Maelstrom, der Strudel des dialektischen Lebens

In unserem alltäglichen Leben können wir die Bewegungen erkennen, die uns wegführen und denen wir unweigerlich ohne unseren Willen unterworfen sind.

Maelstrom, der Strudel des dialektischen Lebens

In der Kurzgeschichte „Der Abstieg in den Maelstrom“ erzählt Alan Edgar Poe die Geschichte eines Fischers, der sich davor rettet, in einen riesigen Meeresstrudel und damit in den sicheren Tod gesaugt zu werden. Die Geschichte kann als eine spannende, rasante Abfolge von Ereignissen gelesen werden, die der Held erlebt, oder als eine psychologische Untersuchung der Seele eines Mannes, der an der Grenze zwischen Leben und Tod steht. Oder kann diese Geschichte etwas Tiefgründiges über uns selbst aussagen? Jeder, der diese Geschichte liest, ahnt, dass diese Dinge aus den Tiefen seines Unterbewusstseins sprechen und von Zeit zu Zeit auftauchen, vielleicht als unbestimmte Gefühle oder als Einsichten und Hoffnungen, die in Situationen auftauchen, in denen wir nicht ganz Herr unserer selbst sind und eine Trennung vom alltäglichen Leben erleben.

Maelstrom ist ein Strudel, der in einem Fischereigebiet zwischen mehreren Inseln vor der Küste Norwegens auftreten soll. Der Strudel erscheint und verschwindet in regelmäßigen Abständen bei Flut. Wer jedoch zu dieser Zeit mit seinem Boot in die Nähe des Strudels gerät, hat keine Chance, den anziehenden Strömungen zu entkommen, ganz gleich, wie gut sein Boot ist. Das Boot wird in den Strudel hineingezogen, bis es schließlich an den zerklüfteten Riffen am Grund zerschellt, ohne dass es Hoffnung auf Rettung gibt. Einige mutige Fischer nutzen die Flaute zwischen Ebbe und Flut, wenn der Strudel für eine gewisse Zeit verschwindet, und segeln bei gutem Wetter über die Meerenge zu den nahe gelegenen, ergiebigen Fischgründen. Wenn das Wetter günstig ist, kommen sie zu einer bestimmten Zeit wieder sicher im Hafen an. Unser Held und seine beiden Brüder sind sehr erfahrene Segler und haben es immer geschafft, die Gefahren zu meistern. Eines Tages jedoch geraten sie auf der Durchreise in einen unerwartet starken Sturm, der sie in einen neu entstehenden Strudel treibt. Der erste Bruder wird vom Sturm aufs Meer hinausgetrieben, zusammen mit dem Mast, an dem er festgebunden war. Die beiden anderen Brüder werden von dem Strudel mitgerissen. Langsam und unaufhaltsam schraubt sich ihr Schiff in das Zentrum des Strudels, wo sie der sichere Tod erwartet. Der Held, der sich nach dem ersten Schock bereits mit dem Tod abgefunden hat, beobachtet dieses großartige Ereignis. Er bemerkt die anderen Objekte, die von dem Wirbel verschluckt wurden, und entdeckt Muster, die er vorher nicht wahrgenommen hat. Die schwereren und kantigen Gegenstände, die dem Wirbel großen Widerstand entgegensetzen, erreichen das Zentrum des Wirbels viel schneller als die ovalen, leichten Gegenstände, die an der Wirbelwand nach unten treiben, aber durch die Zentrifugalkraft werden sie immer leichter und verharren an der gleichen Stelle. Der Held bindet sich an das im Wasser treibende Fass und versucht seinem Bruder noch seine Erkenntnis und sein Vorhaben mitzuteilen, aber der schenkt ihm kein Gehör und hält sich an dem Schiff fest. Entschlossen verlässt der Held das Boot, das bald darauf in einen tiefen Strudel gerät, während er sich nach einiger Zeit in ruhigem Wasser wiederfindet und von den Wellen in Sicherheit gebracht wird.

In unserem alltäglichen Leben können wir die Bewegungen erkennen, die uns forttragen und denen wir unweigerlich entgegen unserem Willen unterworfen sind, ohne uns dessen oft bewusst zu sein. Und auch auf die verschiedenen Gefahren, in die wir immer wieder geraten sind, können wir erst zurückblicken, wenn unsere Seele zur Ruhe gekommen ist und wir ihr Zeit zur Reflektion gegeben haben. Es ist wie der ständige Wechsel der Gezeiten, mit einem Moment der Ruhe dazwischen, wenn die Strömungen nicht so stark sind und unser Lebensschiff in Ruhe vorbeifahren kann. Diese Perioden dauern jedoch in der Regel nicht lange an. Der Autor der Geschichte hat jedoch festgestellt, dass es möglich ist, als stiller Beobachter ruhig zu bleiben und die Gesetze zu erkennen, die den Strudel des Lebens steuern, wenn wir uns auf diese Weise in den Strom des Lebens begeben.

In dem Moment, in dem wir in diesen Strom geraten, stellen wir fest, dass unser Verlangen fest mit unserem Fahrzeug, unserem materiellen Körper, verbunden sind. Dem Helden wird auf diese Weise symbolisch vor Augen geführt, dass es ihm auf seiner Reise nichts nützt, wenn er an seinen Körper gebunden ist, denn der erste Sturm wird ihn mit dem Mast, an den er angebunden ist, wegspülen. Die Situationen, in die wir geraten, sind häufig dazu angelegt, uns mit den harten Realitäten unseres vergänglichen Lebens zu konfrontieren und so den Raum für die notwendige Erkenntnis für den nächsten Schritt zu öffnen. Der Mann, der an dieser Schwelle steht, ist gezwungen, sein Ego aufzugeben, das an seinen vermeintlichen Gewissheiten festhält, auch wenn es bereits klar ist, dass er keine andere Wahl hat. In der Erzählung wird diese Situation, in der der Held seinen anderen Bruder verlässt, symbolisch angedeutet. Der Bruder hält sich noch mit Hilfe eines Bolzens am Deck des Schiffes fest, das unweigerlich auf seinen Untergang zusteuert.

Das Erkennen dieser Etappe der Reise bringt große Hoffnung, denn endlich ist man frei, die Situation, die einen umgibt, zu betrachten. Er stellt fest, dass Dinge, die dem Strudel des Lebens nicht so viel Widerstand entgegensetzen, sich leichter der Sogwirkung des Strudels entziehen. Es bedeutet, keine Angst zu haben, Dinge loszulassen, die das Leben unserer Seele zu sehr belasten, und bewusst nur das festzuhalten, was notwendig ist. Gleichzeitig bedeutet es, alles loszulassen, was wir bisher für uns und unser Leben gehalten haben. Nun stehen wir im Strudel des Lebens vor einer wichtigen Entscheidung und wissen gleichzeitig, dass wir diese Entscheidung treffen müssen, bevor unser Schiff auf eine kritische Höhe sinkt und mitten im Strudel zerbricht.

Jan Amos Comenius schreibt deshalb am Ende seines Buches „Unum necessarium“:

I. Belaste dich nicht mit etwas, das über das Lebensnotwendige hinausgeht; begnüge dich mit dem Wenigen, das dir nützt; lobe Gott. II. Wenn es an Annehmlichkeiten mangelt, begnüge dich mit dem Notwendigen. III. Und wenn sie dir genommen werden, bemühe dich, dich zu retten. IV. Kannst du dich nicht retten, so gib dich selbst auf und achte nur darauf, dass du Gott nicht verlierst. Denn wer Gott hat, dem kann es an allem anderen fehlen, weil er für immer sein höchstes Gut und das ewige Leben mit Gott und in Gott besitzen wird. Und dies, von allen Wünschen, ist
DAS ENDE[i].


[i] John Amos Komensky, Unum necessarium, übersetzt von Vernon Nelson, www.moravianarchives.org

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Datum: Juli 4, 2023
Autor: Tomáš Vlček (Czech Republic)
Foto: Ulrike Leone on Pixabay CCO

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