Zu Beginn: Eine Begegnung mit Meister Eckhart

Ein einfacher Tisch, davor ein wackliger Stuhl, an der Wand ein abgewetztes schmales Bett. Und jetzt steht er vor mir: Meister Eckhart, der wohl größte Theologe und Mystiker des späten Mittelalters, in einer Kerkerzelle. Man sieht ihm seine Fassungslosigkeit an – in diesem Moment resümiert er seine Verteidigungsrede gegen die Vertreter der Inquisition.

Zu Beginn: Eine Begegnung mit Meister Eckhart

 

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Jetzt richtet Meister Eckhart die Rede an mich:

„Vielleicht überrascht es Sie, dass Sie Meister Eckhart in solch einer Lage vorfinden.
Den Meister Eckart, Doktor der heiligen Theologie. Wie Ihnen bekannt sein dürfte, predigte ich in den größten Gotteshäusern Europas: Straßburger Dom, Kölner Dom, Notre Dame de Paris. In aller Bescheidenheit: Vor Hunderten mal Hunderten mal Hunderten von meiner Rede zutiefst ergriffenen Gläubigen.“

Da Meister Eckhart mich nun so direkt anspricht, ergreife ich die einmalige historische Gelegenheit, ihm einige Fragen zu stellen.

„Meister Eckhart, verzeihen Sie, dass ich Sie in einer so misslichen Situation bitte, Ihnen einige Fragen stellen zu dürfen. Fragen, deren Beantwortung weit über den heutigen Tag hinaus Bedeutung haben werden. Sie können  es nicht wissen und auch kaum glauben, aber 750 Jahre nach Ihrem Wirken gelten Sie als ein moderner Theologe wie kaum ein anderer und sind sogar in anderen Religionen wir dem Buddhismus und Hinduismus hoch geachtet und beliebt. Für  Erkenntnissuchende aller Richtungen sind Ihre Predigten und andere Schriften oft ein großer Gewinn, denn viele bedeutenden Fragen des menschlichen Lebens werden von Ihnen behandelt. Sagen Sie, woher kommt diese beinahe universelle und zeitlose Bedeutung Ihrer Worte?“

Ein helles strahlendes Leuchten ist nun in den von dunklen Rändern umgebenen  Augen Meister Eckharts zu sehen.

„Nun das freut mich sehr zu sehen, dass auch die Inquisition nicht vermochte, die Wahrheit aus den Herzen der Menschen zu verbannen.
Ich habe immer gesagt: Gott ist nicht außerhalb von dir! Suche ihn in deinem Innersten! Und du sollst dir kein Bild von Gott machen. Du sollst Gott lieben wie er ist: ein Nichtgott,
eine Nichtperson, ein Nichtbild. Vielleicht ist das die radikale Botschaft, die auch noch in eurer Zeit die bewussten Menschen ansprechen: Gott wird erst durch den Menschen – durch dich – zu einem Gott. Also hast du die große Freiheit, ihn in deinem Herzen zu suchen und zu finden.“

„Ja – Freiheit ist ein großer Begriff in der heutigen Zeit. Die zwanghaften Bindungen an kirchliche und gesellschaftliche Institutionen sind aufgebrochen und der moderne Mensch glaubt nicht mehr an Fremdbestimmung und Unterwerfung unter eine Hierarchie. Aber er hat große Schwierigkeiten, mit seiner Freiheit etwas anzufangen. Es scheint fast so, als wenn er mit immer größerer Freiheit immer unfreier wird. Was würden Sie, Meister Eckhart, dem heutigen Menschen dazu sagen?“

Meister Eckhart wiegt seinen Kopf leicht zur Seite, als müsse er erst einmal intensiv über das Gesagte nachdenken, dann lacht er leise  und sagt:
„Nun, die Zeiten ändern sich und ändern sich auch nicht. Warum ist das so?
Weil der Mensch in jeder Zeit  seinen Urgrund, sein tiefstes wahres Wesen, wieder finden muss. In eurer modernen Zeit wird er sicher nicht so schnell angeklagt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt, wenn er mutig seinen Glauben vertritt, aber trotzdem fällt es ihm doch schwer, wahrhaft zu denken und zu fühlen und seine vielen festen Vorstellungen und Gefühle zu lassen um zu einem Sein aus dem Geiste heraus zu gelangen. Siehst du – das fällt allen Menschen zu allen Zeiten schwer. Und was rate ich ihnen deswegen?
Erkenne! Erkenne dich und die Welt durch das Leben und den Geist!
Es ist nicht so wichtig, dass du Visionen hast, dass du dies und jenes glaubst.
Wichtig ist, dass du erkennst. Nicht allein aus deinen Sinnen und einem Wissen der alltäglichen Dinge heraus, denn dies alles  täuscht uns,
sondern erlange Erkenntnis aus der Seele heraus, in der die Gottheit wohnt.
Und dann lebe deine Erkenntnisse in einem tätigen, praktischen und von Liebe geleiteten Leben.“

Diese letzten Sätze spricht Meister Eckhart wie in tiefer Meditation, dann richtet sich sein Blick wieder auf seine Unterlagen, in denen er Notizen für seinen bevorstehenden Prozess gemacht hat. Unvorstellbar, dass dieser außergewöhnliche Mensch vielleicht bald wegen Häresie verurteilt werden könnte.

„Worauf wird der Schwerpunkt ihrer Verteidigungsrede liegen, Meister Eckhart?“ durchbreche ich die Stille.

„Ich fürchte, es geht dem Erzbischof von Köln nicht um die Rede über den Glauben, sondern um Macht. In aller Bescheidenheit kann ich sagen, dass ich hier in Köln durch meine Predigten einen großen Bekanntheitsgrad in der Christengemeinde habe und da sieht der Erzbischof Heinrich II von Virneburg eine ernste Gefahr für seine Vormachtstellung in der Diozöse heraufziehen.  
Ja, das Gespenst der Häresieverdächtigung wird immer mächtiger. Scheiterhaufen aller Orten. Man übergibt missliebige Bücher dem Feuer. Und wo man Bücher verbrennt, verbrennt man bald auch Menschen, Christenmenschen. Gerade erst im letzten Jahr, 1325, ist ein größere Anzahl der Häresie verdächtiger Begarden verbrannt oder im Rhein ertränkt worden.
Und nun hat man einzelne Sätze aus verschiedener meiner Texte und Predigten herausgenommen,  Bruchstücke allenfalls, ohne Zusammenhang, teilweise noch durch eine schlechte Rückübersetzung ins Lateinische verstümmelt. Mit diesen Textfetzen versucht man zu beweisen, dass ich die Gemüter der gläubigen Gemeinde verwirre. Es ist ein Hohn, sehe ich doch Tag für Tag bei meinen Predigten, wie die Augen dieser Gläubigen bei meinen Worten in heller Klarheit und Freude leuchten.
Ich habe gegen diese gezielte Verleumdung eine Rechtfertigungsschrift verfasst und an den in Avignon residierenden Papst Johannes XXII. geschickt. Ich habe auf die Unrechtmäßigkeit des gesamten Verfahrens hingewiesen und dass mein Leben und meine Lehre bislang im vollen Einklang mit der Kirche und meinen Orden der Dominikaner gestanden hat.
Ich musste allerdings doch auch – entgegen meiner sonstigen Gepflogenheit – anmerken, dass meine Ankläger von Unverstand und Geistesbeschränktheit, ja von ausgesprochener Bosheit sind.
Ich werden  – sobald ich hier den Kerker verlassen kann – auch die Christengemeinde in der Kölner Dominikanerkirche über den Stand der Dinge aufklären und mich dann auf den Weg nach Avignon machen, um alle Anschuldigungen dem Papst gegenüber zu entkräften.“

Erschöpft von diesen Worten sackt Meister Eckhart förmlich in sich zusammen und starrt wieder auf seine Aufzeichnungen.

Wir wissen bis heute nicht, wie es Meister Eckhart auf dem Weg oder Rückweg nach Avignon ergangen sein mag. Denn als das Urteil zum päpstlichen Prozess erfolgte und durch die Bulle „In agro dominico“ vom 27.März 1329 publik gemacht wurde, lebte Eckhart schon nicht mehr.
Das Urteil selbst entsprach einer totalen Niederlage, denn mit 28 verurteilten Sätzen wurde Eckhart bescheinigt, er habe „mehr wissen wollen als nötig war, er habe „sein Ohr von der Wahrheit abgekehrt und Erdichtungen zugewandt, mit einem Wort: Er sei „ein irregeleiteter Mensch“.

Die Schriften Eckharts wurden als nicht mit der Rechtgläubigkeit eines Christen zu vereinbaren beurteilt. Auf Jahrhunderte hinaus war ihnen dabei ein Schattendasein beschieden.
Erst sechs Jahrhunderte nach Eckharts Tod wurden seine Texte wieder entdeckt.

Ich lasse Meister Eckhart in seiner Zelle zurück.
Trotz besseren Wissens verabschiede ich ihn mit den besten Wünschen für seine Reise zum Papst nach Avignon und seinen Prozess.

„Danke für die guten Wünsche!“, erwidert Meister Eckhart und lächelt sanft.
„Wenn du alles aus dem Grunde deiner Seele tust, ohne ein einziges Warum, so findet dich Gott und nimmt und empfängt dich als das, was du jetzt bist.
Ich bin innerlich frei – Was soll mir geschehen?“

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Article info

Date: November 12, 2020
Author: Burkhard Rabot-Averbek (Germany)
Photo: Isolde Hupp

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