Was will werden?[1] Das ist ein Titel mit einem ziemlichen Volumen. Wenn wir davon ausgehen, dass etwas werden will, gehen wir davon aus, dass es etwas gibt, das sich zu offenbaren gedenkt. Und wenn Menschen mit diesem Potenzial in Resonanz gehen, dann wird das, was werden will, mit Kraft werden.
Die Gedanken, die ich mit Ihnen teilen möchte, sind aus meiner über 35-jährigen Mitgliedschaft und Mitarbeiterschaft im Goldenen Rosenkreuz geboren. Ich bin 58 Jahre alt und einen Großteil meines Lebens mit der Strömung des Rosenkreuzes aktiv verbunden. Zuerst war ich für fast 20 Jahre Jugendleiter, also Betreuer von Jugendlichen, die durch ihre Eltern dem Rosenkreuz nahestanden; zu einem großen Teil war es für mich eine internationale Arbeit. Später habe ich eine Aufgabe in einem Gremium angeboten bekommen (dem Präsidium), die ich nun seit fast zehn Jahren innehabe. Und seit sechs Jahren sind meine Frau Sabine und ich als Leiter des Konferenzzentrums Bad Münder tätig. Wir betreuen hier ca.30 Veranstaltungen im Jahr mit gesamt ca. 8.000 Übernachtungen. Daneben haben wir noch ein Seminarhaus (Haus 4), das über airbnb gemietet werden kann und auch anderen spirituellen Lehrern und Trainern offensteht. Zurzeit arbeiten wir hier mit acht hauptamtlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen – Menschen, die wirklich ihr Leben, ihre Gegenwart, unter die Sache stellen. Es gibt immer mal wieder Auseinandersetzungen und Positionskämpfe oder Missverständnisse und wir erleben, wie sich das alles auflöst, wenn wir die eigene Position loslassen und uns an den Prozess übergeben. Das Projekt Goldenes Rosenkreuz ist eine Non-Profit-Organisation und damit voll und ganz darauf angewiesen, dass unsere Mitglieder mitarbeiten. Und genau da ist es auch wichtig, dass wir die Fähigkeit erlernen, auf der Seelenebene zu kommunizieren, uns wirklich gegenseitig abzuholen, wertzuschätzen und solch große Projekte wie dieses weiterzuentwickeln.
Das ist für mich eine tiefe Erkenntnis, die aus all dieser Arbeit im Materiellen kommt: Es gibt keine Trennung von Arbeit und Leben. Leben ist immer auch Arbeit und Arbeit ist immer Leben. Es ist für meine Mitarbeiter und mich eine wunderbare Erfahrung – diese Verschmelzung von Arbeit und Leben zu einem Tun, das voller Sinn ist. Wir erleben, wie Form und Inhalt zusammengehören.
Leben wird auf einmal geistiger Fortschritt
Es gibt in der Arbeit besondere Momente der tiefen Versenkung, ja der spirituellen Erleuchtung. Leben wird auf einmal geistiger Fortschritt. Schließlich gibt es in all dem Organisatorischen den eigenen Weg der Seelen-Bewusstwerdung und das, was in der Gemeinschaft des Rosenkreuzes der Pfad genannt wird. Diese Prozesse sind wesentlicher Teil meines Lebens. Der Kontakt mit der Gruppe und die gemeinsamen Tempelstunden sind der Kern der „Arbeit“, die das Leben ist!
Es ist ein ständiges Wiedererkennen, Umsetzen und Reflektieren, ein In-Kontakt-Kommen mit den tiefen geistigen Verbindungen, die in die geistige Sphäre reichen. Darum ist die Mitarbeit hier für mich ein wesentlicher Bestandteil meines spirituellen Werdeprozesses. Erkennen – Umsetzen – Erkennen – Umsetzen, im Leben, in den Projekten, in der Familie, eigentlich überall.
Aber zurück zu dem Thema meines Vortrags „Mut zur Gegenwart“. Wie komme ich auf dieses Thema?
Hierzu ein kleiner Ausflug in meine Biographie:
Als jüngerer Mann habe ich das Spirituelle im Ganzen als heilig, groß, wunderbar, kraftvoll und geheimnisvoll empfunden. Niemand hat für mich diesen Zustand besser beschrieben als Michael Ende mit seiner Gestalt des Scheinriesen TUR TUR in Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer. Alles war zu Beginn so groß und respekteinflößend und ein wenig bedrohlich.
TUR TUR, der Scheinriese, wird kleiner
Als ich länger dabei war, begann ich, nicht mehr so sehr auf die großen und hehren Gedanken und Ziele zu schauen, die in jeder spirituellen Gemeinschaft postuliert werden, denen man folgen soll, die sozusagen die Zielvereinbarungen der Zugehörigkeit sind. Sondern ich begann, mich mehr auf die Spannung zu richten, die zwischen dem Lehrsatz und meinem eigenen Leben besteht. TUR TUR wurde dadurch kleiner, weil nun etwas von mir verlangt wurde, das ich in meiner Kindheit entwickeln durfte. Es heißt: Selbstwertgefühl und Ich-Stärke. Sie erhielt ich durch den liebevollen Umgang meiner Eltern mit mir. Ich stamme aus einer Bergmannsfamilie. Aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls entwickelte sich in mir eine Art Werkzeug, eine Herangehensweise: „Prüfe alles und behalte das Gute“, das Gute, das man einfach von innen heraus kennt, das man wiedererkennt. Jede Intuition muss sich im Leben beweisen. Das Gute ist auch temporär – es entwickelt sich, und jeder Horizont wird ausgetauscht gegen den, der sich neu zeigt. Und das so lange, bis ein Horizont erscheint, der nicht mehr ausgetauscht werden kann. Ich erkannte immer deutlicher die Relativität meiner eigenen Zustände.
Nehmen wir das Thema Streitlosigkeit: Wie lange können wir streitlos sein, Anderen gegenüber, Situationen gegenüber – in Bezug auf politische Ereignisse, gegenüber Ungerechtigkeit, gegenüber Verletzungen, beim Autofahren, in der Partner-Beziehung, in der Gruppenarbeit, gegenüber uns selbst? Ich behaupte heute, wenn ich genau hinschaue: keine zehn Sekunden, oder höchstens 15.
Und dann – ist dann mein spiritueller Weg verloren? – Ja! Nach fünfzehn Sekunden. Aber er fängt in der sechzehnten Sekunde wieder an.
Die geistigen Urfunken, die in uns leben, die uns begleiten und auf die wir achten sollten – sie sind die Matrix für die Wiedergeburt. Und sie sind bei uns, sie verlassen uns nicht, auch wenn wir verdunkelt sind. Sobald wir uns wieder öffnen können, sind sie wieder da. In diesem Spannungsfeld leben wir, lebe ich, und TUR TUR wird lebensgroß, passt sich meiner Wirklichkeit an.
In dem Moment nämlich, wo ich diesen Punkt der realen Unfähigkeit ergänze durch die Bereitschaft, da zu sein, dort, wo ich bin, wird er lebensgroß und wird mein Partner. Er wird ein Berater, ein zu mir Sprechender, der mich nicht erschlagen will, sondern der einfach da ist und es ganz in Ordnung findet, wenn ich mich irre.
Meine Ansprüche, meine hehren Gedanken von einem Pfad, einer spirituellen Meisterschaft, einer „Erleuchtung“, mein TUR TUR fallen täglich in der Realität zusammen mit dem, was ist.
Die Gegenwart – ein unerbittlicher Fels
Die Realität, die Gegenwart, ist ein unerbittlicher Fels, an dem man stets zerschellt und immer wieder die eigenen Vorstellungen dahinscheiden sieht. Und doch ist dieser Fels nicht verschlossen, sondern bietet Eingang durch ein bestimmtes inneres Empfinden. Ich nenne es Stille oder Demut, Bereitschaft oder Gegenwärtigkeit. Es ist dann, als ob der Fels der Gegenwart sich öffnet und einen Raum der Erkenntnis bildet. Ich bin Mensch und darf Mensch sein, in Berührung mit geistigen Welten und einer Monade, die in mir Einfluss gewinnen möchte, damit die Entwicklung im Sinne eines Erwachens stattfinden kann.
Und in diesen Momenten verstehe ich, dass diese Organisation, und vielleicht jede Organisation, ein praktischer Apparat ist, in dem Menschen menschlich für andere Möglichkeiten zur Erhebung und spirituellen Entwicklung in der Gegenwart schaffen. Von hoch inspirierten Menschen ins Leben gerufen, ist sie seit fast 100 Jahren weltweit aktiv.
Wir arbeiten füreinander, mit unseren Schwächen, Ängsten und Unfähigkeiten, aber wir werden alle immer wieder im Streben nach Licht, im Streben nach Seele, wir würden sagen, nach der neuen Seele, gefunden.
Das war besonders in den letzten Jahren eine wichtige Erfahrung, zu der sich eine Frage gesellte: Wo entsteht Spiritualität? Wo entsteht Geist oder genauer: Wo erleben wir die durchdringende und verändernde Gegenwart von geistigen Kräften, die nicht von dieser, aber auch nicht allein von jener Welt sind?
Licht und Schatten
Gnosis, diese alte Urreligion, die zugleich eine wichtige Quelle der Philosophie dieser Gemeinschaft ist, sagt es unmissverständlich: Es gibt eine Ordnung, in der Schatten und Licht miteinander verwoben sind, Böses und Gutes, und es gibt eine Ordnung, die das alles erschaffen hat. Da ist also eine Ordnung des Lichts und eine von Licht und Finsternis sozusagen. Wir leben in der letzteren und die Hilfe für unsere Arbeit kommt vom „Reich, das nicht von dieser Welt ist“, dem des Lichts.
Wenn unser Bewusstsein es schafft, sich in dieses Feld zu erheben, dann kommt von dort Kraft für unseren Weg, für unseren inneren „Felsen“ in der Gegenwart. Denn diese Kraft ist in allem und kann in allem erkannt werden; sie ist vor allem ein „Fels der Gegenwart“.
Das Pneuma, von dem ich spreche, ist kein örtlicher Zustand, sondern eine Schwingung, ein Feld, an dem man kraft seines inneren Zustands teilhat. Es ist hier und unter uns, wir werden davon durchdrungen. Wir haben es heute gespürt, diese besondere Stille, diese besondere Kraft, die uns hier umgibt und sofort erlebbar wird, wenn wir schweigen.
Die Wellen und das große Meer
Vor einigen Wochen hatte ich das Vergnügen, in der Bretagne an einem wunderschönen Strand zu sitzen. Da spielte eine Familie mit vier Kindern, alle unterschiedlich alt. Die älteste ging sehr nah an die großen Wellen heran und hatte Mühe, sich darin aufrecht zu halten, schaffte es aber. Der kleinste hat sich an den Ausläufern der Wellen versucht.
Jeder versuchte es also an seiner Stelle, und hinter den Wellen war das große Meer, in dem keiner geschwommen ist, dessen Gegenwart aber jeder spürte. Was also nichts anderes sagt als: Wir nähern uns dem großen Feld des Geistigen auf unsere Weise und jeder in seiner Geschwindigkeit – aber bei alledem sind wir ständig darin und davon umgeben.
So komme ich zu der Frage zurück: Wo erleben wir diese durchdringende Kraft des Geistes, der alles trägt? Wo findet die Begegnung damit statt? Begegnung, richtig gedacht, ist Begegnung mit der Gegenwart des Geistigen in der Zeit, mit der Gegenwart des „Nichts“, weil es unbekannt scheint, aber doch „Alles“ ist.
Das Nichts des Geistes
Für uns Menschen ist das absolute Licht Dunkelheit. Es ist das Unbekannte, die Dunkelheit, der Ungrund, das „Nichts“.
Für Schritte da hinein braucht es Mut, Bereitschaft, Wachsamkeit und Wahrhaftigkeit. Eigenschaften, die Ausströmungen eines Seins sind, das auf die Gegenwart des „Nichts“, des ganz Anderen und Unbekannten, gerichtet ist. Aber – denken wir das nicht als ein „Nichts“ im üblichen Sinne. Das „Nichts“ des Geistes ist hochaktive, schöpferische, „dunkle“ Substanz, die sofort da ist, und in uns zu „Etwas“ wird, wenn es möglich ist, wenn wir sie einlassen können.
So beschreibt es ja auch Meister Eckhart: Gott will in dich hinein. Er steht an der Tür, aber du musst ihn hineinlassen. Dann kann aus dem „Nichts“ „Alles“ werden. Keine Trennung – sondern Einheit. Das ist dann so, wie Meister Eckhart sagt: „Verliere dich im Nichts, dann wirst du im Licht gefunden.“
Verlieren wir uns selbst in der Gegenwart des Anderen. Oder: Durch Selbstverlorenheit erlangen wir das hohe geistige Individuum, das sich in uns erhebt und uns mit dem „Nichts“ bekannt macht. Ein Führer, ein Helfer ist erstanden.
Dort, wo sich Menschen in dieser Ausrichtung auf das „Nichts“ begegnen können, im Schweigen womöglich, da ist „Alles“. Da ist keine Trennung, nicht zwischen den Seelen, nicht zwischen Menschen, nicht zwischen Bewegungen und Strömungen. In der Gegenwart des Geistigen, wofür es verschiedene Namen gibt, besteht Individualität als nicht begrenzter Ausdruck eines einzigen Ganzen.
Das ist es, was ich sagen will: Die Begegnung mit dem Pneuma, mit der Gnosis, dem gesalbten Funken, dem Christusfeld, geschieht in der Gegenwart, die mutig errungen werden kann. Die Gegenwart kann diese eine Kraft immer wieder erneut hervorbringen, sichtbar machen, uns mit ihr verbinden. Dieses EINE ist der unermessliche Ozean der Fülle, in den man rhythmisch eingeht und dabei in ihn hinein verändert wird. Man lässt sich verändern, damit auch alles andere sich verändert.
Eine Zeit wird kommen …
Zum Abschluss ein Gedanke, der mir für einen Ausblick auf „Was will werden?“ geeignet scheint: Es wird eine Zeit kommen, in dem Einheit keine konturlose Masse ist, sondern eine Schwingung, die getragen ist durch Individuen, die sich darin erkennen, Menschen, die ganz und gar unabhängig von jeder Organisation, aber nicht ohne Organisation, in der Gegenwart für die Menschheit schaffend und erneuernd präsent sind.
[1] Der Text beruht auf einem Vortrag, den der Verfasser bei einem Symposium der Stiftung Rosenkreuz mit dem Titel „Was will werden“ in Bad Münder im Herbst 2019 gehalten hat.