Sterben, um zu leben und leben, um zu sterben

Sterben, um zu leben und leben, um zu sterben

Peer Gynt und der Knopfgießer

Die Themen, die den Tod berühren, haben in den letzten Jahrtausenden in der europäischen Geschichte eine intensive Wandlung erfahren. Zur Zeit der keltischen Hochkultur erfuhren die Menschen den Tod nicht als Barriere

Ein großer Teil von ihnen war zu dieser Zeit noch hellsichtig. Sie verloren während ihrer irdischen Lebensphase nie ganz den bewussten Kontakt zu ihrem Ursprung.

Die Hellsichtigkeit und der Tod

Das Wissen der Druiden und die Geschichten der Barden erlebten die Menschen damals als Impulse, deren Resonanz sie in ihren tieferen Bewusstseinsschichten bewuss erfuhren. Die Riten und Geschichten entwickelten eine intensive Führungskraft und halfen ihnen, die schwere Zeit der Kontraktion ihrer Seele in ihrem materiellen Kleid für die eigene Seelenentwicklung zu nutzen. Sie sahen in der irdischen Geburt eine schmerzhafte Kontraktion der Seele, die sich erst durch den Tod wieder auflöste und als eine entspannende Expansion der Seele erfahrbar wurde (s. dazu die Artikelfolge auf www.logon.media, „Das Leben der Kelten“):

Während des Lebens in der Materie blieben die meisten Kelten sich ihres unsterblichen Ursprungs bewusst. Sie wussten, wo sie herkamen und wohin sie eines Tages zurückkehren würden. Vielleicht musste sich diese Hellsichtigkeit irgendwann verflüchtigen, damit sich der Weg in eine tiefere Dimension der Materie öffnen konnte, der dem Menschen neue Erfahrungen wachsender Individualisierung versprach.

Aus der geistigen Sonne, von der die Kelten zeugten, wurde nach und nach die physische Sonne, der Stern, um den sich die Erde dreht. Mit der Abnahme der Hellsichtigkeit wurde der Tod zu einer Barriere. Der Mensch vergaß bald nach der Geburt seinen Ursprung, und der Tod wurde zu einem angstbesetzten Die Intuition vermittelte immer noch etwas von der Faszination des Todes als Durchgang zu anderen Weltensphäre, aber die bewusste Kenntnis verflüchtigte sich und wurde zunehmend durch Spekulationen ersetzt.

In der abendländischen Kultur wurde die Beschäftigung mit der Endlichkeit und dem Tod zunehmend aus dem täglichen Leben verbannt. In der Kunst und Literatur des Mittelalters tritt er als Sensenmann, das düstere manchmal grinsende Skelett in Erscheinung, das plötzlich und ohne Vorwarnung kommt und die Lebensfäden zerschneidet.

Peer Gynt und der Knopfgießer

Eine interessante Variante des Sensenmannes ist in der nordischen Sagenwelt der Knopfgießer, wie ihn Hendrik Ibsen in seinem norwegischen Nationalepos Peer Gynt in kurzen Dialogen am Ende seiner Dichtung darstellt. Hier beschreibt Ibsen eine in Teilen andere Sicht auf das Sterben und Leben, als es in der Symbolik des Sensenmannes sichtbar wird. Peer Gynt wird oft als der „Faust des Nordens“ bezeichnet. Faust ist in Goethes Dichtung der Gelehrte, der sich mit den wesentlichen Wahrheiten des Menschen und der Natur beschäftigt, sie für sich öffnen möchte. Sein Bewusstsein kann aber seiner Sehnsucht nach Wahrheit nicht genügen und so erfährt er durch den Erdgeist Zurückweisung  und bekommt zur Antwort:

Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir.

Peer Gynt ist von Anfang an der Prahler und Hochstapler, der die Menschen belügt, betrügt und hintergeht. Er entführt auf der Hochzeit eines Bauernsohnes in seinem Dorf die Braut, Solveig. Sie folgt ihm in die Berge, um aber schon bald wieder von ihm verstoßen zu werden, während er sich mit den Bergtrollen einlässt. Die kurze, intensive Begegnung mit Solveig reicht aber dafür aus, dass sich ein Teil seiner Seele mit ihr verbindet. Er zieht fort in die Welt, während sie seine Seele in einem der Ewigkeit zugewandten Leben beschützt und darauf wartet, dass er zurückkommt.

Ein Leben, zwei Biographien

Peer träumt von einem reinen Leben mit Solveig, wird aber noch vor Beginn ihrer gemeinsamen Zukunft durch die Faszination des irdischen Lebens weggespült. Es lockt ihn die ganze Faszination der irdischen Vielfalt und reißt ihn mit sich fort. Das „Ewige“, „Reine“, was ihn in seiner Jugend mit Solveig verband, verblasst und stirbt jeden Tag Stück für Stück. Er hat sich aber vor Beginn seiner Reise in die weite Welt mit Solveig verbunden und so bleibt ein kleiner Teil von ihm bei ihr, bleibt als lebendiger Keim in ihrem Herzen unvergessen.

Solveig lebt seine „zweite Biographie“. So gibt es zwei Biographien, zwei Lebensarchitekturen, die zusammengehören, Solveig und Peer. Peer geht seinen Lebensweg in die Welt hinein, in ihm verblasst die Ewigkeit, und Solveig lebt und „stirbt“ zur selben Zeit in die Ewigkeit hinein, in ihr verblasst die Welt. Sie ist am Ende ihres Lebens blind und wartet auf den, der sich in die Zeit verloren hat. Sie singt jeden Tag ihr Lied und bewahrt so Peers Unsterblichkeit in ihrem Herzen.

Der Knopfgießer fordert die Seele

Peer Gynt kehrt eines Tages, verarmt und alt, nach Norwegen zurück. Er befindet sich, durch seine Erinnerung getrieben, auf dem Weg zu Solveig und damit auch zu dem Teil, der in seiner Jugend noch lebendig war, als er unvorbereitet dem Knopfgießer begegnet, jener gerichtlichen Instanz, die den Auftrag hat, ihn zu holen. Der Knopfgießer erklärt ihm die drei Möglichkeiten, die jedem Menschen am Ende seines Lebens offen stehen. Er kann zu den Heroen der Menschheit gehören, wenn er große Taten zum Wohle der Menschheit begangen hat, das würde ihn vor dem Schmelzlöffel des Knopfgießers bewahren. Den Reisepass zum „Blauen“, also in den Himmel, hätte er dann schon in der Tasche. Wer auf der anderen Seite große Sünden begangen hat, darf in die Hölle. Er wäre ebenfalls vor dem Schmelzlöffel sicher, behielte also in jedem Fall seine im Leben erworbene Individualität und würde in einem neuen Leben nicht von vorne anfangen. Wer aber weder das eine erworben, noch das andere vorzuweisen hat, endet im Ausschusstopf, kommt in den Schmelzlöffel des Knopfgießers und wird bar jeder Individualität umgeschmolzen. Aus der Substanz darf dann ein Mensch, als „neuer Knopf“, als neues Gepräge, sein Glück in der Welt suchen.

Der Knopfgießer möchte wissen, ob Peer Gynt sein Leben lang er selbst gewesen ist. Nur wer er selber gewesen ist, ob im Guten oder im Bösen, bleibt von dem Schmelzlöffel verschont. In dem weiteren Dialog zeigt sich, dass Peer Gynt den Schmelzlöffel, diese Entindividualisierung, mehr fürchtet als die Hölle. Lieber möchte er als Peer in der Hölle hundert Jahre verbringen, als in dem Schmelzlöffel des Knopfgießers seinen Tod ohne Wiederkehr zu erfahren.

Die Essenz der Lebenserfahrung

Sein Selbst als Essenz der Erfahrungen, in denen die Ewigkeit seine Anwesenheit in der Zeit bezeugt, gilt es für ihn zu verteidigen. Die Monade, das geistige Selbst, macht sich auf der Leinwand der Materie sichtbar und geht mit ihr eine Verbindung ein. Das Ewige erzeugt in der Verbindung mit der Materie eine Historie. Daraus entsteht ein Selbst, das versucht, Unsterblichkeit zu erlangen. Das ist aber nur möglich, wenn es sich mit seinem monadischen Ursprung wieder vereinen kann. Alles, was sich nicht über ein bestimmtes Niveau erhebt, muss wieder vergehen. Die Qualität der Essenz eines Lebens, so erklärt der Knopfgießer, ist nun Grundlage für seine Entscheidung, am Ende des Lebens die Seele für den Schmelzlöffel zu fordern. Der Knopfgießer fragt:

Peer, bist du immer du selbst gewesen, warst du immer nur Peer?

Sei du du selbst

Peer Gynt ist offenbar nicht genug „er selbst“ gewesen. Aber die Dichtung zeigt noch einen weiteren Weg auf. Er hat sich nie mit dem Tod und der Qualität seines Lebens auseinandergesetzt und wird nun am Ende seines Lebens mit seinen Taten konfrontiert. Seiner eigenen Sterblichkeit suchte er immer zu entfliehen und er vermied sowohl seiner dunklen Seite, seinem irdischen Wesen, zu folgen, als auch sich seiner hellen, dem himmlischen Wesen hinzugeben. So war sein Leben lau und soll nun im Schmelzlöffel sein Ende finden. Nur eine Frage drängt sich Peer auf, die er dem Knopfgießer stellt:

Eine Frage nur noch.
Was ist dieses „sei du du selbst“ im Grunde?

Der Knopfgießer:
Eine seltsame Frage, zumal im Munde
von einem, der jüngst erst –

Peer Gynt:
So antworte doch!

Der Knopfgießer:
Du selbst sein heißt: dich selbst ertöten.
Doch du brauchst vielleicht noch ein deutlicher Bild? –
Des Meisters Willen als wie ein Schild
an seines Lebensschwerts Griff sich löten.

Peer kann dem Knopfgießer weder ein Register seiner Wohltaten noch seiner Sünden vorweisen. Ihm bleibt nur die unbewusste Verbindung zu Solveig aus seiner Jugendzeit. Sie hat den „Reisepass zum Blauen“ in der Tasche. Der dritte Weg, dieses „sei du du selbst“ liegt am Ende in der Vereinigung von Solveig und Peer durch das Band einer bedingungslosen Liebe und Hingabe, mit der beide fest miteinander verbunden sind.

Peer nähert sich seiner Gefährtin, die ein Leben lang auf ihn gewartet hat und wirft sich ihr zu Füßen. Mit dieser bedingungslosen Reue auf der einen Seite und der bedingungslosen Annahme einer Seele, die ein Leben lang auf ihn gewartet hat, springt Peer dem Knopfgießer aus seinem Schmelzlöffel.

Edvard Grieg lässt in seiner symphonischen Bearbeitung des Epos an dieser Stelle Glockengeläut ertönen. In der Symphonie öffnet sich in der Musik ein Tor zu einem neuen Leben.

Jeder Mensch trägt die beiden Wesenszüge Peer und Solveig in sich. Der eine wendet sich sehnsuchtsvoll der Ewigkeit zu, während der andere versucht, sich in der Welt auszuleben. Und Jeder Mensch versucht, eingezwängt in das irdische Leben, beiden Seiten Rechnung zu tragen. Der griechische Philosoph Pythagoras forderte, an der Wiege der abendländischen Kultur, in seinen Lebensregeln:

Bedenke täglich, dass du sterblich bist.

Als Konsequenz davon erklärte Angelus Silesius:

„Wer nicht stirbt, bevor er stirbt, der verdirbt, wenn er stirbt.“

Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit

Gerade dieses Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit und dieses „Sei du du selbst“ hat sich in den letzten 2000 Jahren verflüchtigt, hat den westlichen Teil der Menschheit zunehmend in eine Oberflächlichkeit abgleiten lassen und dem Knopfgießer das Feld für die Verwertung am Lebensende überlassen.

Das Bewusstsein von der eigenen Sterblichkeit ist zu einer Faszination gegenüber den medialen Inszenierungen in Nachrichten, Filmen und Computerspielen degeneriert. So lassen Menschen jeden Abend millionenfach in ihren eigenen vier Wänden auf den Bildschirmen Menschen sterben, ohne dass sie sich mit der eigenen Sterblichkeit auseinandersetzen – und stehen ihr dann am Ende vollkommen unvorbereitet gegenüber.

Vielleicht kann eine sich andeutende neue Hellsichtigkeit dem Menschen auch während seines Lebens in der Materie das Bewusstsein der eigenen Unsterblichkeit wieder bewusster machen. Dann währe sicher eine starke Veränderung des Zeitgeistes die Folge.

 


Henrik Ibsen: Peer Gynt

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Datum: Januar 27, 2025
Autor: Heiko Haase (Germany)
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