Unser Denken, Fühlen und Handeln wird von den Bedingungen und Gegebenheiten der Natur und von den kulturellen Konditionierungen gelenkt. In beiden Wirklichkeiten finden wir uns vor, beide Wirklichkeiten prägen uns und bilden die Wahrnehmungswerkzeuge aus, mit denen wir die Welt und uns selber verstehen und beantworten.
Natur und Kultur
Die Natur ist die Basis. Ohne eine natürliche Existenz gibt es keine Kultur. Welche Werke sich auf dieser Basis auch errichten, sie werden getragen und gehalten oder auch zerstört von der Natur.
Die sichtbare Natur als Ausdruck des Unsichtbaren und als Inspirationsquelle hat sich aus der Wahrnehmung und Auseinandersetzung der Kunst im letzten Jahrhundert immer weiter zurückgezogen zugunsten von Wirklichkeiten, die „dahinter“ liegen – mit grandiosen, doch auch mit fragwürdigen Ergebnissen in Kunst und Wissenschaft. Die Auflösung der Materie und der sichtbaren Gestalt in Energie bei der Kernspaltung oder die Produktion von „Biomasse“ für Sprit und Biogas verweisen in alarmierender Weise auf das Übersehene, weil so selbstverständlich Gegebene: auf die Gestalt, die Form und ihre heilsame Schönheit.
Das Sichtbare
Die sichtbare Natur mit ihrer Gestaltungsfülle wird in vielen spirituellen Ansichten als Täuschung, als Maya, als Samsara gedeutet oder zu bloßem „Staub“ entwertet. Auch der „Schleier der Isis“ kündet davon, dass die Wahrheit irgendwo dahinter sei, und in dem berühmten Höhlengleichnis von Platon wird die sinnlich-sichtbare Welt als Schattenwelt dargestellt, als Abglanz und Echo ewiger Ideen, nicht als eigenständige Wirklichkeit. Auch wenn verständlich ist, was damit gemeint ist, so kann diese Sichtweise doch auch eine ignorante Haltung gegenüber eben dem fördern, was als Basis gegeben ist, und indirekt ein Ausbeuten der „minderwertigen Natur“ mit entsprechenden Folgen erlauben.
Die sichtbare, sinnliche Natur auf bloße Täuschung zu reduzieren, die vom Wesentlichen ablenkt, kann jener Einstellung gleichen, die die Wirklichkeit eines Hauses auf sein Baumaterial beschränkt, die Wirkung eines Bildes von Rembrandt auf Leinwand, Bindemittel und Pigmente oder die einer Sinfonie von Mozart auf physikalische Klangwellen.
Es ist dann im Grunde eine materialistische Einstellung, die in ihrer Einseitigkeit durchaus verwandt ist mit der gegenteiligen Meinung. Nämlich, dass allein die Materie mit ihrer naturwissenschaftlich beweisbaren und nutzbaren Seite die Wirklichkeit sei und alles andere der Phantasie des Menschen entspringe, der es nicht ertragen könne, in einem sinnlosen Universum zu leben, das durch Zufall entstanden sei und der sich deshalb „Gott erfinden“ müsse, um nicht verloren zu gehen in dieser sinnlosen Leere voller Kampf und Not.
Gestalt – ein offenbares Geheimnis
Gestalt ist ein großes Geheimnis. Ein offenbares, wie Goethe sagt.
Die Gestalt ist ein ungeklärtes Rätsel. Es ist nicht nur erstaunlich, in welcher Fülle und Differenzierung es sie gibt, sondern dass es sie überhaupt gibt, denn die Wahrscheinlichkeit, dass aus wenigen Grundelementen und Basisstoffen komplexe Wesen entstehen, grenzt an das Unmögliche.
Formen und Gestalten sind nicht als genetische Information vorgegeben. Jedes Molekül kann sich in alle Gestalten einfügen, wie Baumaterial für Bauwerke vielerlei Art tauglich ist. Doch wer entwirft die Bauwerke? Wer ist der Architekt eines Apfels? Welche Kraft, welcher Wille überzeugt die freien Atome und Moleküle davon, für eine gewisse Zeit, im Verbund mit anderen, ein Blatt, eine Ameise, ein Mensch zu sein? Wie kommt es zu der Abmachung, dass aus einem Buchensamen eine Buche wächst, obwohl dieselben Stoffe sich in jedem anderen Samen auch finden lassen?
Gewiss: Die Gestalt ist nicht das Göttliche, ebensowenig wie das
Wort Baum der Baum selber ist. Doch es gibt einen Bezug. Sichtbare Gestalt ist Sprache, oder, wie Novalis es wunderbar ausdrückt: „Das Sichtbare ist ein in den Geheimniszustand erhobenes Unsichtbares.“
Es liegt an uns, ob wir in der Natur, die nicht von Menschen gemacht ist und zu der wir gehören als ein wahrnehmendes und eingreifendes Wesen, eine göttliche Offenbarung sehen oder eine Art „Torte“, die der Gier freigegeben ist. Die Art unserer Deutung macht uns zu dem, was wir werden und sind. Denn wir sind bis zu einem gewissen Grad selbstschöpferisch.
Gestalt als Offenbarung einer göttlichen Potenzialität, die in die Erscheinung kommt – wie wir selbst – und wieder daraus verschwindet – wie wir selbst – kann ohne Weiteres als eine wunderbare Begegnung und Schulung gedeutet werden. Unsere Augen sind vom Licht geschaffen, unsere Ohren vom Ton, unser Fühlen von der Liebe und unser Denken vom Geist. Das sind unsere Wahrnehmungsorgane, damit nehmen wir wahr.
Den Blick wieder in die unergründliche Weite des nahe liegenden, auf das Unscheinbare, Offensichtliche, Selbstverständliche zu lenken, scheint mir – gegenüber dem „Fern-Sehen“ – eine sinnvolle Ausrichtung zu sein. Denn nicht hinter der Gestalt ist das Rätsel, sie selbst ist es (Goethe). Die Wahrnehmung selbst ist ein schöpferischer Akt und das „Kerngeschäft“ der Kunst.
Spiritualität und Kunst
Kunst kommt sprachgeschichtlich von Können, Wissen, Weisheit, Erkenntnis. Das können wir uns vor Augen führen, wenn wir ein „imaginäres Museum“ (André Malraux) betreten.
Ob wir durch die üppigen Tore in die Klarheit indischer Tempel eintreten oder aufgerichtet werden in gotischen Kathedralen, ob wir uns die massiven Pyramiden Ägyptens in Erinnerung rufen, die als geometrische Steinkörper mit ungeheurer Beständigkeit inmitten sandiger Wüsten emporragen, oder ob wir berührt vor jubelnd-verzweifelten Farbextasen van Goghs stehen, immer erreicht uns, wenn wir uns zu öffnen wissen, durch das Gestaltete etwas aus dem Grund des Seins.
Bilder, Skulpturen und Bauwerke sind in der Zeit installiert. Das Bildwerk, das sich aus dem zeitlichen Werdeprozess in die Dauer hebt und unabhängig von seinem Schöpfer eine selbstständige Existenz in der Zeit führt, wird zum Zeugen schöpferischer Kraft durch die Jahrtausende hindurch. Wer vor einer griechischen Skulptur steht, wird ihrer Vollkommenheit an Proportion und Ausdruck nicht wie einem längst überholten kulturellen Relikt gegenübertreten, sondern sie viel eher als etwas aktuell Gültiges, ja, Zukünftiges erleben.
Es sind Verkörperungen, die Ideen, Empfindungen und Visionen Ausdruck verleihen und sie nun repräsentieren. Doch nicht nur stellvertretend: Sie enthalten selbst etwas von dem, wovon sie künden.
Kunstwerke, die in einer spirituellen Tradition stehen, sind Körper, deren heiliger Zweck es ist, dem unmanifesten Grund, der als Licht, Leere, Energie oder reines Bewusstsein beschrieben wird, einen Ort in Zeit und Raum zu geben.
Kunstwerke, die dieser Ausrichtung und Aufgabe verpflichtet sind, erzeugen einen unsichtbaren atmosphärischen Raum, in dem das Nichtmanifeste das Wesentliche ist, wie bei einem Gefäß die Leere. Das Unfassbare ist im Kunstwerk auf paradoxe Weise zugleich anwesend und abwesend. Kommunikation, Begegnung mit der formlosen Energie wird über die Brücke der sinnlich fassbaren Gestalt möglich.
Jeden Raum, jedes Format durchziehen unsichtbare Kraftlinien, von den alten Chinesen poetisch „Drachenadern“ genannt und abendländisch nüchtern als Kompositionsgesetze bezeichnet. Komposition ist die Kunst, gegensätzliche Gestalten und Kräfte zu einem komplexen Ganzen zu verbinden, in dem die einzelnen Teile nicht nur integriert sind, sondern sich auch gegenseitig steigern. Insofern ist Komposition auch das Mittel, die widersprüchlichen individuellen und gesellschaftlichen Anforderungen, Wünsche und Bedingungen miteinander in Einklang zu bringen und zu einer umfassenderen Lebensfigur zu gestalten. So persönlich und unterschiedlich in den jeweiligen Kulturen die Werke auch sind, ihre Verwandtschaft liegt in den Harmonien und Proportionen, nach denen sie geschaffen wurden. All die komplexen Gebilde lassen sich auf zwei Grundformen zurückführen: Kreis und Strahl (linear), Kreis und Quadrat (flächig), Kugel und Kubus (räumlich).