Unsere Augen sind auf die Schattenseiten des Todes fixiert. Sie sehen nur, wie die Form zerfällt. Die Sicht auf das fortdauernde Leben in feinstofflichen Strukturen bleibt ihnen verschlossen.
So haben wir eine Karikatur des Todes geschaffen, ein Gegenbild, ein Schattenbild, das wir als Realität ausgeben.
O wie erhaben ist der Geist, der unter Leitung der wahren Weisheit sich selbst mit von Leben und Licht verfeinerten geistigen Augen wahrnimmt. Der Mensch ist aus Gott, dem Vater allen Lichtes und Lebens geboren. Darum kehrt der Geist, der entdeckt, dass er aus Leben und Licht geschaffen ist, zurück zum Leben und zum Licht.
Robert Fludd, 1574–1637
Zu allen Zeiten gibt es Denker, die, unabhängig von Beruf und Ausbildungsgrad, um das Erfassen der wahren Bedeutung des Lebens und des Todes ringen. Die Erkenntnisse, zu denen sie gelangen, sind für den Verstand meist spekulativ. Sie gehen über ihn hinaus. Aber da wir mehr sind als unser Verstand, können die Aussagen Resonanzen in uns hervorrufen und können uns mit inneren Gewissheiten erfüllen. Denn was im Bewusstsein anderer aufgestiegen ist, kann auch in uns latente Wahrheitsschichten berühren und erwecken. Es ist bemerkenswert, wie sehr die inneren Erkenntnisse, auf unterschiedlichsten Wegen errungen, übereinstimmen bzw. sich ergänzen.
Warum werde ich geboren, muss mich durch so vieles hindurchkämpfen, um dann irgendwann zu sterben.
Was momentan den Menschen das Verständnis des spirituellen Lebens erschwert, ist die Tatsache, dass die geistigen Sinnesorgane eingeschlafen sind, die es ihnen zu ermöglichen, dieses [spirituelle Leben] zu fühlen und zu leben.
Omraam Michaël Aivanhov
Ein strahlender winterlicher Sonntagmorgen in Berlin. Ich gehe an einer Parkanlage entlang, die zum Potsdamer Platz führt. Es gibt vieles zu entdecken: moderne Geschäfte, futuristische Architektur …, und über all dem strahlt der blaue Himmel. Meine Stimmung ist hervorragend, ich bin froh und fühle mich erhoben. Mitten in diesem Zustand blitzt, gleichsam aus dem heiteren Himmel heraus, eine Frage durch meinen Kopf, die Frage nach dem Geheimnis des Todes.
Wir leben im 21 Jahrhundert und stellen fest, dass der Naturwissenschaft, trotz all ihrer Verdienste, die wahre Bedeutung des Todes verschleiert bleibt. Doch gibt es in allen Kulturkreisen spirituelle Lehrer, und sie geben uns bedeutsame Hinweise.
Auf jeden Fall befindet sich alles in einem Zustand immerwährender, fortschreitender Entwicklung, das heißt, die gesamte Schöpfung, das ganze Universum, bewegt sich auf eine Vollkommenheit zu, die zurückzuweichen scheint, wenn man sich ihr annähert, denn was zu einem Zeitpunkt vollkommen erscheint, ist es nach einer gewissen Zeit nicht mehr.
Sri Aurobindo, Mira Alfassa
Der allem Lebendigen innewohnende Drang zur Entwicklung stößt, wenn man diese Sicht zugrunde legt, an die Grenzen der vorhandenen Formen. Sie sind zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr in der Lage, einen weiteren Fortschritt zu ermöglichen. Goethes Faust sprach zur Erde: Du regst und rührst ein kräftiges Beschließen, / zum höchsten Dasein immer fortzustreben. Die eigentliche Funktion des Todes besteht darin, das innere Wesen und die von ihm geprägten Lebensenergien aus der erstarrten Form herauszulösen.
Unsere Augen sind auf die Schattenseiten des Todes fixiert. Sie sehen nur, wie die Form zerfällt. Die Sicht auf das fortdauernde Leben in feinstofflichen Strukturen bleibt ihnen verschlossen. So haben wir eine Karikatur des Todes geschaffen, ein Gegenbild, ein Schattenbild, das wir als Realität ausgeben. Es erzeugt Angst, und diese wird auf vielerlei Weise geschürt. Sie ist dazu geeignet, Macht über Menschen auszuüben. Ganze Ideologien, Herrschaftssysteme und Wirtschaftsinteressen leben davon, die Menschen in ihrer Angst vor dem Tod gefangen zu halten.
Es ist wahr, wir erfahren tiefen Schmerz beim Verlust eines geliebten Menschen. Wir können allerdings zugleich eine tiefgreifende Einsicht in die Bedeutung des Todes gewinnen, wenn es uns gelingt, die Seele dessen, der seinen stofflichen Körper abgelegt hat, durch unsere Liebe zu ihm noch eine Weile zu begleiten.
Die Materie musste Form annehmen; die Individualisierung und die konkrete Verkörperung der Lebens- oder Bewusstseinskräfte wären ohne Materie unmöglich gewesen.
Sri Aurobindo, Mira Alfassa
Sieht man nur den Schatten, die körperliche Seite des Geschehens, so erschafft man sich ein Gegenbild von dem, was der Tod in Wahrheit bedeutet. Unser Innerstes überträgt uns die Idee des Schönen, Harmonischen und Ewigen. Im Äußeren treten uns, und wie es scheint, zunehmend, das Hässliche, Drohende und Vergehende gegenüber. Die Wucht der Enttäuschung, die Empfindung des Katastrophalen bestimmter Vorgänge, ja des Bösen, ist in ihrem Ausmaß nur erklärbar angesichts des idealen Bildes, das in uns lebt. Die Grausamkeit, Unfruchtbarkeit und Sinnlosigkeit, die uns in Berichterstattungen, Filmen, Büchern und auch in unserem Leben begegnen, scheinen ein höhnisches Gelächter über uns zu verkörpern. Dir wird gewiss einmal bei deiner Gottähnlichkeit bange, sagt Mephisto, der widersachende Geist in Goethes Faust.
In der Abkapselung vom Ganzen, insbesondere von der geistig-seelischen Seite des Lebens, entstehen die Schattenspiele: die Massenillusionen, der Kampf ums Dasein, das Machtstreben, die Selbst- und Fremdschädigung, die Kriege. Die Menschen klammern sich an vorhandene enge Strukturen ihres Daseins und kämpfen um sie. So blockieren sie die weitere Entwicklung ihres Wesens.
Das Leben ist reine Energie und strebt nach dem Einswerden von Geist, Seele und Körper, von Sein, Bewusstsein und Glückseligkeit. Im gebrochenen Bewusstsein – im „unglücklichen Bewusstsein“, wie Hegel sagt, dem in sich entzweiten Bewusstsein – kann die Dreieinheit von Körper, Seele und Geist nicht errungen werden. Der Geist zahlloser Menschen schwelgt in Untergangsphilosophien. Das aber raubt dem Tod seine erneuernde Energie, verweigert seiner Verwandlungskraft den Entfaltungsraum. Durch ihre Angst vor dem Tod erschaffen die Menschen einen Dualismus. Aber das Leben besitzt kein Gegenteil. Es umfasst immer gleichzeitig Geburt und Tod als einen fortwährenden Prozess.
Es gibt im Kosmos zwei wesentliche Formen des Schmerzes: den Schmerz, der durch das Gebundenwerden von Energie an eine Form entsteht und den Schmerz, der sich durch die Loslösung der Energie aus der Form ergibt.
nach Robin Kaiser
So binden wir uns an die Peripherie und gehen nicht, wie Galaad, über die schmale Brücke hinüber zum Gral, unserer geistig-seelischen Dimension. Dabei ist die Materie unseres Körpers und unserer Welt durchaus offen für einen solchen Weg. Wir sind, auch was unsere körperliche Beschaffenheit anbelangt, „lichtfähig“.
Es gibt einen Grundzug der Materie, der voll Finalität treibt und seine mögliche Frucht erst in einem latenten Noch-Nicht innehat.
Ernst Bloch
Rudolf Steiner erklärt in Bezug auf die Materie:
Materie ist ein Trümmerhaufen des Geistes. Es ist außerordentlich wichtig, dass man gerade diese Definition ins Auge fasst, dass Materie ein Trümmerhaufen des Geistes ist. Materie ist also in Wirklichkeit Geist, aber zerbrochener Geist.
Hierfür gibt es ein Bild in den Schriften der jüdischen Mystik, der Kabbala. In einer ersten Schöpfung, die in hohen geistig-seelischen Welten stattfand, zerbrachen die Formen, in denen das Leben Gestalt annehmen sollte. Die Kabbalisten sprechen vom „Bruch der Gefäße“ oder vom „Sterben der Ur-Könige“. Ihre feinstofflichen Formen konnten das Übermaß an Energie, das in sie hinein floss, nicht ertragen. Die Bruchstücke ihrer ätherischen Formen fielen weit hinab und gaben schließlich Anlass zur Entstehung der jetzigen grobstofflichen Welt. Wir selbst sind Verkörperungen dieser Bruchstücke. Wir erlösen sie, indem wir für unser wahres Selbst – den „Urkönig in uns“ – die rechten Strukturen seelischer Art entstehen lassen. Dann wird ein Leben in den höheren Welten wieder möglich.
Wenn eine geistige Form, ein ätherisches Urbild „zerbricht“, manifestiert bzw. realisiert es sich, so Steiner, in unzähligen einzelnen, räumlich und zeitlich fassbaren gleichartigen physischen Erscheinungen, die alle demselben ätherischen Bildungsgesetz gehorchen, von den noch strahlungsartigen Elementarteilchen über die Atome, Moleküle und Kristalle hinauf bis zu den komplexeren physischen Gebilden.
Hieraus ergeben sich zahlreiche Analogien zwischen dem Biologischen, Vergänglichen und dem Transzendenten, Ewigen. Der Philosoph und Wissenschaftler Robert Fludd ordnete einer jeder Pflanze auf der Erde einen Stern im Universum zu. Der Künstler Anselm Kiefer, Schüler von Joseph Beuys, stellte das Einheitskonzept Fludds in seinen Werken dar.
Der westlich-orientierte Mensch hat sich seit Jahrhunderten der äußeren Welt der Sinneserfahrung zugewandt und hat sich selbst darin verloren. Nun ist die Zeit reif, sich nach innen zu wenden, das innere Universum im Herzen zu erforschen und die lange und aufregende Reise in das innerste Zentrum zu beginnen. Damit verglichen ist die Erkundung des Mondes und der Planeten ein Kinderspiel.
Bede Griffiths
Der Kosmos ist erfüllt von ätherischen Himmelsregionen. Ihre Bewohner sind frei von einer physischen Hülle, wie wir sie besitzen. Ein Teil von ihnen hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Fülle der Vitalität und des Lebens unseres Planeten zu bewahren. In hierarchischer Verbindung bilden sie Strukturen der Lebensenergie von oben nach unten, vom Feinstofflichen ins Grobstoffliche, und von unten nach oben. Unsere künftigen Körper, die wir auf einem Weg von unten nach oben erringen können, sind für uns im Prinzip zubereitet. Wir müssen sie allerdings in einem neuen Denken, Empfinden und Handeln für uns aktualisieren, mit ihnen auf einem Weg der Verwandlung verschmelzen.
Eine genaue geistige Untersuchung zeigte deutlich, dass es außer dieser Naturordnung ein ursprüngliches Reich gibt, ein Reich […], welches sich sehr nachdrücklich von dieser Natur mit ihren beiden Sphären distanziert.
Jan van Rjickenborgh
Insbesondere gnostische Gruppen in Vergangenheit und Gegenwart besitzen das Wissen darüber, dass sich die menschlichen „Mikrokosmen“ nicht in Übereinstimmung mit dem göttlich-geistigen Makrokosmos befinden. Albigenser oder Katharer, Bogomilen und Essener, Manichäer und Druiden hinterließen entsprechendes Wissen. Sie sahen den Mikrokosmos, vor allem seinen geistig-seelischen Bereich, buchstäblich als in einem „Todesschlaf“ versunken. Jan van Rijckenborgh entwickelte die Idee, in einer Gruppenwirksamkeit die Lichtkräfte zu bündeln und so ein inneres Erwachen herbeizuführen und das Entstehen der neuen Seelenstrukturen zu ermöglichen. Für die transfigurierte, neue Gestalt gibt es keinen Tod. Auch Sri Aurobindo betont die Notwendigkeit einer neuen Form:
Es kommt der Moment in dieser immer größer werdenden Ungleichheit, in diesem wachsenden Missklang zwischen der Form und der auf sie wirkenden Kraft, in dem die vollkommene Auflösung der Form unausweichlich wird. Eine neue Form muss geschaffen werden. Neuer Einklang und neue Gleichheit müssen wieder möglich werden. Dies ist die wahre Bedeutung des Todes und dessen Nutzen in der Natur.
Sri Aurobindo, Mira Alfassa
Göttliche Weisheit – Göttliche Natur. Die Botschaft der Rosenkreuzer-Manifeste in der Bildsprache des 17. Jahrhundert, In de Pelikaan, 2014 (zu Robert Fludd)
Omraam Mikhaël Aivanhov, Gedanken für den Tag, Ausgabe 2024, Prosveta Verlag, Dietingen
Sri Aurobindo, Die Mutter (Mira Alfassa), Tod und Wiedergeburt, Sri Aurobindo Digital Edition, 2020
Robin Kaiser, BewusstSein: Der Weg zum EinsSein, eBook
Ernst Bloch, Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, Gesamtausgabe Band 7, 3. Auflage, Suhrkamp, 2015
Rudolf Steiner, Die Welt der Sinne und die Welt des Geistes, Gesamtausgabe Band 134. Dornach
Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Suhrkamp, 1980
Jan van Rijckenborgh, Die universelle Gnosis. Rozekruis Pers, 1995