Dieses Interview ist eine Fiktion, die auf dem Film Die Truman Show basiert. Der Redakteur trift Truman 24 Jahre, nachdem er entdeckt hat, dass er in einer künstlichen Welt lebt und beschließt, dort auszubrechen.
Der Redakteur Ray trift Trumann 2022 auf den Filmfestspielen in Canne für ein Interview.
Cannes, 26/05/2022
Ray: Hallo Truman.
Truman: Hallo Ray.
R: Wir sind hier bei der Gala des Festivals*, im japanischen Garten der Villa Champfleuri, der in voller Blüte steht, ein wunderschöner Ort. Als ich mich für die Anreise fertig machte, sagte mir eine innere Stimme, dass du auch da sein würdest.
T: Ja, als ich das Plakat mit der Treppe und der kleinen Tür für das Festival sah, dachte ich: Die haben mich nicht vergessen. Mal sehen, was noch übrig ist. Und dann rief mich Thierry (Frémaux)* an, um mich einzuladen. Er war derjenige, der die Idee für das Plakat hatte.
R: Als ich T. Burbank auf der Liste der geladenen Gäste für die Gala gesehen habe, bin ich fast durchgedreht! Du hast deinen Namen nicht geändert?
T: Nein, ich habe ihn nicht geändert. Ich habe nicht das Bedürfnis, mich zu verstecken.
R: Du hast die Truman-Show vor 24 Jahren durch die Hintertür verlassen. Ich nehme an, du hast seitdem noch wieder einen Schritt zurück gemacht.
T: Ja und nein. Ich habe in der „richtigen Welt“ gelebt. Aber die Show ist noch nicht vorbei. Sie hört eigentlich nie auf. Die kleine Tür, ja, die am oberen Ende der Stufen des Plakats. Ich hatte vorhin ein langes Gespräch mit Thierry über den Text, den er für die öffentliche Präsentation des Plakats geschrieben hat.
R: Moment, ich schaue gerade auf meinem Handy nach… hier ist er: „Schritte, die zur Enthüllung führen. Eine poetische Feier des Unfassbaren und der Freiheit. Ein Aufstieg, um die Vergangenheit zu vergessen und sich auf das Versprechen einer Erneuerung zuzubewegen. Stimmst du dem nicht zu?
T: Was ich erlebte, nachdem ich diese Tür geöffnet hatte, ist tausend Meilen von der Aussage dieser Beschreibung entfernt. Ich kann jedoch nicht bestreiten, dass da trotzdem etwas Wahres dahinter steckt. Ja, ich hatte eine tiefgreifende Erkenntnis. Ich experimentierte mit dem Unfassbaren und erlebte etwas, das man eine echte Freiheit nennen könnte. Was die Erneuerung betrifft, so habe ich den Eindruck, dass ich heute noch derselbe bin, der ich vor 24 Jahren war. Ein Wesen auf der Suche nach dem Sinn, auf der Suche nach seiner wahren Identität, wie ein Amnesiekranker, dessen einzige Erinnerungen Fragen sind: Wer bin ich? Was soll ich mit meinem Leben anfangen? Gibt es noch irgendwo Grenzen, auch wenn sie weit weg sind?
Ist die Liebe stärker als alles andere? Können alle Wunden geheilt werden? Gibt es die Freiheit wirklich? Diese Fragen habe ich mir 24 Jahre lang gestellt und bis jetzt nicht wirklich Antworten bekommen.
R: Und was ist mit dir passiert, nachdem du die Tür geöffnet hast?
T: Die Ateliers haben sich um mich gekümmert. Sie fanden ein schönes Haus in Yosemite für mich. Dort gab es ein nettes kleines Team, das mir half, mich in der neuen Welt zurechtzufinden. Sie waren sehr zuvorkommend, besonders Elliot, der Koch. Er kam einmal in der Woche zum Kochen. Wir haben gekocht und geredet. Das war sehr hilfreich für mich. Später erzählte er mir, dass er auch Psychiater sei. Seine Ehrlichkeit brachte uns näher zusammen. Ich wollte meine Frau Meryl aus jener Zeit nicht mehr sehen. Sie war ohnehin depressiv und in einer Anstalt. Für sie war es schwieriger als für mich. Wir haben uns durch Anwälte scheiden lassen.
A: Und Christoph?
T: Ich war jahrelang sehr wütend auf ihn. Er wurde zu einem Alptraum, der mich nachts heimsuchte. Zum Glück habe ich dann dank der Filmstudios Lauren wiedergefunden. Sie hat mir sehr geholfen. 2004 haben wir geheiratet und sind nach New Orleans gezogen, weit weg von LA. Jonathan wurde 2005 geboren. Er ist heute 17 Jahre alt und bereitet sich auf eine Krankenpflegerausbildung vor.
R: Jonathan? Das erinnert mich an einen meiner Lieblingsfilme, Jonathan Livingstone die Möwe.
T: Sein zweiter Vorname ist Livingstone.
R: Es scheint, als hätte der Atem der Freiheit seinen Weg in dein Leben gefunden.
T: Es ist so eine starke Sehnsucht in mir. Ich kann sie nicht ignorieren; es ist die ultimative Anti-Amnesie! Ja, wie du sagst, es ist ein Atemzug, außerhalb der Zeit, der Identitäten und Irreealitäten auflöst, der Vergangenheit und Zukunft hinwegfegt, in einem Moment, der keinen Anfang und kein Ende hat. Vielleicht ist dies die Ankündigung der Erneuerung?
R: Hast du dich auch beruflich weiter entwickelt?
T: Auf keinen Fall! (lacht) Ich habe einen Job bei einer kleinen Versicherungsgesellschaft in der Gegend von Treme gefunden. Aber dort hatten die Menschen nichts zu versichern, außer ihrem Elend. Das war im Juni 2005, drei Monate nachdem Jonathan geboren wurde. Am 30. August wurde New Orleans vom Hurrikan Katrina heimgesucht, der alles verwüstete. Wir ließen alles hinter uns. Als wir in Annapolis, Maryland, ankamen, hatte das Auto kein Benzin mehr. Ich rief die Studios zu Hilfe. Sie fanden noch am selben Tag eine Wohnung für uns! Wir waren zwar in Sicherheit, aber auch traumatisiert. Der Alptraum von Christoph kam zurück und suchte mich nachts heim. Lauren konnte mich nicht mehr beruhigen. Ich begann mich für Okkulte Praktiken zu interessieren. Ich wollte verstehen, was da passiert. Ich probierte alle Arten von seltsamen Praktiken aus. Die Zeit war schwierig, Jonathan schlafwandelte. Lauren war verängstigt. Sie ging mit Jonathan zu einer Tante, die eine Farm in Montana hatte. Ich blieb allein zurück, mit meinen Alptröumen und meinen ständig klingelnden Uhren. Auf Anraten eines Freundes aus einem esoterischen Kreis ging ich nach Indien. Und dort, mit einem Schlag, war es eine wirkliche Erkenntnis. Nach einigen Begegnungen mit Westeuropäern inmitten einer mystischen Reise, wurde ich einem Guru vorgestellt, der einen Ashram leitete.
Er lehrte mich viele Dinge: über das Leben, über Wesen, Ängste, Wünsche, Heilkräfte. Ich lernte, dass letztlich der Geist die Materie, den Raum und die Zeit beherrscht. Dass nicht wir uns mit dem Geist verbinden, sondern der Geist sich mit uns, wenn wir bereit sind… (Stille)… Ich habe viel geweint. Er nannte mich Truthman, den Wahrheitsmann. „Die Wahrheit ist der einzige Weg“, sagte er. Ich blieb fast ein Jahr im Ashram. Dann verkündete er mir eines Tages: „Jetzt kannst du dorthin zurückkehren, wo du hergekommen bist“. Das muss in vielerlei Hinsicht gemeint gewesen sein, aber ich nahm es ganz einfch räumlich. Ich hatte nichts mehr, kein Geld und kein Gepäck. Ich rief Elliot an, der mir ein Flugticket buchte. Ich landete in L.A. mit meiner orangefarbenen Tunika, mit einem sechs Monate alten Bart und langem Haar, das nach Weihrauch roch. Ich war jetzt ein anderer Mensch, aber wer war ich wirklich? Immer noch keine Antwort. Der Alptraum Christoph hatte den Ashram nicht gemocht. Ich hatte ihn in einer denkwürdigen Yoga-Sitzung verjagt.
R: Also zurück nach LA im Jahr 2006, das ist ein großer Kontrast zu Indien, oder?
T: Ich war bereit. Ich schnitt mein Haar und meinen Bart, Stück für Stück, Zentimeter für Zentimeter, ohne Eile. Die Studios hatten für mich eine Wohnung im Norden von LA gefunden, auf einem Hügel mit Blick auf den Ozean. Es war ein Traum. Ich unternahm viele lange einsame Spaziergänge, bei denen ich über alles und nichts nachdachte. Elliot kam einmal in der Woche, freitags, für einen Eintopfabend vorbei. Genau wie früher. Eines Tages kam er mit Ben, einem Trainer für persönliche Entwicklung. Er suchte einen Assistenten. Ich sagte okay. Er bildete mich aus und ich begann mit ihm zu trainieren. Die Kunden mochten mich, und Ben sagte mir, ich sei sehr gut. Ich machte weiter. Ich bekam Vertrauen in mich selbst. Aber ich vermisste Lauren und Jonathan. Also besuchte ich sie in Montana. Ich mietete einen Bungalow auf einem Campingplatz für eine Woche. Jonathan und ich verstanden uns gut, aber Lauren war noch unentschlossen. Mir gefiel der Ort. Ich mietete eine Wohnung am Rande des Waldes. Ich wohne heute noch dort. Es ist ruhig, die Leute sind nett, es herrscht ein guter Geist der gegenseitigen Unterstützung. Keiner der Menschen dort ist dem anderen Fremd. Dort drüben bin ich nur Truman. Für sie ist die Show vorbei. Ich habe mich wieder mit Lauren zusammengetan, aber wir behalten beide unsere Unabhängigkeit. Sie ist geistig sehr stark, aber sie hat auch viel durchgemacht. Sie ist meine gute Fee, sie ist diejenige, die mir die Augen und das Herz geöffnet hat, in Seahaven*.
R: Das künstliche Paradies, das von du weißt schon wem für dich entworfen wurde? Du hast mir vorhin gesagt, „die Show ist nicht vorbei, sie hört vielleicht nie auf“. Was meinst du damit?
T: Das ist schwer zu erklären. Es ist ein Zustand des Lebens, ein Zustand des Bewusstseins. Ich habe dreißig Jahre lang in einem geschlossenen, fiktiven Universum gelebt, das für mich die einzige Realität war. Eine mächtige Kraft, die ich heute die Kraft der Wahrheit nenne, wurde in mir aktiviert, und ich entdeckte die Täuschung. Ich kam natürlich wieder heraus, aber ich habe den seltsamen Eindruck, dass ich an diesem Tag die Schwelle zu einer anderen, größeren Täuschung überschritt, mit mehr Menschen darin, alles Trumans wie ich. Mit einem Mega-Christoph, der das Sagen hat, irgendwo da oben!
R: Du suchst also immer noch nach einer Treppe? (lacht)
T: Eine Treppe… Es gibt nicht nur Treppen. Es gibt auch Seile. Ich habe eines ergriffen, das Seil der Wahrheit. Solange ich es in der Hand halte, bin ich in der Show und auch nicht mehr in der Show.
R: Ah, da ist es also, das Versprechen. Solange es Wahrheit gibt, gibt es Hoffnung… ?
T: Das ist gut gesagt. Ja, es ist wahr, ich habe Hoffnung. Eine Hoffnung, die wie eine Erinnerung an die Zeit vor der Geburt, vor der Welt ist. Wie eine Erinnerung an eine Hoffnung auf ein Leben, in dem alles wahr ist.
R: Nun, das ist eine reine Truthman-Reflexion. Ich mag es, das Interview mit dieser Erinnerung-Hoffnung zu beenden. Eine letzte Frage: Was war dein Lieblingsfilm auf diesem Festival?
T: Ich glaube, das ist David Cronenbergs Film „Crimes of the Future“. David ist einer der wenigen Filmemacher, der das Unbewusste durch die Zeitungsberichte erforscht. Es ist ein Film, der zum Nachdenken über den menschlichen Zustand anregt und vor den möglichen Auswüchsen des Transhumanismus warnt.
R: Nun, Truman, vielen Dank, dass du so freundlich warst, dieses fast unangekündigte Interview zu geben, und ich wünsche dir eine gute Reise zurück in deine Heimat.
T: Ich danke dir für dieses Interview. Für welche Zeitschrift schreibst du noch mal?
R: Für LOGON, ein Web-Magazin, das den Begriff der Wahrheit hinterfragt. Und ich denke, du warst ein idealer Gesprächspartner (lacht)
T: Also, ich werde mir dieses Web-Magazin jetzt mal genauer ansehen. Danke für den Tipp, Ray.
* Cannes-Festival
* Thierry Frémaux: Festivaldirektor
* Seahaven: Name der fiktiven Stadt in dem Film Die Truman Show