Hülle und Kern

Hülle und Kern

Wie sich der ursprüngliche göttliche Keim mit mehr und mehr Hüllen umgibt. Erst als der Mensch erschaffen war, wurde alles sichtbar in der Welt.

Heraklit und der Sohar, das heilige Buch der Kabbala

Gleich ist Anfang und Ende auf der Kreislinie,
Heraklit

Heraklit verweist auf das ägyptische Urbild einer Schlange, Ouroboros, die sich in den Schwanz beißt und mit ihrem Körper einen vollkommenen Kreis bildet, der das ewige Leben darstellt. Die Kreislinie symbolisiert unser Leben, dessen Anfang und Ende sich im gleichen Punkt treffen; in ihm geht das Leben in den Tod über, und der Tod führt wiederum zu einer neuen Geburt.

Einerseits deutet dies darauf hin, dass wir ewig leben, indem wir gleichzeitig langsam sterben und hierdurch wiederum langsam neues Leben in uns entsteht. Andererseits sieht Heraklit die Gegensätze in den Erscheinungen und beobachtet, wie unser Bewusstsein Tod und Geburt als unvereinbare und endgültige Gegensätze erlebt.

Das Zwiespältige liegt darin begründet, dass das Geistig-Seelische von einer Leiblichkeit umhüllt wird. In ihr ruht in der Regel das Bewusstsein des Menschen, und deshalb erlebt der Mensch den Tod als einschneidend und als Gegenteil der Geburt. Die Welt in ihren Erscheinungen ist demnach doppeldeutig und doch ist sie Ausfluss des Einen. Heraklit sagt, wenn sich die Seele auf den einen inneren göttlichen Geist richte, lerne sie, unseren rätselhaften Kosmos zu verstehen. In ihm herrsche das dem göttlichen Geist ähnlichste Element: das kosmische Feuer.

Dieses Feuer entsteht und lodert auf in einem sich gegensätzlich entwickelnden Spiel der Flammen, in dem es gleichzeitig mit dem Auflodern langsam vergeht. Sein Leben ist ein Sterben, so Heraklit, es ist das Vergänglich-Ewige,[1] das Spiel von Form und innerem Gehalt.

In diesem Sinne dichtete Goethe:

Laß den Anfang mit dem Ende
Sich in eins zusammenzieh’n!
Schneller als die Gegenstände
Selber dich vorüberflieh’n!
Danke, daß die Gunst der Musen
Unvergängliches verheißt:
Den Gehalt in deinem Busen
Und die Form in deinem Geist.

Gleicht das Leben des Menschen einem Pilger, der sich ewiglich auf einer Kreislinie zwischen Geburt und Tod bewegt und dabei an jedem Punkt wie ein Pendel hin- und herschwingt?

Wer ist dieser Pilger und was bewegt ihn?

Der Beginn des göttlichen Schöpfungsprozesses

Der Prozess der göttlichen Schöpfung des Makro- und Mikrokosmos wird bildhaft und lebendig dargestellt im Sohar („Buch des göttlichen Glanzes“, 13.Jd.), dem meist gelesenen Buch der jüdischen Mystik bzw. der Kabbala[2]. Es spricht von der menschlichen Seele, die das Rätsel des Lebens in einer lebendigen Beziehung zum göttlichen Geist sucht.

Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Beziehung des inneren Gehalts des Lebens zu seinen lebendigen Umhüllungen.

Im Anfang – da prägte der Wille des Königs in den oberen Raum Seine Prägung: eine Leuchte aus dunkler Urregion, und trat ein in das Verborgene aus dem Endlosen her. […] Der Verborgene im Verborgenen, der vom Geheimnis des Endlosen ist, schlug spaltend rhythmisch in Seinen Sphärenraum […], bis vom Anprall jenes Stoßes aufblitzte ein Punkt, ein verborgen himmlischer. [… Er wird] „Reshit“ (Anfang) gennant und bildet das erste aller Worte, […] Reshit wirkte sich einen Palast zu Schönheit und Widerglanz, drein säete Er den heiligen zeugenden Samen zum Heile der Welt. […] So wirkte denn schöpferisch vermittels jenes Reshit der Verborgene, der selbst von der Hülle nicht erkannt ward.[3]

Das unendlich Verborgene aus dem Endlosen wird in der Kabbala Ain Soph genannt, das unendliche Nichts. Als der Uralte, Allheilige, als der unkennbare dreifache göttliche Geist wirkt er mit seinem Licht (Aur) und ist der Urgrund der göttlichen Schöpfung und all ihrer Wesen. Aus der Finsternis des unendlichen Nichts entspringt der Urquell des Lichtes. Für den Menschen bedeutet dies, dass das göttliche Licht nur im Geheimnis der Finsternis (der Nacht) offenbar wird. Es ruht in diesem Geheimnis, auf dass es nicht missbraucht werde. Es schützt sich, indem es sich in seinen Seelengeweben verbirgt, die in der Sprache des Sohar ihren Ausdruck in Bildern von Hüllen und Schalen finden, welche die Form eines Kleides, eines Mantels oder sogar eines Palastes annehmen.

Wir sind alle Kinder des göttlichen Lichtes

Im Sohar heißt es: Es sprach Gott: Es werde Licht – und werde Licht. [..:]

Es ergeht das erste „werde“ an die diesseitige, das zweite an die zukünftige Welt.

Es ist dies das Leuchten, das der Allheilige im Uranfang schuf: genannt das Licht des Urquells. Dieses Licht zeigte der Allheilige dem Urmenschen und dieser schaute darin vom Anfang bis ans Ende der Welt.

Mit dem Begriff Urmensch wird auf den Ersten Menschen hingedeutet, der einstmals als ein Ebenbild Gottes entstanden war. Dieser vermochte aus dem Licht heraus zu schauen. Aufgrund der folgenden Entwicklungen bleibt das Licht jedoch bis zum Tage jener künftigen Welt […]verborgen und verwahrt. Und jenes künftige Licht muss aus der Finsternis kommen, in deren Hüllenwesen es eingeprägt ist.

Weiter heißt es:

Licht ließ Tag entstehen, Finsternis Nacht. In dieser Form konnte sie Gott wieder in eine Einheit binden, […] so dass Tag und Nacht eins genannt werden. […] Es gibt kein Licht als in der Finsternis und keine Finsternis als nur im Lichte; und obwohl sie ihrer Art nach unterschieden sind, bilden sie doch auf diese Weise eine Einheit: „einen Tag“.[4]

So ward die Schöpfung der Welt „in sieben Tagen“ aus siebenfältigem göttlichem Licht erschaffen. Damals nämlich setzte der Allheilige in die Erde das ganze Wesensheer des Wachsenden. […] Erst als der Mensch erschaffen war, ward alles sichtbar in der Welt.[5]

Der Schöpfer schuf sich einen Palast aus göttlichem Licht zu seiner Ehre und zum Wohle der Schöpfung. Dieser präexistente Thron Gottes enthält alle Schöpfungsformen beispielhaft in sich.[6]

Als der Mensch zum sichtbaren Wesen wurde, wurde [alles] sichtbar. Als aber der Mensch der Schuld verfiel, zog sich alles wieder aus der Welt und die Erde wurde verdunkelt.[7]

Das menschliche Bewusstsein erfuhr sich von nun an wie gefangen in einer Welt der Gegensätze von Licht und Finsternis, die, wie es in anderen Traditionen heißt, einen Kreislauf von Geburt und Tod in Bewegung setzten.

Das Gleichnis von der Nuss

Im Sohar wird der Aufbau der göttlichen Schöpfung mit einer Nuss verglichen:

Nachdem das Urlicht verborgen war, wurde die Schale für das Mark erschaffen und diese Schale breitete sich aus und ließ wieder andere Schalen aus sich hervorgehen. […] König Salomo […] nahm eine Nuss und betrachtete ihre Schalen. Da wurde er gewahr, dass alle jene Lüste [… des Menschen] den Schalen der Nuss entsprechen; die streben nur danach, den Menschen anzuhaften und sie unrein zu machen. […] Aber alles muss dennoch der Allheilige in der Welt erschaffen und damit die Welt zur Vollkommenheit bringen. Und alles hat inwendig ein Mark, von zahlreichen Schalen bedeckt. So verhält sich die ganze Welt oben und unten, vom Haupte, dem Geheimnis des oberen Punktes, bis zum Ende aller Stufen; alle sind sie eines Kleid dem anderen, eines Mark im anderen, eines Schale um das andere.[8]

Die verschiedenen Seelen des Menschen

Das Bild der Nuss und der sich übereinander wölbenden Schalen bezieht sich auf das sich stufenweise entwickelnde Leben im Kosmos. Und es lässt sich auch auf den kleinen Kosmos „Mensch“ übertragen.

Der Kern der Schöpfung, der die Einheit des dreifachen Urquells göttlichen Lichtes ist (in der esoterischen Literatur auch als göttliche Monade bezeichnet), wirkt in allen sich entwickelnden Lebenseinheiten. Von ihm ausgehend, entfalten sich stufenweise feinstoffliche und schließlich grobstoffliche Hüllen um die jeweiligen Seelen-Monaden. Die äußerste, harte Schale symbolisiert den physischen Körper des Menschen.

Folgendes Schema, ausgehend von den drei Seelen des Menschen, die im Sohar erwähnt werden, mag dies verdeutlichen:

  • Da ist zunächst der dreifältige göttliche Urquell: u.a. Neshamah, die Geistseele, auf sie folgen
  • der menschliche Mental-Körper: Ruach, die denkende Seele,
  • der Astral-Körper: Nephesh, die empfindene und begehrende Seele,

und, auf den weiteren Schritten der Verfestigung:

  • der Ätherkörper (Lebensleib): der belebende Seelenatem Gottes und
  • der physische Körper: Guph und seine Körperseele.

Im menschlichen Entwicklungsprozess bauen sich vom Zeitpunkt der Geburt an die verschiedenen Körper nacheinander auf, vom physischen Körper ausgehend. Der Mental-Körper, der sich im beginnenden Erwachsenenalter formt, ist in unserer Zeit stark verfestigt, sodass er eine Art Mauer darstellt gegenüber den höheren Möglichkeiten des Menschen. Zugleich allerdings kann ein gereinigtes, zum Geist hin offenes Denken die Tür öffnen für eine bewusste Rückkehr zum göttlichen Urquell.

Es findet im heranwachsenden Menschen also ein doppelter Prozess statt: Die sich aufbauenden Hüllen sind ein Lebens- oder Geburtsprozess, mit dem in der Regel ein Sterbeprozess in Bezug auf die monadische Wirksamkeit einhergeht.

Doch die Monade kann sich über die latente Geistseele bemerkbar machen. Durch leidvolle Erfahrungen kann sich der Mensch seines göttlichen Urquells bewusst werden und sich nach ihm sehnen. Er kann zu einem Pilger werden, der den Weg zurück sucht.

Die entscheidende Frage ist dann: Wie gestaltet sich dieser Weg zurück?

Kann sich die Persönlichkeit so ohne Weiteres von ihren alten Hüllen lösen, bzw. eine nach der anderen loslassen? Kann sie diesem irdischen Leben langsam absterben und dem Kreislauf von Geburt und Tod schon mitten in der jetzigen Existenz entsteigen, um in das „Eine“ zurückzukehren, zur ursprünglichen göttlichen Flamme des geistigen kosmischen Urfeuers, von dem Heraklit spricht? Und in diesem Prozess bekleidet werden von einer „geistigen Hülle“?

Oder haften die Schalen, die ihn zu einem Ego machen, zu stark am Menschen? Dominiert die mentale Seele in ihm und überschattet sein Verstand die innere Sehnsucht seines Herzens? Identifiziert er sich mit seinem physischen Körper? Begehrt seine empfindende Seele eigensinnig irdischen Genuss?

Das Tor zum Paradies

Wenn der körperliche Tod des Menschen eintritt, sieht er wie in einem vom göttlichen Licht erleuchteten Panorama die Entfaltung seines Lebens rückwärts verlaufen bis zu seiner Geburt.

Wenn nämlich der Mensch diese Welt verlässt und Rechenschaft ablegt vor seinem Herrn über alles, was er in dieser Welt getan, solange noch Geist und Körper in ihm vereinigt waren, wenn er dann sieht, was er da sehen kann vor dem Eintritt in jene Welt, dann begegnet er dem Urmenschen, der da sitzt am Tore des Paradieses, um alle jene zu schauen, welche die Weisungen ihres Herrn erfüllt haben, und sich mit ihnen freuen.[9]

 

Der Verstorbene kann sich jetzt der Ursachen bewusst werden, die ihn vom göttlichen Quell entfernt hielten. Er kann bereuen und seine alten Ego-Seelen nach und nach loslassen und „leer“ bzw offen für den göttlichen Geist werden. Dann wird er, wenn er dazu bereit ist, ein „neues Gewand“ empfangen, in dem sich der Geist abbilden kann. Oder er kann eine erneute Geburt in einem irdischen Leben wählen. Das wird der Fall sein, wenn er keine Vorbereitungen für den anderen Weg getroffen hat.

Das Gleichnis von der Flamme

Betrachte die Flamme, die aufsteigt aus der Kohle oder aus einer brennenden Leuchte. Diese Flamme kann nämlich nur dann aufsteigen, wenn sie mit einem anderen groben Stoff sich verbunden hat. Und merke wohl: In der aufsteigenden Flamme sind zwei Arten Lichts: das eine ein weißleuchtend Licht, das andere, das sich mit ihm verbindet, schwarz oder blau, und jenes über diesem. Während das weiße Licht geraden Wegs aufsteigt, bleibt unter ihm jenes blaue oder schwarze, denn es bildet des weißen Lichtes Thron. Dieses ruht auf ihm, so kommen sie zur Einheit und das dunkle Licht trägt als Thron die Herrlichkeit des weißen. […] Das blaue [dunkle] Licht verbindet sich nach zwei Seiten, nach oben mit dem weißen Licht, nach unten mit jenem Ding unter ihm, durch welches es zum Leuchten erst befähigt wird. Und indem es sich mit ihm verbindet, frisst und zehrt es auch an seiner Unterlage. Womit es verbunden ist und worauf es ruht, das blaue Licht, das zehrt es auf. […] So hängt an ihm die Verzehrung von allem, der Tod von allem.[10]

 

In diesem Gleichnis am Ende des Sohar verbirgt sich eine Antwort auf die von Heraklit eingangs aufgeworfene rätselhafte Frage nach der Einheit in der gegensätzlichen Bewegung des kosmischen Feuers.

Das schwarzblau lodernde Licht der menschlich empfindenden und begehrenden „Astralseele“, das zwischen der unteren dunklen Materie und dem oberen hellen Licht steht, opfert sich, wenn sich ein Mensch für den Weg zum Ursprung entscheidet, für das weiße, strahlende Licht der Geist-Seele, die nun nach oben in ihrer geistigen Urquelle aufflammen kann. Tod und Geburt bilden in diesem Augenblick einen gleichen Punkt auf der sich ewig schwingenden Kreislinie des göttlich-geistigen Einen.

[1] Heraklit, Fragmente, 1986, Artemis Verlag, München und Zürich, S. 50, 53

[2] Der Sohar. Das heilige Buch der Kabbala, Diederichs Verlag, München, 2005

[3] Der Sohar, a.a.O., S. 99 f.

[4] A.a.O., S. 50 f.

[5] A.a.O., S. 121

[6] Gershom Scholem. Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Suhrkamp Taschenbuch, 1980, S. 47

[7] Der Sohar, a.a.O., S. 121

[8] A.a.O., S. 83

[9] A.a.O., S. 120

[10] A.a.O., S. 304 f.

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Datum: Januar 23, 2025
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