Jeder wird diese Frage aus seiner Sicht beantworten. Alle Antworten werden etwas zu tun haben mit Selbstverwirklichung und Freiheit. Denn diese beiden brechen sich heute Bahn, auf Kosten alter religiöser Bindungen. Es könnte sein, dass die Zeit gekommen ist für eine freie Spiritualität – frei im tiefsten Sinne des Wortes: um zu sein, um gewesen zu sein, um nach einem erfüllten Leben zu sterben, frei, um zu werden.
In gnostischer Sicht könnte man sagen: Der Mensch muss frei sein, um frei und lebendig werden zu können. Aber sind wir denn frei? Unser Bewusstsein ist begrenzt. Unsere Sinne vermitteln keine letzte Klarheit, und wir vermögen weder unsere eigene komplexe Natur noch die der Welt wirklich zu begreifen.
Jeder erschafft sich seine eigene Vision der Welt und des eigenen Wesens. Wir leben nicht alle in derselben Realität. Vieles verbindet uns allerdings auch miteinander, vor allem die Sprache. Und wenn wir eine Aussage hören wie: „Es gibt auch noch eine Wirklichkeit von transzendenter, spiritueller Art, die umfassender ist als die unsrige“, so kann uns das auf einer Ebene berühren, die bei allen Menschen gleich ist.
Wir können Freiheit auf verschiedene Weise verstehen. Einen Mangel an Freiheit erfahren wir durch äußere Lebensumstände. Eines Tages aber können wir von der umfassenderen Wirklichkeit berührt werden. Dann steigt ein Sehnen nach Freiheit auf, das mit Worten nicht auszudrücken ist. Diese andere Wirklichkeit reicht über unsere Sinne hinaus und auch über unser Bewusstsein. Kann das Denken etwas von ihr erfassen? Sich überhaupt dessen bewusst zu werden, dass es noch eine größere Wirklichkeit gibt, setzt einen langen Entwicklungsweg voraus. Und eine solche Erkenntnis tritt dann meist in einer schweren Krise auf, oder nach schmerzvollen Erfahrungen, auch Selbstbefragungen.
Können wir von etwas sprechen, was in uns noch nicht zur Entwicklung gelangt ist? Können wir erfassen, woher unsere Sehnsucht nach einem idealen Leben rührt? Wir können Chancen ergreifen, die uns vor Augen stehen. Aber können wir Grenzen überschreiten, die uns gesteckt sind, über das hinausgehen, was die Menschheit gemeinschaftlich zur Entwicklung gebracht hat?
Unser Selbstverständnis hat sich verändert
Das soziale Netz fesselt uns heute weniger, als es in vergangenen Zeiten der Fall war. Wir können freier unsere Eigenheit leben, unseren Beruf wählen, unseren Partner, Lebensstil, Wohnort, die Art unserer Ernährung …
Wie eine Morgenröte können auch Momente inneren Erwachens und Erkennens in unser Bewusstsein einbrechen. Allerdings sind wir da skeptisch und lehnen solche momentanen Impressionen meist ab. Wir wollen ja nicht wirklichkeitsfremd werden. Wir misstrauen Intuitionen, wenn sie nicht in die Alltagsvernunft passen. Denn wenn sich plötzlich ein neuer Bewusstseinsraum öffnet und auf Transzendentes hinweist, wie sollten wir überprüfen, ob er der Wahrheit entspricht? Mit welcher Wahrnehmung? „Ich sehe innerlich, dass es stimmt.“ Reicht das aus? Erziehung und Normen, die uns prägen, stehen uns im Weg. Und der neue Bewusstseinsraum, kann er denn eine gültige Antwort geben auf die Frage: „Wer bin ich?“
Aber solche Geschehnisse erweitern das Feld unserer Wahrnehmung, sie sensibilisieren uns. Die inneren Hemmnisse sind vielfältig, und meist sind sie beherrschender als die äußeren.
Wir möchten es nicht wahrhaben, aber wir haben uns als Menschheit und als Einzelne in der Hölle einer selbstgeschaffenen Schöpfung eingesperrt. Und wir sind nicht ohne Weiteres bereit, unsere mentalen und emotionalen Konstrukte aufzugeben und eine tiefere Selbstfindung anzustreben. Wir verlören dabei ja Sicherheiten. Wir könnten in unserem Innern etwas entdecken, das unser bisheriges Dasein in Frage stellt. Das Bild von dem, dem nachstreben, könnte in sich zusammenfallen. Und so schließen wir uns ein in den Mühlen des Alltags. Durch die Jahrhunderte hindurch ertönen gleichwohl Worte wie: „Erkenne dich selbst und du wirst die Götter und das Universum erkennen.“
Und schließlich kommt der eine oder andere doch dazu, nach dem zu forschen, was Freiheit wirklich ist und die Muster seines bisherigen Lebens in Frage zu stellen. Warum bin ich so widersprüchlich? Liegt es vielleicht daran, dass ich mit zwei Wirklichkeiten verbunden bin – einer, die ich mit meinen Sinnen und meinem Bewusstsein erlebe und einer anderen, die von einem „Licht in mir“ erlebt wird?
Dieses Licht wird heller, wenn wir seiner gewahr werden. Es wird lebendiger und versucht, sich in der inneren Dunkelheit auszubreiten. Es erweist sich als Ansatz eines neuen Bewusstseins und wir spüren, dass sich ähnliches Licht auch in anderen Menschen befindet. Es macht empfänglich für ewige Wahrheiten. In seiner Offenheit erlebt es sich – und erleben wir uns – in einer Zwiesprache mit dem Universum und die Kraft des Lichtes intensiviert sich dadurch.
Das Ewige ist die andere Wirklichkeit im Menschen
Sie verbindet sich durch ihn mit der materiellen Welt, der stofflichen Wirklichkeit. Aber darüber hinausgehend möchte sie sich in ihm verwirklichen, immer umfassender, nach ihrem eigenen Gesetz. Das führt zur Vergeistigung des Menschen. Erst wenn das Licht in ihm aufleuchtet, kann er das Gebundensein an das irdische Gesetz überwinden, das Gefesseltsein an Recht und Unrecht, Gut und Böse. Er wird dann den Weg der Erkenntnis gehen und schließlich den Weg der Transfiguration, der vollkommenen Verwandlung. Das Ewige seines Wesens will sich vom Vergänglichen trennen.
Der Erfahrungsweg durch die raumzeitliche Welt verschafft die Weisheit, um diese Welt schließlich zu überwinden. Das ist kein automatischer Prozess, aber irgendwann wird der Einzelne aufgrund des Dranges der anderen Wirklichkeit die Schleier der Illusionen durchbrechen. Seine andere, wahre Natur drängt zur Verwirklichung. Und das setzt sich fort, bis jedes menschliche Wesen (auf seinen Wegen durch Leben und Tod) den Pfad zu vollkommener Freiheit entdeckt hat.
Die spirituelle Welt ist vereinend und transformierend. In beiden Wirklichkeiten ist der Besitz einer Körperlichkeit entscheidend, so unterschiedlich sie auch sein mögen. Das Körperliche ermöglicht die Selbsterfahrung und verleiht dem spirituellen Kern Ausdruck.
Allerdings zeigt sich, dass wir heute mehr und mehr individualisiert sind, mehr und mehr an unsere Eigenheit gebunden. Im beruflichen und sozialen Bereich akzeptieren wir Eingrenzungen unserer Freiheit. Durch Erziehung zügeln wir unsere Triebkräfte. Aber ansonsten wollen wir möglichst frei sein, autonom.
Nun zeigt sich auf dem spirituellen Weg, dass eine Gruppenwirksamkeit das persönlich Emotionale überwinden und die Tür zu der höheren Wirklichkeit öffnen und offen halten kann. Aber – stellt die Gruppe nicht eine Begrenzung der Freiheit dar, beinhaltet sie nicht eine Entfremdung vom Eigenen?
Ich möchte autonom sein, frei …
Aber können wir unsere Verwandlung losgelöst von anderen vollziehen? Könnte es sein, dass das, was uns entscheidend begrenzt, unsere Selbstbezogenheit ist? In der höheren Wirklichkeit (auch der unseres eigenen Wesens) fließen Freiheit und Einheit mit anderen ineinander. Einheit gleicht einem lebendigen Klang, ist ein Organismus, der als Potenzial in uns angelegt ist und der von jedem Einzelnen als eine Zelle mit erschaffen werden muss. Es gibt in der umfassenden Wirklichkeit keine Trennung und der Andere ist nicht mehr außerhalb von mir.