Menschheitserwachen – wohin?

Menschheitserwachen – wohin?

Menschheitserwachen ist ein großes Wort. Es erscheint von Zeit zu Zeit im Bewusstsein der Menschen und drängt zur Veränderung. Seine Vielschichtigkeit bleibt ein Mysterium.

Oft sind es Krisenzeiten, in denen viele Menschen leiden, ängstlich, unruhig und depressiv ihr Leben bewältigen. In solchen Zeiten gibt es nur wenige, die ihr Leben sorgenfrei zu gestalten wissen, die einen vielleicht, weil sie genügend Urvertrauen besitzen und andere, weil ihr Weltbild tief genug in der Ewigkeit verankert ist. Auch sie sind nicht vollkommen unbeschwert, denn auch an sie richtet der Zeitenstrom die mahnenden Worte, jetzt, mit der Veränderung beginnend, neue Lebensperspektiven zu entwickeln, so lange sie sich noch die Freiheit leisten können, über mehr nachzudenken, als das tägliche Leben erfordert.

Weisheit und Erfahrung

Wir denken in Zeiten großer Veränderungen gerne darüber nach, was uns die Zukunft bringen mag. Wir betrachten das Vergangene und das, was ist, und sind oftmals nur allzu schnell dabei, den Menschen und seine Vergangenheit zu kritisieren, ihn anzuklagen und seine Trägheit zu verurteilen. Wir spüren die mahnende Stimme des Zeitgeistes nur schwach, wenn wir schläfrig die Tage verlieren und versäumen, täglich nach dem zu schauen, was uns ausmacht. Zeitweise nähern wir uns dem universellen Menschheitserleben, um im nächsten Moment nicht zu spüren, wie wir langsam in den alten Lebensfluss zurückgleiten. Doch was wir auch tun, es sind wertvolle Schritte, um zur Erkenntnis dessen zu kommen, was der Mensch wirklich sein kann. Jedes Leben besteht aus manchmal unbeholfenen Schritten, als Mensch oder Menschheit zu erwachen. Der Weg, den die Menschheit geht, ist grob in den Stein gehauen und lädt zum Stolpern ein, manchmal zur Verletzung, die nach Heilung ruft.

In der Tiefe seines Wesens ist dieser Weg jedoch weich gebettet, lässt den Beobachtenden schauen, was hinter den Dingen treibt, was sich als Schönheit offenbart und zu tieferem Nachdenken auffordert. Die Schönheit ist die Ewigkeit, die sich selbst im Spiegel erschaut, so sagte der Schriftsteller Khalil Gibran. Dieses Fundament war immer da, geht unveränderlich durch die Zeiten und ruft jene Gedanken hervor, die unberührt von Raum und Zeit immer wieder zu gleichen Erkenntnissen führen. Weisheiten, die sich mit jeder Religion verbinden, sich der Wissenschaft hingeben, um zu ihrer unsichtbaren Grundlage zu werden. Zur Kunst des Lebens gehört es, das weiche Bett und den grob gehauenen Weg sich ineinander verflechten zu lassen, um die tiefe innere Schönheit des Menschen sichtbar zu machen. Was dort sich leise im Wechsel von Leben und Tod, von Schönheit und dunklen Leidenstagen entwickelt, ist ein Urvertrauen, ein Universalbewusstsein, das, aus einzelnen Punkten der Erkenntnis zusammenfließend, in die Allgegenwärtigkeit strebt und den Menschen auffordert, dort zu erwachen.

Wer erwacht, der verlässt einen Traum. Betrachten wir die verschiedenen Schichten unseres Seins genauer, entdecken wir die Relativität von Träumen und Wachen. Manchmal zeigt sich uns das, was wir am Tage erleben, als Traum. Dann träumen wir vielleicht nachts im Schlaf und erwachen morgens in einer unbestimmten Realität. Manchmal wirken Träume wie reale Erlebnisse und wir haben das Gefühl, dort wach zu sein. Manchmal erwachen wir plötzlich aus einem Tagtraum.

Doch wer erwacht wohin?

Zwischen Traumwelt und Wachsein zu wechseln, ist wie das Wandern zwischen Welten. Wenn wir jetzt schlafen, was ist das für eine Welt, in die hinein wir erwachen? Man findet immer wieder Schriften in der Geschichte der Menschheit, die vom Erlebnis eines Erwachens zeugen. Sie beschreiben, wie es ist, in einem Universalbewusstsein zu erwachen. Der Johannes der Apokryphen [1] beschreibt, wie er, über den Erlöser nachdenkend, plötzlich die Himmel offen sieht. Doch will man dies innerlich erfassen, dann ist von unserem jetzigen Standpunkt aus diese Beschreibung eher ein sehnsuchtsvoller Traum. Diese Sehnsucht treibt den Menschen zur kulturellen Höchstleistung, deren Relikte noch Jahrhunderte später von der Sehnsucht zeugen, mit der die Menschheit dem Traum von der Allgegenwärtigkeit zustrebt.

Täglich sind es Millionen von Menschen, die mit Riten, Gebeten und frommen Vorstellungen diesem Bewusstsein entgegenstreben, immer mit der Unmöglichkeit konfrontiert, es zu erreichen. Simone Weil spricht von dieser Unmöglichkeit, sich Gott zu nähern, wenn sie erkennt, dass der Mensch nicht Gott suchen und finden kann, sondern nur Gott den Menschen.

Der Mensch wartet wie in einem Traum, bis Gott ihn berührt und weckt. Er vertreibt sich die Zeit, durcheilt den Raum, angezogen von der Schönheit, der er als Surrogat des Ewig-Schönen nachjagt. Die Spiegelbilder der Ewigkeit sind die Spielwiesen der Menschheit, die Magneten, um die sich Wissenschaft, Kunst und Religion versammeln, um immer wieder neue Räume zu erschaffen, die, sich im Zeitenstrom entwickelnd, dem Menschen zugänglich gemacht werden. Sie erscheinen wie Bilder in einer halbdunklen Welt, die verblassen, wenn von Zeit zu Zeit sich die Kraft der Ewigkeit zusammenzieht, konzentriert und als blendendes Licht die Bilder schwächt und das Leben der Menschen verflachen lässt, um einen Riss zwischen zwei Zeitaltern sichtbar zu machen. Dieses Licht als Strom der Ewigkeit ergießt sich in den Riss und treibt die Zeit der Verflachung einer Kulturperiode in eine krisenhafte Zuspitzung. Jetzt wird der Mensch, sich in seine Individualität flüchtend, aufgefordert, noch einmal anders zu erwachen, die Träume, die sich vor dem aufwallenden Licht verdunkeln, zu verlassen und erwachend seine Augen auf den Quell zu richten, dem wegweisend eine neue Welt entspringt.

Die Kraft dieser Quelle, das Licht, das die Welt in solchen Zeiten umfängt, wird für alle spürbar, es schwächt die gesunden Polaritäten ab und lässt die kulturellen Werte zu Schatten ihrer selbst verkommen. Die klassischen Rosenkreuzer sprachen von einer „Tür“, die sichtbar wird. Ihr Anblick hebt den Menschen heraus aus dem, was war, um ihm vor Augen zu führen, was sein kann. Dieser Blick verändert die Sicht auf die Polaritäten, lässt ihren Einfluss weiter schwinden. Jetzt scheiden sich die Geister, bildet sich eine Spielwiese für den Kampf zwischen denen, die beharren und denen, die in die große Transformation eintreten. Da gibt es diejenigen, die an einer „alttestamentarischen Realität“ unserer Welt festhalten und kämpfend bisherige Polaritäten verteidigen. Sie versinken mit ihnen im Strudel eines sich auflösenden Zeitalters. Die Tür öffnet sich für jene, die dies als Chance begreifen und neue Wege beschreiten. In ihnen erzeugt die schwach gewordene Welt eine Sehnsucht nach der offenen Tür, durch die sie ziehen, bevor das Licht wieder schwindet und die Polaritäten wieder zu alter Stärke zurückkehren. Die anderen träumen von einer festgefügten Welt und wollen verhindern, dass sich Polaritäten verschieben oder auflösen und einen verweichlichten Menschen zurücklassen. Ihr Recht, so zu urteilen und zu handeln, glauben sie ihrem religiös, christlichen Erbe folgend der Schöpfungsgeschichte entnehmen zu können, in der es heißt:

Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht.

Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau.[2]

Besonders deutlich spiegelt sich der Kampf um die Polaritäten in der modernen Geschlechterfrage. Die Zeit, in der es männlich und weiblich gab und der Mann wirklich Mann und die Frau wirklich Frau war, erscheint in der heutigen Diskussion als seltsam schwach. Heute ist es normal, dass Männer in Frauenkörpern und Frauen in Männerkörpern leben. Es gibt asexuelle Menschen und jene, die am liebsten gar nicht mehr von „Mann“ und „Frau“, sondern von „Mensch“ sprechen, um jede Diskriminierung zu vermeiden. Und vielleicht ist es wirklich so, dass die Natur die Polaritäten der Schöpfungsgeschichte in diesen Zeiten gar nicht in der Eindeutigkeit kennt. Der Begriff der Androgynität aus der griechischen Götterwelt gewinnt an Aktualität. Androgyne Menschen zeigen eine Mischung aus weiblichen und männlichen Eigenschaften, die sich auf Verhalten, Kleidung, Körperform und, wie die Medizin weiß, auch auf Geschlechts- und andere Körpermerkmale beziehen kann.

Darüber hinaus weisen die alten Schriften noch auf eine spirituelle Dimension hin. Die Alchemie sieht in der Androgynität die Überwindung der materiellen Polarität. Hier ist der androgyne Mensch ein höher stehendes Wesen. Im Hermaphroditen vereinigen sich das Männliche und das Weibliche in bestimmten Anteilen als Folge des Erwachens in einem Universalbewusstsein, das den Menschen in seine ursprüngliche Wesenheit zurückführt.

Zeigt sich hier vielleicht das Erwachen, von dem die Menschheit im Moment spricht und in der Historie immer wieder gesprochen hat?

Zwei Arten des Erwachens

Der Physiker Tyson schreibt in seinem Buch Starry Messenger:

Ja, wir leben in einer speziellen Zeit, nur weil alles speziell ist, was einem einen Satz ins Gedächtnis ruft, der oft zitiert wird, aber doch kurzsichtig erscheint und der von Priestern vor Tausenden von Jahren aufgeschrieben wurde:

Dinge, die waren, es sind die Dinge, die sein sollen;
Und das, was getan wurde, ist jenes,
Was getan werden muss:
Es gibt nichts Neues unter der Sonne.[3]

Es gibt zwei Arten des Erwachens. Die Kultur hat heute die Vorstellung, dass der Mensch durch Bildung zu einem wirklichen Menschen erwacht und sich dadurch immer weiter vom Tier entfernt. Dieses Bewusstsein erfährt in seiner Entwicklung immer wieder alles neu und lebt von einem wachen Geist, der in der Materie aktiv ist und den mentalen Menschen entwickelt. So mancher erhofft sich davon die Lösung aller Probleme. Dieses Erwachen läuft wie Wellen durch die Zeit, erfährt seine Höhepunkte, um dann wieder in einer postkulturellen Phase zu verflachen. Auch wenn die Menschheit glaubt, aus primitiv lebenden Menschen hervorgegangen zu sein, so ist dieses Bild nur Teil einer tieferen Wahrheit. Die materielle Entwicklung hat eine große Verfeinerung erfahren, und, von Hochkultur zu Hochkultur fortschreitend, findet ein „Erwachen“ in der Materie statt. Das geistige Wissen um die Ursprünge der Menschheit scheint dabei jedoch in den Hintergrund zu rücken, lässt die geistige Primitivität wachsen.

Dieser Hintergrund ist eine Kraft, die wie der Wind Welle für Welle einer Hochkultur aufbaut, sich überschlagen und ausrollen lässt. Es entwickelt sich daraus über viele Kulturepochen hinweg ein Wissen, das eher ein Bewusstsein ist, das als Essenz aus den Sätzen der alten Priester spricht: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne.“ Dieses Bewusstsein ist die Folge einer strukturellen Veränderung des Menschen und der Menschheit. Während der Wind, der die Wellen der Kulturentwicklung treibt, die Sehnsucht des Herzens wach werden lässt, ist das Menscheitserwachen, das in der postkulturellen Phase einen Höhepunkt erfährt, die Folge der Öffnung des Hauptheiligtums. Wir sprechen vom Hauptheiligtum, weil damit nicht nur Gehirn oder Mentalität gemeint sind, sondern ein Organ, das in der Lage ist, die Allgegenwart des ursprünglichen Menschen zu vermitteln. Er ist Bewohner der geistig-seelischen Welt.

Das Mysterium, das der Mensch verschiedene Welten bewohnen kann, zeigt die Gegenwart. Als Kinder ihrer Zeit erwachen die einen in einer neuen alten Welt, einer neuen Kultur entgegeneilend, während die anderen in der Allgegenwart erwachen.


[1] Das Apokryphon des Johannes ist ein gnostisches Evangelium und gehört zu den 1945 in Nag Hammadi (Oberägypten) gefundenen Schriften
[2] 1. Mose 1, 26, 2
[3] Neil de Grass Tyson, Starry Messenger. Cosmic Perspectives on Civilisation, 2022, S. 41

 

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Datum: Mai 29, 2024
Autor: Heiko Haase (Germany)
Foto: religion-Gerd Altmann auf Pixabay CCO

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