Der Berg ruft

Welcher Berg ruft da? Ein heimischer Gipfel, ein Achttausender, der Hausberg – oder ein symbolischer Berg?

Der Berg ruft

„Der Berg ruft” ist ein weit verbreiteter Spruch, der zu einer Bergwanderung oder -besteigung einlädt. Es ist ein magischer Ruf, der anzieht, der etwas verspricht: Gipfelglück? Herrliche Aussichten? Gefühle der Erfüllung oder Selbstverwirklichung unseres Egos? Oder ist es ein Ruf aus einer anderen Welt, der Welt der Seele, die sich durch die Ausstrahlung des „Berges“ in uns Gehör verschaffen möchte? Der Psalmist spricht:

Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt. Meine Hilfe kommt von dem Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.[1]

In unserer heutigen, von Höher-Weiter-Schneller dominierten Zeit ist die mystische Bedeutung der Berge fast verloren gegangen. Ruft uns der physische Berg, ein Felsmassiv, oder ruft uns unsere Seele zu einem „Berg“, der nicht von dieser Welt ist? Sollen wir uns physisch verändern und auf den Berg klettern oder in uns gehen und den Ursprung des Rufs in uns suchen und ihm nachgehen? Können wir Antworten finden durch das Erklimmen eines Berges oder durch das Suchen des „Königreiches in uns“ [2], das näher ist als Hände und Füße? Oder … führt ein Weg von dem einen zum anderen?

In den Weltreligionen und Philosophien haben Berge eine besondere Bedeutung. Der Himalaya ist Sitz der Götter im Hinduismus und Buddhismus, mit dem Berg Meru als Zentrum der Welt, sichtbar im Berg Kailash im indisch-tibetischen Grenzgebiet. Im Alten Testament wurde Moses von Gott auf den Berg Nebo gerufen, um das gelobte Land zu sehen, in das er nicht selbst gehen konnte. Im Neuen Testament lesen wir vom Rückzug Jesu auf verschiedene Berge, von der Bergpredigt und dann von der Verklärung Jesu auf dem Berge. Hier wird beschrieben, was auf dem Gipfel des „Seelenberges“ geschieht. Die Kreuzigung Jesu findet auf einem Berg statt und ebenso die Himmelfahrt. Die Katharer, die in den Pyrenäen lebten, vollzogen ihre Besinnungen und inneren Verwandlungen in den Höhlen um Ussat-les Bains und begaben sich als letzte Zuflucht vor dem Heer von Papst und König auf den Montségur. Und da ist Lalibela in Äthiopien mit seinen aus dem Fels gehauenen Kirchen und Einsiedeleien …

Der Mensch sucht eine Verbindung zu Gott, er sucht dem Göttlichen näher zu kommen. Und seit alters her hat ihn dabei die Ausstrahlung der Berge angezogen, und so hat er ihnen eine mystische, religiöse Bedeutung verliehen. Heute wird der Ruf der Berge meist als ein Ruf zu Abenteuer und Verwirklichung von Ambitionen erfahren, aber vielleicht klingt auch heute noch im Hintergrund ein zweiter Ruf mit, der Ruf der Stille, die uns in unser Innerstes führen will.

Der Ruf nicht von dieser Welt

Das Suchen nach einer anderen Dimension hat auf der ganzen Welt Spuren hinterlassen, und davon legen auch die Berge Zeugnis ab: Steinhaufen wurden auf ihnen errichtet, Gebetsfahnen angebracht, in Stein gemeißelte Gebete und Statuen finden sich auf ihnen,, Gebetsmauern, Kreuze auf den Spitzen und Schreine an Weggabelungen. Es gibt Pilgerstädte an mystischen und von der Natur eigentümlich geformten Berg- und Felsstrukturen. Es gibt natürliche Seen in 4.000 bis 6.000 Metern Höhe im Himalaya, die schwer zu erreichen sind, aber als Sitz Shivas und Parvatis verehrt und jährlich durch große Pilgerströme belebt werden.

Die Pilger nehmen den beschwerlichen Aufstieg gläubig und voller Hingabe auf sich. Ein Bad im eiskalten Wasser der Gosainkundaseen soll alle Sünden und alles Karma abwaschen und eine gute Wiedergeburt sichern. Bei äußerer Betrachtung erscheint es als ein Rummel aus einfachen Pilgern, Schamanen mit Trommeln und Schellen, Yogis und Sadhus. Werden sie alle die Ruhe finden, die sie suchen, die Erhebung aus der Trübsal ihres Alltagslebens? Sie ist ja da, die tiefe Stille, sie ist hinter der Geräuschkulisse, erhebt sich majestätisch … und ist nicht leicht zu erreichen. So klagt die Stimme der Stille:

Ach, dass so wenige Menschen Nutzen ziehen aus dieser Gabe, dem kostbaren Geschenk, die Wahrheit zu erfassen, der richtigen Wahrnehmung dessen, was da ist, und der Erkenntnis des Nichtvorhandenen.[3]

Größer, schneller höher. Die Zeltstädte der Basislager im Himalaya sind berühmt. Die Stimme der Stille wird nicht gehört, und der Ruf des Psalmisten nach Hilfe von den Bergen wird überdeckt. Und doch ist dieses Rufen vorhanden und wir können uns ihm nähern. Von den hohen Gipfeln erklingt der Ruf der Stimme der Stille, der Ruf des Psalmisten, der Ruf des Nirvana, der Klang des Innersten der menschlichen Seele. Aus dem Herzen der Welt erklingt der Ruf, von den Bergesspitzen her breitet er sich über die Menschheit aus – der Ruf der geistigen, heiligen Erde. Um ihn zu hören und anzunehmen, brauchen wir nicht auf die physischen Berge zu klettern, sondern müssen hinabsteigen in uns selbst – um dann wieder aufzusteigen auf den „Gipfel, auf dem die Form stirbt“.

Das Königreich Gottes ist uns näher als Hände und Füße. Die „neue Erde und der neue Himmel“ [4],

können zu uns herabsinken.

Mein Weg

Ich bin mit Bergen aufgewachsen, sie waren und sind meine Freunde. Ich habe Freud und Leid mit ihnen geteilt, und schon in meiner Kindheit und Jugend gaben sie mir Freude, Trost und auch Hilfe. Sie zogen mich an und führten mich in den Himalaya. Damit einher ging mein Suchen. Dieses Suchen beschränkte sich nicht auf das Bezwingen von immer mehr und immer höheren Bergen. Es führte mich zum Suchen nach dem Anderen und zu der Erkenntnis, dass ich nicht die physischen Gipfel der Berge besteigen, sondern dem inneren Ruf folgen soll.

Es bot sich mir die Gelegenheit, im Himalaya zu arbeiten. Ich konnte immer höhere Berge besteigen und gleichzeitig die spirituellen Zentren und die spirituellen Ausstrahlungen der Berge im Himalaya erfahren. Ich versuchte, ihre Botschaften aufzunehmen. Tiefgehende und für mein weiteres Leben richtungweisende Erfahrungen wurden mir zuteil,[5] Ich lernte, das Rufen der Berge als einen neuen, unstofflichen und spirituellen Ruf der Seele anzunehmen, und ich versuche, darauf zu reagieren.

In Gedanken versunken, gehe ich durch einen verschlungenen Rhododendren-Wald meinem Tagesziel entgegen. Auf welchem Weg befinde ich mich – auf dem Weg zum Gipfelglück dieser Welt? Oder auf dem Weg zu „den Bergen, von denen mir Hilfe kommt“?

Ich erinnere mich an eine Begebenheit von Christian Rosenkreuz auf seinem Weg zur Alchymischen Hochzeit [6]: er steht an einer Weggabelung, muss wählen und kommt zu keinem verstandesmäßigen Entschluss. Da nähert sich ihm eine Taube, mit der er sein Brot teilt. Sie wird verscheucht durch den Raben, der ihr das Brot streitig macht. Spontan läuft Christian Rosenkreuz den Vögeln hinterher, um die Taube zu retten und den Raben zu vertreiben, ohne zu merken, dass er damit seinen Weg gewählt hat. Die spontane Entscheidung der Verteidigung der Taube kam aus seinem Innern und führte ihn auf den „guten Weg“. Diese Geschichte stärkt in mir das Vertrauen, in Demut und Ausgerichtetsein den mir zustehenden Weg zu wählen: Dein Wille, nicht mein Wille geschehe.

Im Licht der untergehenden Sonne werden die Schneegipfel des Himalaya rosa, die Ruhe und der Frieden, den die Natur ausstrahlt, stärken die Sehnsucht und das Verlangen, mich zu öffnen für die „Hilfe, die von den Bergen kommt“ … So erreiche ich mein Tagesziel, und die Sicherheit, dass ich den „Gipfel, auf dem die Form stirbt“, einmal finden werde. Es scheint mir, dass die Ruhe und der Frieden der Natur auch eine Klage aussenden:

Ach, dass alle Menschen an der Weltseele teilhaben und eins mit der Großen Seele sind, und dass sie ihnen doch von so wenig Nutzen ist.[7]


[1] Psalm 121
[2] Lukas 17, 21 (Einheitsübersetzung)
[3] H.P. Blavatski, Die Stimme der Stille, Adyar Verlag, Graz, S. 38
[4] Off. 21,1
[5] wie ich sie z.B. in den Artikeln Begegnung im Himalaya (10.01.2018) oder Tibet 1986 (19.06.2019) in LOGON beschrieben habe
[6] Jan van Rijkenborgh, Die Alchymische Hochzeit von Christian Rosenkreuz, Rozekruis Pers, Haarlem 1967, S. 25
[7] H.P. Blavatski, Die Stimme der Stille, a.a.O., S. 38

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Datum: Juni 22, 2023
Autor: Horst Matthäus (Nepal)
Foto: Balaji Srinivasan on Pixabay CCO

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