Eine Geschichte aus dem Sefer ha–Bahir („Buch des Lichts“):
Rabbi Rachumai erklärte seinen Schülern, vor der Erschaffung des Universums sei bereits das Licht – die (die Wahrheit Gottes erkennende) Seele des Menschen – vorhanden gewesen. Seine Schüler verstanden ihn nicht. Daraufhin fuhr der weise Rabbi fort: „Stellt euch vor, ein König wünscht sich von ganzem Herzen einen Sohn und entdeckt eines Tages eine wunderschöne Krone. ‚Diese soll für meinen Sohn sein’ denkt er und verwahrt sie. – ‚Aber woher weißt du, König, dass dein Sohn dieser Krone auch würdig ist?’ wird er gefragt. Daraufhin antwortet der König: ‚Pst! Ich habe mein Universum eigens so geschaffen …’“ [1]
Diese kleine Geschichte enthält das Geheimnis der Schöpfung, in das sich die Anhänger der Kabbala, der Mystik des Judentums, versenken.
Bereits in Gottes unendlicher Verborgenheit gab es das Licht seines Sohnes, des Urmenschen. Gott offenbart sich in seiner Schöpfung in Gestalt seines Sohnes, den er zu ihrem Herrscher macht und dem er die Krone aufsetzt.
„So haben wir denn im Herzen der Kabbala einen Mythos der göttlichen Einheit als Verbindung der Urmächte allen Seins, der im Symbol vom Baum der zehn Sephiroth Gestalt annehmen wird.“[2]
Die symbolische Auffassung der Welt ist ein wesentlicher Aspekt der Kabbala. Sie bezieht sich auf ein uraltes tradiertes Wissen, in dessen Geheimnissen sich das innere Leben Gottes offenbart, das sich in der Welt widerspiegelt.
Kabbala ist kein bestimmtes Denksystem, sondern ein Gesamtbegriff für sehr unterschiedliche Vorstellungen und Entwicklungen verschiedener Systeme. Das Wort trat erstmalig um etwa 1200 auf. In dieser Zeit wurden alte Überlieferungen durch neue Impulse erweitert. Sie entfalteten sich in Frankreich im Sefer-ha Bahir und fanden anschließend in Spanien im Sohar, dem „Buch des Glanzes“. ihren vollendeten Ausdruck.
Das Prinzip, das der Schöpfung zugrunde liegt
Der verborgene Gott – Ain Soph –, das Unendliche, offenbart sich als wirkende Gottheit in seiner Schöpfung; er tritt zutage in seinem Sohn, dem Urmenschen Adam Kadmon.
Es sind Bilder der elementaren Natur, Bilder des Mythos’ vom Baum des Lebens, die in der Kabbala in Gestalt des Adam Kadmon erscheinen. Die Äste und Verzweigungen des Baumes stellen symbolisch die Einheit göttlichen Lebens in der Vielfalt der zehn Sephiroth dar.
Der Heilige Alte, das „große Gesicht“
Die verborgene unendliche Gottheit ist das Mysterium der Mysterien und wird hebräisch als Ain Soph, das unendliche Nichts, bezeichnet. Im Sohar erhält sie verschiedene Namen, die auf ihre entrückte Transzendenz hinweisen: „der Heilige Alte“, auch „das große Gesicht“ genannt.[3]
In dem Symbol des Heiligen Alten verbirgt sich das Problem der Dialektik des Übergangs vom Gestaltlosen zur Gestalt: das unendliche Nichts tritt als Ehyeh (Ich werde sein) aus seiner Verborgenheit heraus und erscheint als lebendiger Gott.
Seine Gestalt umfasst auch das Nichts, bleibt also vom Gestaltlosen unlösbar durchdrungen. Diese Einsicht ist für die Metaphysik der Kabbala entscheidend.
„Das Wissen um dieses Doppelspiel, diese Dialektik der Gestalt, ist für das Wissen des Kabbalisten charakteristisch,“[4]
Der Übergang zur Gestalt
Als der Heilige Alte Gestalt annahm, sammelte sich all sein verborgenes Licht zu einem grenzenlosen Licht, zu Ain Soph Aur, das in einem weiteren Schritt in einem Brennpunkt zur ersten Sephira Kether zusammenfloss. Von Kether gehen alle weiteren Manifestationen und Emanationen der Sephiroth aus. Sie wird zu einem Brunnen, von dessen Quelle lebendes Wasser in den nach unten wachsenden Baum des Lebens fließt.
Die Weltseele des Makrokosmos und die menschliche Seele entspringen beide dieser einen Quelle, ihre jeweiligen Entwicklungen laufen parallel und werden im Symbol vom Baum des Lebens als miteinander verflochten dargestellt.
Die Sephira Kether ist also die Krone und Wurzel aller sich im Folgenden manifestierenden Sephiroth.
Das Wort Sephira kommt von griechischen Sphaira, Sphäre bzw. Himmelskörper, Planet. Die Mehrzahl Sephiroth bezieht sich auf die Urzahlen von 1 – 10; es handelt sich also um die zehn Urpotenzen der Schöpfung. Sie heißen auch Gottes Intelligenzen (Logoi), denn jede einzelne Sephira verfügt über eine besondere Form von Intelligenz.
Der schöpferisch wirkende Gott, „das kleine Gesicht“
Ein Übergang zur zweiten Sephira findet statt, indem das grenzenlose Licht in einer Spiegelung seiner selbst seinen „Sohn“ offenbart: Chockmah (die Weisheit und die dynamische Kraft der Schöpfung).[5]
Chockmah ist der sich in seiner Schöpfung offenbarende Gott, der „das kleine Gesicht“ genant wird und als gekrönter König die Schöpferaktivität durchführt. Er ist der Menschensohn, der Urmensch: Adam Kadmon.
„Da kam mit den Wolken des Himmels einer wie ein Menschensohn. Er gelangte bis zu dem Hochbetagten und wurde vor ihn geführt. Ihm wurden Herrschaft, Würde und Königtum gegeben“ (Daniel 7, 13-14).
Chokmah gibt den Impuls zur Erschaffung der weiteren Sephiroth, und sie bilden nach und nach zusammen einen Baum, der sich zu einem Ebenbild des Königs entwickelt.
Das Wort Ebenbild bedeutet im Hebräischen auch Ähnlichkeit, Modell und weist darauf hin, dass es sich hier um das innere Bild des geistigen Menschen handelt: des „Menschensohns“.[6]
Von zwei Enden ausgehend, paaren sich die Sephiroth wie Glieder einer Kette stufenweise in Gegensatzpaare. Eine männliche und eine weibliche Sephira stehen sich, jeweils polar auf zwei Säulen aufgereiht, gegenüber. Die Stufen, die sie bilden, sind Stufen, aus denen Gottes Antlitz strahlt. Ihre Namen sind die Namen, unter denen Gott erscheint, und als Einheit offenbaren sie sein geheimes inneres Leben.
Die beiden Säulen sind auf der rechten Seite (aus makrokosmischer, objektiver Sicht) die Säule der Barmherzigkeit und auf der linken Seite die Säule der Härte. Sie stellen den Baum der Erkenntnis dar, in dessen Mitte die Säule des Gleichgewichts, der eigentliche Lebensbaum, steht. Als eine Einheit aus drei Säulen bilden die Sephiroth „den Baum des Lebens“.
In der Säule des Ausgleichs, der Mittelsäule, hängt Sophia, die Kraft der universellen Harmonie, ihre Waage auf. Sie ist bestrebt, das Gleichgewicht zwischen den antagonistisch wirkenden männlichen und weiblichen Kräften zu ermöglichen.
[1] Sefer ha-Bahir §12, zitiert nach Franjo Terhart, Kabbala, Die jüdische Mystik, S. 26, Paragon Books Ltd
[2] Gershom Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Zürich 2013, S. 128
[3] Gershom Scholem, Von der mystischen Gestalt der Gottheit, Zürich 1962, S. 42
[4] Ibid. S. 33/34
[5] Jeff Love, Die Quantengötter, Hamburg 1994, S. 56
[6] Ibid. S. 72