tod. Doch schmälert diese Sicht nicht auch die Fülle des Lebens? Wie der Zen-Buddhismus die Samurai prägte.
Wer seine Endlichkeit nicht kennt oder wahrnimmt, lebt, als wäre er ewig. Doch dies ist eine Ewigkeit, die zur bloßen Dauer mutiert, geduckt unter dem bleiernen Regiment der Zeit.
Kindern ist das Gefühl des Unbegrenztseins zu eigen, in ihrer Selbstwahrnehmung und in Bezug auf die Zeit. Selbst und Welt fließen zusammen und trennen sich nur für Momente, wenn etwas Gewünschtes nicht erlangt werden kann. Kinder leben im Augenblick. Was eben war, ist vergessen. Freude und Schmerz versinken in der Aufmerksamkeit jedes Augenblicks. Was jetzt ist, ist neu. Die Zeit ist erfüllt, jeder Tag eine gefühlte Ewigkeit. Das bleibt nicht so. Das Kind lernt Dinge und Abläufe kennen, es entwickelt Routinen. Sein Bewusstsein zieht sich immer öfter vom unmittelbaren Augenblick zurück. Das Kind wächst heran und trifft Entscheidungen, es wählt seinen Lebensweg: Die Frage, ob etwas – oder jemand – helfen kann, ein Ziel zu erreichen, färbt die einen Wahrnehmungen und schließt das Bewusstsein von anderen ab. Die entstandenen Leerräume werden von Plänen, Träumen und Ängsten erfüllt. So trocknet die Intensität der Kindheit und Jugend langsam aus, und die Verzweckung der Welt beginnt. Irgendwann erstreckt sie sich – zuallermeist ohne böse Absicht – auch auf Menschen, die in den eigenen Beziehungen bestimmten Zielen dienen sollen. Dann ist die Fülle des wunschlosen Augenblicks verloren und die Zeit zum Aufschub geworden, zur Wegstrecke bis zum Ende.
Irgendwann im Verlauf dieser Entwicklung beginnt jeder Mensch, die Erlebnisfülle der Kindheit und Jugend zu vermissen. Die Erkenntnis kann dämmern, dass die Fülle nur in großer Offenheit zu erlangen ist, dass wir den neuen Augenblick nur richtig einlassen können, wenn wir den eben vergangenen genauso loslassen wie unsere Erwartungen an die Zukunft. Unsere eingefleischte Weise, Dinge und Erlebnisse zu sammeln und unser Bewusstsein (und dazu oft auch unsere private Umgebung) so zu füllen, steht dem entgegen. Dem steht auch unser Ich entgegen, das das Ergebnis all dieses Ansammelns ist. „Ich bin, was ich getan habe, was ich liebe, was ich noch zu erreichen gedenke …“ Die schönen Momente unseres Lebens dienen der Anreicherung dieses inneren Habenkontos, sie dekorieren die Erzählung unserer selbst. So leben wir zumeist, obwohl wir auch andere Erfahrungen gemacht haben, obwohl wir Schönheit und Gelingen kennen, die nur durch Loslassen und Mitgehen mit dem Geschehen zu erlangen waren. Dieses Loslassen im Kleinen zu üben, ist eine gute Möglichkeit, sich selbst in einer relativen Freiheit vom Strom der eigenen Erzählung und frei vom Besitzen (von Dingen, auch der eigenen Geschichte) neu zu erfahren.
Jetzt fürchten und verdrängen wir den Tod, weil wir alles Große und Ewige in der Vergänglichkeit realisieren wollen, weil wir uns und unsere höchsten Lebensziele in der Zeit eingeschlossen haben. Wir suchen Dauer. Schönheit, Kraft, Weisheit und Liebe sollen sich aufsummieren bis zur Vollkommenheit, als Beweise des Gelingens. – Auch wer sich im Lauf seines Lebens von den großen Ideen verabschiedet hat, sucht das kleine Glück im Winkel zu schützen und zu halten.
Der Schlüssel zur Fülle jedoch liegt im Sterben des Ichs in jedem Augenblick. Halten wir an unserem Ich fest, werden wir seine Geschichte am Gängelband der Zeit in Varianten forterzählen, bis es nichts mehr zu erzählen gibt. Können wir uns von unserem Ich lösen, dann können wir der Zeit sterben und uns einen neuen Lebenszustand erschließen.
Das Ich ist selbst die Grenze, die uns vom tieferen Leben abschließt und uns den Tod zum Rätsel und zum Schrecknis macht. Dies umso mehr, als Alter und Tod in unserer Gesellschaft aus dem normalen Leben ausgelagert sind und wir unsere Lebensgeschichte gerne als unendliche Entwicklung begreifen möchten.
Samurai und Zen-Buddhismus
Im Japan des siebzehnten Jahrhunderts finden sich Spuren einer Lebenseinstellung, in der die wiederholte Konfrontation mit dem möglichen eigenen Tod und eine spirituelle Philosophie des Nicht-Ich eine Synthese eingegangen sind, die zur Transzendierung von Leben und Tod führt und einen umfassenden kulturellen Impuls gesetzt hat. In dieser Zeit verbanden sich im feudalen Japan der Weg der Samurai und der Zen-Buddhismus auf intensive Weise. Der Zen-Lehrer Takuan Sôhô (1573-1645) verfasste mehrere Briefe an einen Schwertmeister. Diese Texte beschreiben aus einem fundamentalen Verständnis des Handwerks des Schwertkämpfers heraus die Schwertkunst und zeigen sie als Weg zur Selbstüberwindung.
Takuan Sôhô stellt die Schwertkunst als einen Kreis dar: vom unvoreingenommenen Beginn des Neulings über die Komplexität des Lernens zur wiedergewonnenen Mühelosigkeit des Meisters. Dabei wird deutlich, dass der Meister nicht nur über die Anstrengung hinausgewachsen ist, seine Haltung, Schwertführung und Beherrschung des Raumes zu einer Einheit zu verschmelzen, sondern dass er auch absichtslos werden kann und sollte, um mit dem Geschehen ebenfalls zu verschmelzen.
Ein Mensch wird erst dann zum Meister, wenn er nicht mehr an sich selbst denkt, selbst im Kampf auf Leben und Tod.
Takuan Sôhô schreibt dazu:
Da der Anfänger nichts über seine Körperhaltung oder die Haltung des Schwertes weiß, verweilt sein Geist bei nichts, was in ihm ist. Führt jemand einen Streich gegen ihn, so begegnet er dem Angriff einfach, ohne etwas im Sinn zu haben.
Wenn er nun verschiedene Dinge studiert und übt und man ihn lehrt, wie man eine Stellung einnimmt, wie man das Schwert hält und wo sein Geist sein soll, so wird sein Geist an vielen Stellen haltmachen. Wenn er nun wider seinen Gegner einen Streich führen möchte, so ist er in arger Verlegenheit. Später, wenn die Tage vergehen und die Zeit sich ansammelt, wird die Übung dazu führen, daß er die Haltung des Körpers und des Schwertes nicht mehr eigens erwägen muß. Sein Geist wird wieder so, wie er am Anfang war, als er noch nichts wußte und alles erst noch lernen mußte.[1]
Wenn einer seinen Geist in die körperlichen Aktionen seines Gegners legt, wird sein Geist von den körperlichen Aktionen seines Gegners gefesselt.
Legt er ihn in das Schwert seines Gegners, wird sein Geist von diesem Schwert gefesselt. Legt er seinen Geist in den Gedanken, daß der Gegner ihn zu treffen beabsichtigt, wird sein Geist von dem Gedanken gefesselt, daß der Gegner ihn zu treffen beabsichtigt.
Legt er seinen Geist in sein eigenes Schwert, wird sein Geist von seinem eigenen Schwert gefesselt.
Legt er seinen Geist in sein eigenes Bestreben, nicht getroffen zu werden, so wird sein Geist von seiner eigenen Absicht, nicht getroffen zu werden, gefesselt. […]
Dies soll heißen, daß es nichts gibt, worin der Geist verweilen sollte.[2]
Diese Zeilen sind ein Kernstück des Werkes, weshalb die englische Ausgabe The Unfettered Mind betitelt wurde: Das ungebundene Bewusstsein. Im Kampf auf Leben und Tod absichtslos zu werden, das bedarf jedoch mehr als einer mentalen Übung. Dieses Bemühen hat nur Erfolg, wenn einer tatsächlich sein Ich, seine Verankerung in Zeit und Raum, mithin seine tiefsten Daseinsängste überwindet. Wenn er es wagt, zu sterben, bevor er stirbt[3]. Das lebend Sterben war nicht nur bei christlichen Mystikern, sondern auch im Zen ein zentrales Thema. Dementsprechend wurde der Schritt in die Erleuchtung auch als (mentaler) Sprung von der Klippe bezeichnet. „Stirb lebend, […] und alles wird gut sein“[4] war ein weithin verbreiteter Ansporn in den Zen-Klöstern dieser Zeit.
Ist es nicht frivol, im blutigen Geschäft der Krieger Spiritualität auch nur zu vermuten? Kann für die Überwindung des Ichs die Kriegskunst als Hilfsmittel gebraucht werden? Oder anders: Kann jemand, der sein Ich überwunden hat, überhaupt noch das Schwert erheben? In der feudalen Gesellschaft der damaligen Zeit hatte jeder von Geburt an seinen festen Platz. Der Bauer blieb Bauer, der Samurai Samurai. Jeder konnte seinen Platz nur mehr oder weniger korrekt und ehrenvoll ausfüllen. Der vielfach preisgekrönte Schriftsteller Yasushi Inoue (1907-1991) spürt in seinem Roman Der Tod des Teemeisters der Frage nach, warum Sen nô Rikyû (1522-1591), der Teemeister, vom damaligen Shôgun[5] Hideyoshi den Befehl erhielt, sich rituell zu töten und ob Rikyû es letztlich sogar darauf anlegte, diesen Befehl zu erhalten. Er lässt eine Gruppe Samurai auftreten, die bei dem berühmten Teemeister die Zen-Kunst des Tee-Weges studieren und ihre gemeinsamen Teezusammenkünfte gelegentlich unterbrechen, um in die Schlacht zu ziehen. Es entsteht das Bild einer Gruppe Menschen, die ihre meditative Geisteshaltung beibehalten, was immer sie auch tun. Die Bereitschaft zu sterben erwerben sie im Teehaus. Die Ambivalenz, die in dem Zusammentreffen von meditativem Weg und Kriegskunst liegt, wird in dem genannten Roman so zur Sprache gebracht: Rikyû war beim Tod etlicher Samurai anwesend. Wie viele sind in die Schlacht gezogen, nachdem sie bei Meister Rikyû Tee getrunken hatten? Und fanden den Tod. Wenn man so viele gewaltsame Tode vorbereitet hat, kann man doch nicht auf dem Lager sterben.[6]
Dennoch: Die Situation des Kriegers vor der entscheidenden Schlacht wurde im Zen-Buddhismus auch auf den Menschen angewendet, der Erleuchtung suchte. Sie galt als Hinweis auf das Jetzt, in dem allein der Sprung ins Unbekannte der Erleuchtung geschehen kann: „Ein tapferer Übender, der sich wie ein von Feinden umstellter Krieger verhält, kann in einem Augenblick erleuchtet werden.“[7] Erst wenn das spirituelle Streben diese existenzielle Qualität erhält, kann es zum Fundament des Lebens (und Sterbens) werden.
Es gibt keinen Aufschub: Der Tod kommt jetzt. Den Pfad kann man nicht morgen gehen, sondern nur jetzt.
Der Samurai gewinnt die Intensität des Augenblicks in dem Bewusstsein, alles (potenziell) zum letzten Mal zu erleben, und wegen seiner Einwilligung darein. Wenn er sich bewusst in den Fluss der Zeit stellt, ohne ihn anhalten zu wollen, gewinnt er zugleich die Frische des Anfangs, des Neuen. Es ist wie ein Erwachen, das tatsächlich das Auftauchen aus dem Strom der Zeit bedeuten kann. Die Lebenshaltung des Samurai ist vielfach romantisiert und entsprechend für die Populärkultur aufbereitet worden. Doch den realen Anlass, sich dem Tod zu stellen und daraus ein neues Leben zu gewinnen – und die Hilfe dazu –, das gab es.[8]
Diese Situation lässt sich auch in unser heutiges Leben übertragen. Alle Herausforderungen, alle Krisen können zu Wendepunkten im Leben werden, an denen Menschen das Enden des Alten, mithin auch ihres alten Seins, akzeptieren. Auch ein Lebensgang, auf dem sich ein grundsätzliches Ungenügen am kleinen, halbwegs abgesicherten bürgerlichen Dasein einstellt, kann das Ende der Zeitlichkeit einläuten: Wenn etwas im Menschen die zu eng gewordene Schale sprengen will und er einwilligt, ja mutig das unbekannte Neue einlässt, kann es geschehen. Solch ein Ende ist ein Erwachen, wenn das Bewusstsein des Anderen, das in der Tiefe des eigenen Wesens lebt (auch ein Topos im Zen, z.B. bei D.T. Suzuki) durchzudringen beginnt: Es vereint Leben und Tod und transzendiert dadurch beide.
Takuan Sôhô schrieb in guter Zen-Tradition als Todesgedicht das Zeichen für Traum, yume – und starb.
[1] Takuan Sôhô: Zen in der Kunst des kampflosen Kampfes / Meister Takuan. Hrsg. von William Scott Wilson, Bern, München, Wien 1993, S. 24-25
[2] a.a.O., Seite 32-33
[3] Wie Angelus Silesius (1624-1677) sagte: „Wer nicht stirbt, bevor er stirbt, der verdirbt, wenn er stirbt.“
[4] In: John Stevens: Three Zen Masters. Tôkyô, New York, London 1993, S. 66
[5] Eines hochrangigen Samurai, der anstelle des Kaisers die Regierungsgeschäfte führte
[6] Yasushi Inoue: Der Tod des Teemeisters. Frankfurt am Main 2007, Seite 148
[7] Eine von Hakuins Lehren, in: John Stevens: Three Zen Masters. Tôkyô, New York, London 1993, S. 77
[8] Dieser spirituelle Hintergrund ist nicht zu vergleichen mit dem, was Selbstmordattentäter antreibt. Es geht nicht um die rauschhafte Gegenwärtigkeit vor der Tat, auch um keinerlei Versprechen darüber, was nach dem Tod wartet. Es geht vielmehr um das Aushalten der unendlichen Möglichkeiten des Jetzt und darum, mit ihnen in Einklang zu kommen, was sie auch bringen mögen.