Das Licht der Welt

Das Licht der Welt

In unserer Zeit gibt es eine immer größer werdende Gruppe von Menschen, die auf verschiedene Weise nach Befreiung suchen. So wird zum Beispiel Befreiung gesucht, weil das Leben als fesselnd, als unfrei erlebt wird.

Und so verständlich und vielleicht erkennbar der Wunsch nach Befreiung auch ist, ist es wirklich möglich, wirklich befreit zu sein, indem man die Befreiung für sich selbst sucht? Oder ist die Möglichkeit der Befreiung auf eine andere Weise in uns verankert?

Jedes menschliche Leben entsteht im Mutterleib, der kleinsten Lebenswelt, die ein Mensch in seinem Leben kennenlernt. Wenn wir uns diese Lebenswelt als einen Kreis vorstellen, dann beginnt dieser Kreis sehr klein und dehnt sich von diesem Ausgangspunkt aus. Nach der Geburt wird die Lebenswelt bereits größer, aber selbst diese Welt ist noch klein, in der Wiege und in der Nähe der Eltern. Das Baby beginnt zu wachsen, und bald geht es in die Schule, trifft Meister, Lehrer, Freunde, und so erweitert sich die Welt des Kindes weiter.

Vielleicht beginnt es nach dem Besuch der weiterführenden Schule zu studieren oder zu arbeiten, um noch mehr vom Leben zu entdecken und auf vielfältige Weise zu suchen. Diese Suche zielt oft zunächst darauf ab, die Erfüllung des Lebens, ein Ziel oder einen Bestimmungsort oder die Freiheit zu finden. Die Hoffnung oder der Wunsch ist, dass diese Erfüllung und Befreiung z. B. in einer Fernreise, einem Traumjob oder in Beziehungen zu anderen zu finden ist. Und so wird auf dieser Entdeckungsreise die Lebenswelt immer größer, bis sie die größte ist. Man sagt dann oft, dass ein solcher Mensch in der Blüte seines Lebens steht. Im Laufe der Jahre wird die Welt allmählich wieder kleiner.

Aber auch in der Blütezeit des Lebens kann es sein, dass an manchen Menschen etwas nagt, dass es doch nicht ganz richtig zu sein scheint.

Irgendwann tauchen Fragen auf wie: „Was ist das Leben eigentlich? Ist das jetzt alles? Für manche stellen sich diese Fragen in der frühen Kindheit, für andere als (junge) Erwachsene. Für wieder andere in der letzten Lebensphase, und es kann auch sein, dass sich jemand überhaupt nicht mit ihnen auseinandersetzt. Lebensfragen können von einem starken Verdacht begleitet sein, dass es mehr geben muss, wie eine Vorerinnerung an ein anderes oder höheres Leben.

Die Suche in der Außenwelt hat eine Zeit lang Befriedigung verschafft und zum Sammeln vieler Erfahrungen geführt. Aber eine dauerhafte Lebenserfüllung war dort nicht zu finden, einfach weil das Beständigste die Veränderung und nichts von Dauer ist. Wenn bittere Erfahrungen die Hoffnung auf Erfüllung in der äußeren Welt schwinden lassen, kann ein Mensch beginnen, sich weniger auf die äußere Welt und mehr auf die innere Welt zu konzentrieren. Die Suche in der äußeren Welt wird weniger, es gibt immer mehr Aspekte des Lebens, bei denen festgestellt wird, dass auch dort kein dauerhaftes Glück zu finden ist. Und dann stellt man fest: Es gibt keinen Ort auf der Welt, an dem diese dauerhafte Lebenserfüllung, dieses „Es“, gefunden werden kann. Das klingt vielleicht deprimierend, ist aber letztlich genau das Gegenteil davon, wie im Folgenden gezeigt wird.

Denn wenn man erkennt, dass die Erfüllung weder in der Welt noch in einer anderen zu finden ist, noch von der Welt oder einer anderen erwartet wird, dann kann die Suche in der Welt aufhören. Denn dann entsteht die Erkenntnis, dass Erfüllung und Ganzheit im tiefsten Wesen in einem selbst zu finden sind. Aus dieser Ganzheit heraus ist alles bereits vollständig und so, wie es sein sollte. Die Suche nach dem Selbst – im Sinne eines egozentrischen Erfüllungswunsches – erlischt.

Im Innersten unseres Wesens kann dann die Berührung des Lichts im frei gewordenen Raum stattfinden. Durch diese Berührung wird deutlich, dass die gesuchte Erfüllung und Verbindung immer schon ganz nah war, nämlich im Herzen. Die Freude, die mit dieser Berührung verbunden ist, ist nicht von äußeren Umständen abhängig, denn die Quelle dieser Berührung ist das Licht selbst, und dieses Licht ist unsterblich.

Wenn die Verbindung mit dem Licht schließlich stark genug geworden ist, kann sie durch keine schwierigen Umstände und keine Dunkelheit in der Welt mehr beeinträchtigt werden. Im Johannesevangelium deutet Jesus Christus dies an, indem er sagt:

‚Auch ihr habt jetzt Traurigkeit; aber ich werde euch wiedersehen, und euer Herz wird sich freuen, und niemand wird euch die Freude nehmen. [1]

Da die Begegnung mit der Christuskraft oder der Liebe in uns eine Begegnung mit einer ewigen Kraft ist, besteht das Potenzial für einen inneren Frieden, der nicht mehr durch Situationen in unserem Leben weggenommen werden kann.

Diese Begegnung ermöglicht den Wunsch, die empfangene Kraft zurückzugeben. In der Bergpredigt heißt es:

Du bist das Licht der Welt. Eine Stadt, die auf einem Berg thront, kann nicht verborgen werden. Man zündet auch nicht eine Lampe an und stellt sie unter den Scheffel, sondern auf die Fahne, und sie leuchtet allen, die in deinem Hause sind. So lasst euer Licht leuchten vor den Menschen, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen. [2]

Diese Aussage fordert uns auf, die Lichtkräfte, die wir empfangen haben, nicht für uns zu behalten (unter den Scheffel zu stellen), sondern sie weiterzugeben und auszustrahlen (die Lampe auf einen Ständer zu stellen). Dieses Ausstrahlen ist nicht auf diejenigen beschränkt, die man mag, sondern richtet sich an alles, was lebt. Das Wohlergehen aller wird wichtig, für jeden in gleichem Maße. Unsere Talente sind ein Werkzeug, um dies in der Welt zu verwirklichen.

Doch diese Einladung kann nicht mit dem eigenen Willen oder der Absicht beantwortet werden, von nun an das Licht auszustrahlen. Denn es ist das Licht selbst, das die volle Weisheit, ja die volle Weisheit ís, hat und uns den Weg zeigt. Die einzige Frage für uns ist, dem Licht in uns Raum zu geben.

Wenn wir dies tun, in voller Verbundenheit und mit aufrichtiger und engagierter Aufmerksamkeit für die Menschen und alles andere um uns herum, dann kann „das Licht für die Menschen leuchten“. Durch unsere Hingabe hier und jetzt wird das Licht verbreitet und die Herzen der Menschen können von der Liebe berührt werden.

Und das Außergewöhnliche ist nun, dass, wenn das Streben nach Befreiung für sich selbst dem Wunsch weicht, allem Leben zu dienen, die Verstrickung abnimmt und ein Frieden eintreten kann. Das bedeutet nicht, dass man sich selbst vernachlässigt oder sich als weniger wert erachtet als andere, aber der Fokus auf die Befreiung des eigenen Ichs wandelt sich in einen Fokus auf das Wohlergehen des gesamten Lebens. Und genau darin liegt die Verbindung und die Freiheit, nämlich die Freiheit von sich selbst.

Die Wirkung der Transformation, die durch die Liebe ermöglicht wird, ist größer als unser Verstand begreifen kann. Das Licht, das in einem Menschenherz freigesetzt werden kann, kann andere berühren. So kann das Licht an Größe gewinnen und seine Wirkkraft steigern. Es liegt an uns, das Licht in unseren Herzen freizusetzen und es zu transformieren, damit es in der Welt wirken kann. Niemand sonst kann es verwirklichen.

Du bist das Licht der Welt.

Quellen:

[1] Johannes 16,22

[2] Matthäus 5,14-16

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Datum: Dezember 1, 2024
Autor: Christian Bruin (Netherlands)
Foto: by Sebastian Kanczok on Unsplash CCO

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