Wie oben so unten – Der Schleier der Maya

Wie oben so unten – Der Schleier der Maya

Die Vielheit blendet unsere Sinne – und wir halten sie für die Wirklichkeit. Das ist der Schleier der Maya. Er verhüllt das schöpferische In-die-Erscheinung-treten.

Was unten ist, gleicht dem, was oben ist, und was oben ist, gleicht dem was unten ist, damit die Wunder des Einen sich vollziehen.
So wie alle Dinge aus dem Einen geworden sind durch eine Mittlerschaft, so sind sie alle aus diesem Einen geboren.

„Wie oben so unten, wie unten so oben.“ Diese hermetische Bezeichnung eines kosmischen Gesetzes, die sich in der Tabula Smaragdina findet, ruft Widerspruch auf. Das kann doch nicht wörtlich so gemeint sein! Das Himmlische-Göttliche gleichzusetzen mit dem Irdischen-Menschlichen scheint geradezu eine Parodie zu sein, wenn man sieht, wie es auf der Erde bei uns Menschen zugeht. Ja, es gibt „hier unten“ auch beispiellos Gutes: Menschen, die ihr Leben für andere und den Planeten bis zur vollkommenen Erschöpfung einsetzen. Und immer wieder kann etwas im Menschen aufbrechen, das eine tiefe Verbundenheit mit allen anderen Menschen deutlich macht, ein inneres Einssein, das im täglichen Bewusstsein nicht wahrgenommen wird. Es gibt zahllose Beispiele von Hilfeleistungen, wenn jemand in große Not oder Lebensgefahr geraten ist. Das spontan Hilfsbereite, das aus dem Herzen kommende Engagement gibt es seit jeher. Und doch kann man nicht sagen, dass die Welt dadurch einem „himmlischen Ort“ gleich wurde. Ein Blick auf das aktuelle Weltgeschehen zeigt, dass eher das Gegenteil der Fall ist.

Das In-die-Erscheinung-treten

Dem Verständnis des hermetischen Axioms Wie oben so unten, wie unten so oben kann man sich nähern, wenn man begreift, was der Schleier der Maya ist. Er führt dazu, dass unsere Wahrnehmung verfälscht ist, uns eine Wirklichkeit vorgaukelt, die es so gar nicht gibt. Was ändert sich aber, wenn sich der Schleier ein wenig hebt? Dann empfangen wir Impressionen darüber, auf welche Weise alles Lebendige in die Erscheinung tritt – wir selbst eingeschlossen. Geistig-Seelisches tritt „nach außen“, ohne Unterlass, und macht sich sichtbar. In einem fortwährenden strömenden Geschehen entwirft das Leben seine Gestalten, hält sie eine Weile aufrecht und löst sie wieder auf, um neue zu erzeugen.

Unsere Erde und all ihre Bewohner sind Projektionen geistiger Essenzen und Wesenheiten. Insgesamt gesehen bringen sie das Potenzial allen Wollens, Wissens und Begehrens eines Schöpfers zum Ausdruck, das innerste Herz von allem, was lebt. Die Inhalte und Qualitäten der geistigen Welten sind so unfassbar tief und reich, dass sie sich in unserem Lebensgebiet, der Sphäre der Projektion, in unüberschaubarer Vielfalt zeigen. Im Ursprung sind sie eins, doch es ist unmöglich, sie auf unserer Ebene – etwa wie die Teile eines Puzzles – zusammenzufügen. Hier, bei uns, zeigen sie sich voller Gegensätze und Widersprüche. Wir erleben sie als das Gegenteil von Einheit, als Kräfte, die sich in fortwährendem Streit miteinander befinden.

Wir halten im Allgemeinen die einzelnen Erscheinungen für die volle Wirklichkeit, nehmen die Qualitäten der einen oder anderen für uns in Anspruch, identifizieren uns mit ihnen und machen sie zu unserem Lebenssinn. Andere tun dasselbe wie wir, aber berufen sich auf andere Qualitäten und Erscheinungen. Das gilt für Religionen, Kulturen und auch für die einfachen Dinge, mit denen wir unser Leben füllen. Und jeder ist von dem Seinigen überzeugt und hat in gewisser Weise recht. So verwandeln wir die Polaritäten, die auf den Ebenen des Ursprungs eine Einheit bilden, in unserer Welt zu Gegensätzen und kämpfen gegeneinander. Und jeder spürt etwas von der Richtigkeit seiner Überzeugung.

Der Schleier der Maya

Das allumfassende Ganze fächert sich also auf in die Vielheit seiner Aspekte. Was hier ein Vieles ist, ist auf den Ebenen des Ursprungs eins. Die Vielheit blendet unsere Sinne – und wir halten sie für die Wirklichkeit. Das ist der Schleier der Maya. Er verhüllt das schöpferische In-die-Erscheinung-treten. Die heutige materialistische Sichtweise der Naturwissenschaft ist eine der dramatischsten Auswirkungen dieses Schleiers. Doch der Forschergeist der Wissenschaftler dringt immer tiefer in die Welt der Erscheinungen hinein und gelangt zu dem Punkt, an dem sich die materialistische Weltsicht selbst aufhebt. In der Quantenphysik tritt dies zutage. Doch sollten sich nicht auch, losgelöst von mathematischen Formeln und den Messungen komplexer Apparate, unsere Augen wandeln können?

Das Erahnen der geistigen Ursprünge liegt in uns beschlossen. Wenn wir ihm nachgehen, in großer Beharrlichkeit, wenn unser Wesen sich umwendet, hin ins Leere, Abgründige, Innerste, kann ES, das Ganze, die Wirklichkeit, ihr Wissen, ihre Weisheit, ihre Liebe in uns hineinprojizieren, ihr unteilbares Sein. Es erzeugt in uns seelische Augen und wir erleben, wie wir selbst und alles in der Natur aus dem Innersten heraus entstehen.

Das Allumfassende tritt sich selbst gegenüber

Bei diesem Bemühen schenkt uns das große, allumfassende Leben etwas von sich. Indem es das tut, tritt es sich selbst gegenüber, erhält mit sich selbst Umgang, wird sich in uns zum Gefährten. Damit beginnt ein langer, bisher von uns ungeahnter Weg, auf dem unser geistiges Selbst mehr und mehr aufblüht. Wenn wir uns ihm ganz hingeben, durchdringt es unser Bewusstsein, ergreift immer öfter Besitz davon und beginnt, durch uns, in uns und mit uns in der Welt zu wirken.

Und nun vereint sich, was bisher als unvereinbar erschien. In neuer Wahrnehmung lassen wir die Dinge der Welt in uns eintreten. Sie gelangen durch uns – gleichsam von unten her – in Berührung mit ihrem Ursprung.

Das Tao-Te-King sagt in seinem ersten Kapitel:

Wahrlich:

Wer ewig ohne Begehren,
wird das Geheimste schaun;
wer ewig hat Begehren,
erblickt nur seinen Saum.

Diese beiden sind eins und gleich.
Hervorgetreten, sind ihre Namen verschieden.
Ihre Vereinigung nennen wir mystisch.
Mystisch und abermals mystisch:
die Pforte zu jedwedem Geheimnis.

Das Geheimste ist unser Innerstes, der „Saum“ unsere Erscheinungsform. Er und das Innerste sind eins. Jeder Mensch sucht „seinen“ Ort in der Welt. Aber der Ort, an dem wir eins sind mit dem Leben, ist hier nicht ohne weiteres zu finden. Ängste durchfluten die Menschheit, weil es im Bereich des „Saums“ keinen verlässlichen Boden gibt.

Nun, in dieser Situation, können sich die „Wunder des Einen“ vollziehen, wie es in der Tabula Smaragdina heißt. Die Wunder des Friedens, der Liebe, und der Erfüllung, die unumstößlichen Aspekte des ewigen Seins – sie zeigen sich nun „hier unten“. Inmitten vergänglicher und schillernder Lichterspiele tritt das stille, unvergängliche Licht im Bewusstsein des Menschen in die Erscheinung. Unser Herz, unser neues Bewusstsein, nehmen nun die Spiegelbilder, die Projektionen in sich auf und sie gelangen in unseren Innenräumen zu ihrem Ursprung. Wie nahtlos doch die beiden zusammenpassen, der Saum und die von ihm umsäumte Essenz! Der Schleier hebt sich.

Jesus drückt diesen Vorgang im Thomas-Evangelium mit den Worten aus: „Wenn ihr die zwei zu einem macht, wenn ihr das Innere wie das Äußere macht und das Äußere wie das Innere und das Obere wie das Untere, nämlich, dass ihr das Männliche und das Weibliche zu einem einzigen macht, so dass das Männliche nicht weiterhin männlich und das Weibliche nicht weiterhin weiblich ist, wenn es neue Augen gibt anstelle der alten, eine neue Hand anstelle der alten, neue Füße anstelle der alten, eine ganz neue Gestalt anstelle der alten, dann werdet ihr eingehen in Gottes Herrschaft.“ (Logion 22)

Eine neue Gestalt

Die „ganz neue Gestalt“ bildet sich nun in uns neben der alten heran. Sie ist die Frucht, die wir der Gottheit bringen, die „langgesuchte, die goldene Frucht, uraltem Stamm in schütternden Stürmen entfallen“, wie Hölderlin in seinem Epos Friedensfeier schreibt. Er fährt fort: „die Gestalt der Himmlischen ist es“. Sie besteht aus unserer ursprünglichen Essenz und den Essenzen von allem, was in unserem Innern den Weg nach oben gehen konnte.

Die „goldene Frucht“ ist eine nicht endende seelische Geburt, eine nicht endende Transfiguration, die in der Mitte zwischen oben und unten stattfindet. Der Ort der Mitte oszilliert, so wie auch das Leben zwischen oben und unten schwingt.

Der Uralte tritt aus dem Innersten, dem Oben hervor. Er sucht uns, wir suchen ihn. Wir sind in Veränderung, und so ändert sich der Ort der Begegnung. In der Vereinigung mit dem Uralten, unserem geistigen Selbst, bildet sich die Sphäre der Mitte immer neu, sie ist die neue Gestalt. Der „Saum“, die Ausdrucksform für den Geist, die Form, in der er in den Seelenwelten (Welten oberhalb der unsrigen) wirkt, wandelt sich. Die Offenbarungen des Geistes in den Seelengestalten finden kein Ende.

Die Orte der Mitte sind Orte des Feuers. Die Seele erhöht ihre Vibration, der Geist verringert die seine. Die Seele wandelt sich dabei von „Wasser“ zu „Wein“. Sie gerät in immer neue Trunkenheiten und muss immer wieder nüchtern werden, um ihren Platz im „Haus des Herrn“ einnehmen zu können.

Auf diesem Weg öffnen wir uns, so oft wir können, für intensivere Seelenvibrationen, in denen sich das Geistige umfassender ausdrückt. Spirituelle Gemeinschaften können hierbei helfen. Die neuen Kräfte brennen, je mehr wir uns ihnen hingeben; sie wirken läuternd, schmerzhaft, reißen innere Abgründe auf, setzen Ängste frei. Sie zeigen uns unseren aktuellen Zustand, unsere Scheinweisheit. Doch die höheren Kräfte tragen uns auch, wenn wir uns ihnen anvertrauen: Wir erleben Erhebung, Freude, Gewissheit einer Art, von der wir niemals wussten, dass es sie überhaupt gibt.

Wirklichkeit – das unendliche Fundament

Maya tritt auf allen Ebenen der Entwicklung auf. Denn immer bedarf der Geist, um wirken zu können, einer Struktur, einer „Gestalt“, mag sie auch aufs Höchste vergeistigt sein. Die indische Weisheit nennt die umfassende Wirklichkeit Parabrahman. Parabrahman ist die einzige Realität, das unendliche Fundament. Obgleich jedoch alles andere, alles, was darunterliegt, Maya ist, ist diese Maya dennoch das Universum, in dem unsere Konstitution existiert, genauso, wie wir durch unser Innerstes mit Parabrahman verbunden sind; und weil Parabrahman das All ist, ist Maya auch seine Hülle oder seine Manifestation.

Parabrahman ist die Wirklichkeit. Wir als Wesen sind Mayavi (illusionär), aber das Herz des Herzens von uns ist Parabrahman und daher enthält jedes Atom dieser mayavischen Hüllen, die wir tragen, sein eigenes fundamentales Element oder seine Grundessenz, die ebenfalls Parabrahman ist. (Gottfried von Purucker)

Bei allen Entwicklungsschritten besteht der Schleier der Maya so lange, wie wir ihn aufrecht erhalten, so lange, bis wir den Blick umwenden und die erneute Vereinigung mit dem Geist des Ursprungs anstreben.

Aufgrund unseres Handelns sind wir immer Träger eines Schicksals. Durch unsere Verbindung mit dem inneren Gott trägt er unser Schicksal mit, erfährt in gewisser Weise selbst Schicksal, und durch diese „Entfremdung“ erlebt er sich selbst. Welch ein Wunder! Das Obere erfährt sich mit Hilfe des Unteren, das Untere mit Hilfe des Oberen. Die Wunder der göttlichen Liebe vollziehen sich.


Jan van Rickenborgh, Die Ägyptische Urgnosis Band 1, Rozekruis Pers, Haarlem, Niederlande
Das Kybalion – Die sieben hermetischen Gesetze (E-book), Kapitel IX und XI, 2022 George Lagrange,
Gottfried von Purucker, Quelle des Okkultismus
Armin Risi, Gott und die Götter

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Datum: Februar 2, 2024
Autor: Anita Vieten (Germany)
Autor: Gunter Friedrich (Germany)
Foto: spiral-Gerd Altmann auf Pixabay HD

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