Die Traditionen der Ureinwohner Neuseelands wurden jahrhundertelang geheim gehalten, bis sie vor einigen Jahren ans Tageslicht gebracht wurden. In dem Lied von Waitaha wird berichtet, dass dieser so abgelegene Teil der Erde, durch höheren Impuls geleitet, gesucht und gefunden wurde. Der Überlieferung nach wurden verschiedene Völker und sogar Rassen dorthin geführt. Das gesamte Gebiet des Stillen Ozeans wurde zu einem weit ausstrahlenden Zentrum – einem Mysterienzentrum, wie es heißt. Hotu Matua, die Heldin des Maori-Volkes aus Polynesien, sowie Kiwa, der Seefahrer der Urukehu, kamen aus dem Osten, genauer gesagt, aus Südamerika. Sie kamen also aus Gebieten, die mindestens 8000 km voneinander entfernt waren, um sich an diesem einsamen Ort zu begegnen. Das bedeutet mehr als das persönliche Los zweier Menschen. Genauso, wie später ihr Enkel Maui nicht aus Entdeckungssucht getrieben, sondern durch einen inneren Auftrag das noch unbewohnte Neuseeland suchte und entdeckte. Schließlich fand auch noch ein drittes Volk den Weg zur Osterinsel, die „Steinmenschen“, die als selbstständige dritte Rasse beschrieben werden.
Für mehr als tausend Jahre ist dieser Ort, die Osterinsel, ein spirituelles Mysterienzentrum im Stillen Ozean gewesen.
Die Geschichte umschreiben
Durch das Lied von Waitaha können wir eine neue Chronologie schreiben und zwar auf der Basis der Geschichte von mehr als 70 Generationen, über die darin berichtet wird. Wir stoßen auf einen Bericht über den enormen Vulkanausbruch von Tamatea auf der Nordinsel Neuseelands. Er fand vor ca. 1.700 Jahren statt. Ungefähr am Beginn unserer Zeitrechnung setzte Maui, der Enkel von Hotu Matua und Kiwa, in Neuseeland seinen Fuß an Land. Er war von der Osterinsel gekommen.
Während des dritten und vierten Jahrhunderts wurde das Land erschlossen. Es wurden unter anderem Kartoffeln von der Osterinsel eingeführt. Pounamu (Greenstone), der heilige Stein von Neuseeland, eine Jadeart, wurde seiner Heilkraft wegen gesammelt und im ganzen polynesischen Archipel verbreitet. Das geschah wohl 37 Generationen lang, also bis ins zwölfte oder dreizehnte Jahrhundert unserer Zeitrechnung.
Durch die Einfälle kriegerischer Maori aus Polynesien gingen die alten Völker unter, ohne dass die Maori das alte Wissen der Osterinsel assimilieren konnten.
Auch die Geschichte der Osterinsel kann im Hinblick auf die alten Überlieferungen neu geschrieben werden. Dem Lied von Waitaha nach fanden die ersten Kolonisationen gleichzeitig statt. Aus Polynesien kam Hotu Matua. Kiwa kam während oder vor Beginn unserer Zeitrechnung aus Südamerika. Etwas später arrivierte ein drittes Volk, wahrscheinlich aus Asien. Im vierzehnten Jahrhundert kamen gewalttätige Polynesier auf die Osterinsel und nach Neuseeland. Sie hielten die alte Kultur nicht in Ehren und verursachten Streit und Konflikte, wodurch schließlich (im siebzehnten Jahrhundert) die alte Osterinsel-Kultur unterging.
Die auf der Osterinsel gefundenen Zeugnisse lassen erkennen, dass sich hier keine lokale Stammeskultur entwickelte, sondern eine ausgesprochene Hochkultur. Nirgends in der Welt gibt es noch solche riesigen Steinbilder. Es ist kaum vorstellbar, dass Menschen, die keine eisernen Werkzeuge besaßen, derartige Skulpturen herstellen, transportieren und aufrichten konnten. Sie sind bis zu 12 Meter hoch und weisen ein Gewicht von mehr als neunzig Tonnen auf. In einer Grube liegt sogar eine unvollendete Figur mit 21 Metern Höhe. Außerdem wurde eine eigene Schrift gefunden, die zu den wenigen gehört, die bis jetzt noch nicht entziffert sind. Auffallend ist ihre Übereinstimmung mit der Schrift der Indus-Kultur in Nord-Indien (Mohenjo-daro, Harappa), die auch noch nicht entziffert wurde.
Die Pracht des Regenbogens
Die Steinbilder stimmen stark überein mit den in Stein gehauenen Figuren in der Mongolei, die ebenfalls ohne Beine in der Landschaft stehen. In dem Lied von Waitaha sind einige, wenn auch nur vage Hinweise auf einen asiatischen Ursprung der „Steinmenschen“ (Lu Takapo). Sie erreichten unter Leitung von Rongueroa die Osterinsel. Die Schöpfer der Steinbilder kamen „von den höchsten Bergen, dem Dach der Welt.“ Damit können nicht die Anden gemeint sein, denn von dort kam Kiwa. Die Herkunft der drei unterschiedlichen Völker aus ganz verschiedenen Richtungen und Strömungen wurde oft nachdrücklich betont.
In der kollektiven Erinnerung der Osterinsel-Kultur wird von mehreren Katastrophen berichtet, in denen Feuer eine Rolle spielt. Es können Vulkanausbrüche gewesen sein, das Feuer „regnete aus dem Himmel“. Es wird auch eine große Überschwemmung erwähnt, die durch ein Seebeben verursacht wurde. Die entsprechenden Spuren haben Archäologen tatsächlich gefunden. In der Erzählung heißt es: „In der Pracht des Regenbogens liegt die Sicherheit beschlossen, dass die große Flut nicht mehr zurückkommen und die Erde nicht mehr mit tiefem Wasser bedecken wird. Im Regenbogen sind die Farben der Völker aller Länder sichtbar. Der Traum ist erfüllt: das Gelöbnis des Friedens.“
Sollte dieses Mysterienzentrum auf der Osterinsel uns nicht zu den frühesten, lange vergangenen Zeiten des Ursprungs zurückführen? Ist dort vielleicht die ursprüngliche Kenntnis der Menschheit entstanden, vielleicht über das Mysterienzentrum in der Gobiwüste in Zentralasien? Kommt das Wissen über die großen Fluten und das Entstehen des Regenbogens auch von dort?
Der Ober- und der Unterkiefer
Die Überlieferungen der Waitaha und anderer alter Völker enthalten keine konkreten Berichte über Mysterienlehren, Einweihungen oder Kulte. Dennoch können wir deutlich zwei Ebenen unterscheiden, Kenntnis und Weisheit, die heiligen Geschichten des „Oberkiefers“ und die Stimme des „Unterkiefers“. Die ersten waren streng geheim und nur wenige auserkorene, von Geburt an unterwiesene Menschen kannten sie. Sie mussten „sanfte“ Menschen sein. Die „Kraft des Oberkiefers“ wurde niemandem anvertraut, der nur für sich selbst lebte statt für andere. Und niemals kamen diese mit „von Zorn besessenen Menschen zusammen, die Leid bringen“.
Zugang zu diesen Wissensgebieten hatten nur Menschen mit einem außergewöhnlichen und lange geschulten Bewusstsein und großen geistigen Gaben. Sie näherten sich den „Ältesten“ der Welten und hatten Teil an einem bestimmten ursprünglichen Wissen. Dessen Authentizität klingt in der verbalen Überlieferung durch.
Die Stimme des „Unterkiefers“ ist an ein Schweigegebot gebunden. Hierzu wurden „Jung und Alt abends ans Feuer gerufen, wo sie von Welten erfuhren, die wirklicher sind als jene, die man berühren kann, und die deutlicher sind als die, die man sehen kann, und die schöner sind als die älteste Erinnerung“.
Jede dieser Geschichten gleicht einem Saatkorn. Sie können nicht überall keimen. Aber es gibt immer einige Zuhörer, die dahinter den wahren Geist erkennen können. Diese frühe Kultur des Stillen Ozeans war durch Frieden untereinander, Harmonie mit der Natur und große Kenntnis der Lebensprozesse, Energien und Ätherfelder gekennzeichnet. Die Umgebung war „rein“, das heißt, die geistigen und feinstofflichen Energien begegneten geringem oder keinem Widerstand.
Das gilt auch für Neuseeland. Es gab zunächst keine höheren Säugetiere. Menschen kamen erheblich später als in anderen Gebieten.
Bemerkenswerte Eigenschaften
Die ursprünglichen Einwohner – so wie wir sie aus dem Lied von Waitaha kennengelernt haben – passten völlig in ihre Welt. Sie waren sanfte, auf Harmonie eingestellte Menschen, die Wut und Ärger möglichst aus dem Weg gingen, denn darauf stand immer Strafe. Sie waren sehr tolerant, stießen jedoch gewalttätige Menschen aus ihrer Gemeinschaft aus. Als fremde Eroberer wie die Maori Bedrohung und Konflikte in das Land brachten, bedeutete das gleichzeitig das Ende ihrer Kultur. Mit der gewalttätigen und ungezügelten Mentalität der Eroberer konnten sie nicht leben.
Die frühesten Inselbewohner müssen neben den genannten Eigenschaften auch außergewöhnlichen Mut und Durchsetzungsvermögen besessen haben. Es waren junge Männer und Frauen, die für die Seereisen ausgewählt wurden. Sie fuhren in Auslegerkanus und mit dem Firmament als einzigem Hilfsmittel über das weite Meer von der Osterinsel bis nach Neuseeland und Südamerika.
In den hinter uns liegenden Jahrzehnten haben viele Menschen der jungen Generation, hauptsächlich von Amerika ausgehend und nach Europa und in die übrige Welt ausstrahlend, überraschend neue Impulse mitgebracht. Sie streben nach Frieden und Liebe und einem neuen Verhältnis zur Natur, was zu einem neuen Umweltbewusstsein führt. Könnte es nicht sein, dass die alten Impulse der Osterinsel-Kultur in veränderter Form erneut wirksam werden? Kann eine Kultur erneut aufblühen, in der besonders die Qualitäten Friede und Kenntnis der Lebenskräfte tausend Jahre lang intensiv instand gehalten und geschult wurden?
Quellen:
Zusammengefasst und bearbeitet aus drei Artikeln von Winfried Altmann in: Das Goetheanum 1997-1998. Besprochen wird in dieser Reihe das Buch Song of Waihata, The Histories of a Nation. Being the Teachings of Iharaira Te Meihana c.s., B. Brailsford ed., Ngatapuwae Trust, Christchurch, 1994
http://www.songofwaitaha.co.nz/