Urvertrauen oder Urangst?

Urvertrauen oder Urangst?

Als Jugendlicher erlebte der deutsch-schweizerische Philosoph Jean Gebser (1905-1973) etwas, das ihn sein Leben lang prägen sollte.

Es floss später in das Werk ein, das ihn weltbekannt machte: Ursprung und Gegenwart, eine monumentale Geschichte des menschlichen Bewusstseins in seinen unterschiedlichen Strukturen.

Oberflächlich betrachtet war Gebsers Erfahrung nicht ungewöhnlich; die meisten von uns haben sich irgendwann in einer ähnlichen Situation befunden. Aber die plötzliche Herausforderung, über die andere nicht mehr viel nachgedacht hätten, führte Gebser zu einer tiefgreifenden Einsicht.

Was war passiert? Er musste im Schwimmunterricht von einem Sprungbrett springen, das sich hoch über einem tiefen Wasser befand. Schwimmen zu lernen war in seiner Schule Pflicht, und für ihn ging es darum, das „Freischwimmer-Abzeichen“ zu erhalten. Dazu musste er von einem drei Meter hohen Sprungbrett springen und sich zehn Minuten lang über Wasser halten. Zu der Zeit hatte der junge Gebser schon einige Begegnungen mit dem Wasser hinter sich. Als er ein Jahr alt war, führte eine Unachtsamkeit seiner Mutter dazu, dass er in der Badewanne fast ertrank. Und einige Jahre später rutschte er auf einer steilen Klippe aus und stürzte beinahe in einen Fluss. Jetzt stand er also auf dem Sprungbrett; die anderen Jungen spornten ihn an und der Lehrer wartete. Bewusst und buchstäblich musste er sich in das hinabstürzen, was ihn Jahre zuvor traumatisiert hatte.

In diesen wenigen Momenten, ehe er den ersten von vielen weiteren „Sprüngen ins Ungewisse“, die noch kommen sollten, wagte, kristallisierte sich in ihm etwas heraus, das später zu einer leitenden Erkenntnis seiner Arbeit werden sollte. „Erst Jahrzehnte später wurde mir bewusst“, so schrieb er in seinen unvollendet gebliebenen autobiographischen Notizen Die schlafenden Jahre, „dass ich damals die Furcht vor dem Ungewissen verlor, und dass in mir selbst ein Vertrauen zu reifen begann, welches sich später bestimmend auf meine ganze Lebenshaltung auswirken sollte: das Vertrauen in die Kräftequellen des Daseins, der unverstellte Zugang zu ihnen, jene innere Sicherheit, die wahrscheinlich nur dann ganz zur Wirkung kommen kann, wenn es uns gelingt, das, was wir tun, nicht um unserer selbst willen zu tun.“[i]

Diese Zuversicht angesichts großer Ungewissheiten bildete die Grundlage für Gebsers Begriff des „Urvertrauens“, eines tiefen Gefühls des Aufgehobenseins und der Akzeptanz des Lebens. Das Gegenstück dazu bildet die „Urangst“, die unterschwellige Angst, die unsere Haltung gegenüber der Welt meist prägt.

Sie ist uns sehr vertraut, diese Angst, dieses tiefe Unbehagen, das der Philosoph Søren Kierkegaard als die Grundsituation des Menschseins bezeichnete. Sie wurde von Martin Heidegger und den nachfolgenden Existentialisten aufgriffen. Es handelt sich nicht um eine Angst vor irgendetwas Bestimmtem, sondern um eine frei schwebende Angst. Der Philosoph Leszek Kolakowski sprach vom Leben im „Gefühl der allumfassenden Krise, deren Ursachen sich uns nicht erschließen …“. Zunächst war der Begriff der Urangst ungewohnt, doch dann wurde er Teil des allgemeinen Sprachgebrauchs. Im Englischen gibt es das deutsche Wort Angst sogar als Verb: „we can ‚angst’ about something“. Mag sie klein sein oder groß, eine gewisse Sorge begleitet uns fast immer.

Ihr Gegenteil, das Urvertrauen, das der junge Gebser fand, als er, wie der Schriftsteller Joseph Conrad es formulierte, „in das zerstörerische Element“ eintauchte, in das unbekannte und sehr tiefe Wasser, ist weniger verbreitet. Vertrauen in alles, was auch kommen mag, ist Mangelware in unserer Zeit, und diejenigen, die ein gewisses Maß davon besitzen, werden von anderen, die es nicht besitzen, normalerweise für dumm oder naiv gehalten. Aber so wie die Urangst keine spezielle Ursache und keinen erkennbaren Grund hat, war das Vertrauen, das der junge Gebser erlebte, als er vom Sprungbrett sprang, nicht auf etwas Bestimmtes bezogen. Es war kein Vertrauen in den Bademeister, der ihn hätte retten können oder in seine Klassenkameraden, sondern in die Quellen des Lebens selbst. Es war ein Vertrauen, dass das Leben es gut mit uns meint, auch wenn wir dafür keine Beweise besitzen, sondern viele Umstände eher das Gegenteil zu beweisen scheinen.

In den Jahren, die auf seinen Sprung ins Unbekannte folgten, hatte Gebser mehr als nur tiefes Wasser zu befürchten. Man könnte, metaphorisch gesprochen, sagen, dass sich „tiefes Wasser“ für ihn bald über einen großen Teil Europas erstreckte. Seine Familie litt in den frühen 1920er Jahren unter einer finanziellen Krise. Die Beziehungen zwischen seinen Eltern waren nicht gut, und 1922 starb Gebsers Vater an den Folgen eines Selbstmordversuchs. Der junge Gebser war gezwungen, die Schule zu verlassen und Arbeit zu finden. Das gelang ihm in einer Bank, aber er war dort nicht mit dem Herzen dabei, und so machte er erneut einen Sprung, lehnte die ihm angebotene, gut bezahlte Stelle in der Bank ab und stürzte sich zusammen mit einem Freund in ein kurzlebiges Verlagsprojekt. (Gebser war auch Dichter, obwohl er später als Philosoph bekannt wurde,)

Von den späten 1920er Jahren bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs führte er ein Wanderleben, das ihn quer durch Europa trug. Immer, wenn er sich irgendwo niedergelassen hatte, wagte er sich erneut ins Unbekannte, kurz ehe die Gefahr zuschlug. Im Jahr 1929 verließ er Deutschland, als Hitlers Nazis ihren Aufstieg zur Macht begannen. In Spanien, während des Bürgerkriegs, entkam er Francos Faschisten, kurz bevor seine Wohnung bombardiert wurde. An der französischen Grenze wurde er fast erschossen, aber es gelang ihm gerade noch, sie zu überqueren. Ähnliches kann man von seinem Freund, dem spanischen Dichter Federico Garcia Lorca, nicht sagen: er wurde von den Nationalisten erschossen. Weniger Jahre später, als die Nazis, deren Aufstieg er ein Jahrzehnt zuvor miterlebt hatte, ganz Europa bedrohten, gelang es Gebser, die Grenze von Frankreich, das bald fallen würde, zu überqueren, kurz ehe sie geschlossen wurde. Er erreichte die Schweiz, wo er zusammen mit anderen Exilanten blieb und den weiteren Verlauf der Katastrophe abwartete.

Durch all dies wuchs in Gebser die Einsicht in das, was er Jahrzehnte zuvor bei seinem ersten Sprung ins Ungewisse gefunden hatte. Das Urvertrauen, das ihm bei seinem ersten Sprung geholfen hatte, leitete ihn auf seinem Weg durch die immer gefährlicher werdenden sozio-politischen Strömungen, die den Kontinent durchzogen. Während seiner Zeit in Spanien empfing er die zentrale Intuition für sein Werk, dessen Ausarbeitung er sich in den folgenden Jahrzehnten widmete. Er sammelte Beweise für die Idee, dass sich das menschliche Bewusstsein seit seinem ersten Auftreten vor vielen Jahrtausenden in verschiedenen Schritten mutiert hat und nun, im frühen 20. Jahrhundert, eine erneute Mutation begann. Es war eine „blitzartige Einsicht“, die er während der Arbeit an einer Studie über Rilkes Lyrik erhielt.

Es ist interessant, dass Rilkes Poesie eine solche Wirkung auf Gebser hatte. Auch Rilke wusste von dem, was Gebser Urvertrauen nannte. In einem Text mit dem Titel Erlebnis I versuchte Rilke, ein eigenartiges Gefühl zu beschreiben, das ihn 1912 während eines Aufenthaltes auf Schloss Duino (an der norditalienischen Adriaküste) überkam, wo er die Inspiration zu seinen Duineser Elegien erhielt. Er ging auf dem Gelände des Schlosses spazieren und stieß auf einen kurzen, strauchartigen Baum, der sich genau auf seiner Schulterhöhe verzweigte. Rilke lehnte sich in das Geäst und fühlte sich bemerkenswert entspannt, „eingeruht“, wie er schreibt. Bald geriet er in eine Art mystischen Zustand. „Es war, als ob aus dem Innern des Baumes fast unmerkliche Schwingungen in ihn [Rilke] übergingen.“ Berührungen, die er normalerweise nicht wahrgenommen hätte, drangen in sein Bewusstsein und er fühlte sich so, als sei er „auf die andere Seite der Natur geraten“, in ihre Innerlichkeit, ihre Innenwelt. Alles, was er betrachtete, schien ihn auf eine Einsicht hinzuweisen, auf eine Bedeutung, die kurz davor stand, sich ihm zu offenbaren. Bei anderer Gelegenheit überkam ihn eine tiefe Ruhe und Stille und er fühlte, dass „alles mit mir im Einklang war“ und er einen Raum betreten hatte, der so „ungestört wie das Roseninnere“ war [ii].

Aus diesem großen Frieden heraus, diesem „engelhaften Raum, in dem man ganz still ist“, entstand die kraftvolle poetische Vision des Engels der Elegien. Der Engel war „schrecklich“, das heißt furchterregend und ungeheuerlich, doch seine Botschaft an den Dichter war, dass es seine Aufgabe sei, die Dinge der Erde zu „loben“, die gewöhnlichen, alltäglichen Dinge. Er solle nicht von unaussprechlichen Geheimnissen singen – die kannte der Engel schon –, sondern von der einfachen und doch unbegreiflich wundersamen Existenz von „Haus, Brücke, Brunnen, Tor, Krug, Obstbaum, Fenster …“. Denn sie so auszusprechen, wie es der Dichter es tut, steigert ihr Sein auf eine Weise, die, würde er stumm bleiben, sie nicht erreichen würden. Dies ist das „Lob trotzdem“, von dem Rilke in seinen Sonetten an Orpheus sang, ein „Ja“ zum Leben, das trotz aller Leiden und Schmerzen im Herzen des Dichters aufsteigt. Ein „Ja“ trotz aller Ungewissheiten, das in demselben Vertrauen wurzelt, das Gebser bei seinem Sprung vom Sprungbrett entdeckte und das ihm auf seinem Weg durch die weiteren Krisen des Lebens half.

Dieses Vertrauen oder, anders ausgedrückt, das Fehlen von Angst angesichts von Ungewissheiten, kann in scheinbar aussichtslosen Situationen auftauchen und durch Unerwartetes geweckt werden. Als Korrespondent für eine britische Zeitung während des Spanischen Bürgerkriegs kam der Schriftsteller Arthur Koestler dem Tod so nahe wie Gebser, aber für ihn dauerte dies viel länger. Koestler wurde von den Faschisten verhaftet – er hatte eine kommunistische Vergangenheit – und verbrachte mehr als drei Monate im Gefängnis in der Erwartung, jeden Moment erschossen zu werden. Jeder Tag konnte sein letzter sein. Schließlich wurde er entlassen.

In seiner Autobiografie berichtet Koestler, dass er, um sich die Zeit zu vertreiben, mit einem abgebrochenen Stück Eisenfeder aus seinem Bett mathematische Formeln an die Wand kratzte (es war ihm verboten zu schreiben, er erhielt weder Bleistift noch Papier).

Als es ihm gelang, den Beweis des Euklid, dass die Anzahl der Primzahlen unendlich ist, auf die Wand zu kratzen, geschah etwas Merkwürdiges. [iii]

Koestler geriet beim Betrachten der Formel in einen Zustand der Entrückung, in dem er alles um sich herum vergaß. Wie kam es dazu? Die Formel enthielt eine „bedeutungsvolle und umfassende Aussage über das Unendliche“. Warum war das so wichtig? Weil sie das Unendliche zu etwas Konkretem und Realem machte und damit aus seiner Abstraktion heraushob. Es zeigte sich als eine Realität, an der Koestler Anteil erhielt. Sie war da, direkt vor seinen Augen, an der Gefängnismauer.

Koestler schreibt, er habe den „Duft der Ewigkeit“ geschmeckt und den Köcher gespürt, aus dem der „Pfeil im Blau des Himmels“ stammt. Er konnte sich nicht daran erinnern, wie lange er sich in dieser Verzauberung befand und vor sich hinmurmelte: „Das ist perfekt – perfekt“. Eine nagende Erinnerung riss ihn schließlich aus seiner Trance, ein „trivialer Umstand, der die Vollkommenheit des Augenblicks trübte“. Worin bestand er? Er erinnerte sich daran, dass er sich ja im Gefängnis befand und jeden Moment erschossen werden konnte. Und der Gedanke erfüllte ihn: „Na und? Ist das alles? Hast du nichts Schlimmeres zu befürchten?“[iv]

Koestlers Begegnung mit der Unendlichkeit hinterließ bei ihm das Gefühl, dass sein Ich aufgehört hatte zu existieren, in dem Sinne, dass es irrelevant geworden war. Der Schleier war von den Dingen gefallen und er hatte einen Blick auf die „wirkliche Wirklichkeit“ geworfen, die sich dahinter befindet. In „die verborgene Ordnung der Dinge …, die normalerweise durch Schichten von Belanglosigkeiten verdeckt wird“. Er nannte diese Realität „die unsichtbare Schrift“, eine Art Geheimcode, der sich in solch besonderen Momenten entschlüsselt. Die ganze Spannung, dass seine Hinrichtung bevorstand, war wie weggeblasen; er erlebte eine tiefe Katharsis, einen „Frieden, der allen Verstand übersteigt“. Eine „heitere und angstverdrängende Nachwirkung blieb zurück, die noch tagelang anhielt“.

Wir brauchen nicht in die Situation zu gelangen, wie Koestler in einer Zelle zu sitzen und darauf zu warten, erschossen zu werden. Oder wie Gebser auf einem Sprungbrett zu stehen und mitsamt unseren Ängsten hinunterspringen zu müssen, Aber so wie sie leben wir in einer Zeit tiefer Unruhe und Unsicherheit, und die Angst, die sie und ihre Zeitgenossen kannten, ist auch uns nicht fremd. Man wird sogar sagen können, dass die Angst weltweit zugenommen hat: Sie bezieht sich auf den Klimawandel und reicht hin zu sozialen Unruhen, Kriegen, Pandemien und vielem anderen. Die letzten Jahre haben eine schwindelerregende Vielzahl von Krisen mit sich gebracht, die viele von uns mit einem Gefühl der Hilflosigkeit zurücklassen. Es gibt das tiefe Gefühl, dass die Dinge auseinanderfallen, dass die Welt sich in einer Geschwindigkeit verändert, bei der ihre Bewohner nicht mehr mithalten können. Gebser gelangte genau deshalb zu der Erkenntnis, dass das menschliche Bewusstsein dabei ist, eine weitere Mutation zu durchlaufen und die bisherige Bewusstseinsstruktur, die der rationalen, wissenschaftlichen, „modernen“ Welt, zusammenbricht, um Platz zu machen für eine neue, die Gebser die „integrale“ nannte.

Auf sie kann ich hier nicht näher eingehen. Aber was Gebser als die neu entstehende Form des Bewusstseins vor sich sieht, hat als Essenz das Urvertrauen, das er an jenem Tag auf dem Sprungbrett erlebte. Viele Jahre später erfuhr er es erneut, während seiner Reise nach Indien, und zwar in Sarnath, dem Ort, an dem der Legende nach Buddha seine erste Predigt gehalten hatte. Gebser schrieb, dass er die Erfahrung hier mit der „kristallenen Klarheit des Alltags“ machte, aber dass sie zugleich eine „Verklärung und Durchstrahlung durch das Unbeschreibliche“ war. Er spricht von einem „überirdischen, durchsichtigen Licht“, das einen „stillen Jubel“ auslöste, der sein Urvertrauen wieder weckte und ein „Wissen um die Unverwundbarkeit“ mit sich brachte. [v] Seit dieser Erfahrung, so sagt er, sei „alles an seinem richtigen Platz“. Und so wie es Koestler erfuhr, während er in seiner Zelle wartete, so erlebte auch Gebser, dass sein Ich, das alltägliche sorgengeplagte Ich, zur Nebensache geworden war. Es war nicht verschwunden. Aber es war, samt seiner Sorgen, nicht mehr wichtig.

Vielleicht können wir uns mit dem Wissen trösten, dass das Urvertrauen, von dem Gebser getragen wurde, auch für uns da ist, wenn wir uns den aktuellen unsicheren Zeitumständen stellen. Hoffen wir, dass es uns genug Vertrauen schenkt, uns ihm anzuvertrauen, wenn es sich einstellt.


[i] Jean Keckeis, In Memoriam Jean Gebser, in: Jean Gebser, The

Ever-Present Origin, trans. Noel Barstad und Algis Mickunas, Athens,

OH: Ohio University Press, 1985, S. xvii.

Jean Gebser, Gesamtausgabe, Novalis Verlag, Schaffhausen 1986, Bd. 7, S. 363 (Die schlafenden Jahre)

[ii] Rainer Maria Rilke, Duineser Elegien trans. J. B. Leishman und

Stepen Spender, New York: W. W. Norton & Company, 1939, S. 124-26.

[iii] Primzahlen sind Zahlen, die nicht in ganze Zahlen teilbar sind, außer durch 1 oder sich selbst. Die Zahlen 3, 5, 7 sind Primzahlen; es gibt keine Formel zur Ermittlung der höchsten Primzahl.

[iv] Arthur Koestler, The Invisible Writing, London: Macmillan Co,

1969, S. 428-30.

[v] Zitiert in Georg Feuerstein, Structures of Consciousness, Lower

Lake, CA: Integral Publishing, 1987, S. 173.

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Datum: Juli 5, 2024
Autor: Gary Lachman (Great Britain)
Foto: blue-Bild von Pexels auf Pixabay CCO

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