Herz und Haupt, ein schöpferischer Dialog

Das Herz repräsentiert die fundamentale, alles umfassende und substanzielle Einheit der Schöpfung im Menschen. Das Herz ist Leben und Bewusstsein. Im Umfassen und Tragen ist es Liebe.

Herz und Haupt, ein schöpferischer Dialog

Es ist das sich-selbst-Geben des Göttlichen in die Materie, in die Welt hinein. Wir sagen „das Herz aller Dinge“. Gott wohnt im Herzen – als Geheimnis, das entschleiert werden will. Kann es darüber hinaus noch etwas geben?

Das Haupt geht darüber hinaus. Es reicht ins Formlose. Es ist die Verbindung mit dem, was (noch) nicht ist, was außerhalb dessen liegt, was wir schon wüssten oder wären. Es ist die Instanz, die die Schöpfung vorwärtstreibt. Ein erleuchtetes Haupt ist die Brücke zum göttlichen (Nicht-)Sein, zum absolut Ungeborenen. Es vermag sich aus dem zu erheben, was ist, und die Verbindung zum Transzendenten dahinter zu suchen. Wenn es den ursprünglichen Willen hinter allem erfasst und sich ihm öffnet, ist es der Motor der Schöpfung.

Haupt – Herz – Hände oder Denken, Empfinden und Tun sind Repräsentanten des göttlichen Geistes, der ursprünglichen Seele und der Urmaterie im Menschen. Im Grunde vollzieht sich durch uns Menschen das göttliche Werden, und damit die göttliche Selbsterkenntnis.

Herz, Haupt und Hände können uns also offenbaren, was in unserem Wesen und in der Schöpfung an sich beschlossen liegt. Das ursprüngliche gottmenschliche Bewusstsein vereint drei Prinzipien: ein Erleben des eigenen Wesens (wenn auch in einer feineren Stofflichkeit als wir es jetzt sind), ein Erkennen und Erleben im Ganzen sowie ein Schöpfen aus dem und ein Hineinreichen in das Nichts (oder Noch-Nicht). In der Gesamtheit sind diese drei Prinzipien Gott, der sich offenbart. Und die Schöpfung ist gemeinsames Werden, Austausch, Lernen, Freude, Feier.

Unsere Wirklichkeit

Hier und heute erleben wir etwas anderes. Dennoch: Was in Herz und Haupt wirkt, das zeigt sich immer als Tat und Lebenswirklichkeit. Was ein Mensch denkt, bestimmt seine Weltsicht, es öffnet die einen Wege und verschließt die anderen. Was ein Mensch fühlt, bestimmt, was er tun will und kann. Was immateriell und verborgen war, zeigt sich auf diese Weise im Leben und Handeln. Selbst wenn unsere Suche nach Selbstverwirklichung unbewusst und ziellos aussehen sollte: Auch das unbewusste Herz und das unerleuchtete Haupt können bestimmte Qualitäten, die ins menschliche Wesen eingeschrieben sind, nicht verleugnen. Durch Versuch und Irrtum hin werden wir bewusster.

In unserem jetzigen Zustand ist das Herz oft von Ängsten und Begierden belagert, es erlebt das Scheitern der Suche nach wirklicher Einheit, es erfährt Ängste wegen der verfließenden Freuden des Verbundenseins… und das Haupt flüchtet sich oft in ein Abgehobensein, in gedankliche Spekulationen, in Nicht-Interesse, in ein scheinbares „reines Denken“, in ein Wissenwollen um seiner selbst willen.

Dennoch: Das Herz, das aus einer Ichzentriertheit heraus nach Einheit sucht und um sich herum engere oder weitere Kreise zieht, die oft bloße Einflussphären sind, ist auf dem Weg, sein Wesen zu entdecken. Wenn es deshalb die Einheit verfehlt, weil es Menschen und Dinge vereinnahmt, erlebt es eine Bewusstwerdung. Wenn es scheitert, weil es oft nicht anders kann, als Menschen und Dinge aus „seiner Einheit“ auszuschließen, wird der Schmerz der anderen irgendwann zu einem Korrektiv des eigenen Seinszustands; auch er bringt Bewusstwerdung. Die „eigene“ Sphäre des Herzens wird irgendwie immer zu weit und zu eng gezogen. Wir verzweifeln am Haben- und Behaltenwollen und wir werden von Verbindungen überschwemmt, die wir nicht annehmen können. Wo liegt der Fehler?

Das Denken, das immer einen Schritt weiter gehen will, hinaus über das, was ist: Es verliert sich oft selbst. Es tauscht die Realität seines Seins gegen ein Noch-Nicht, das sich nicht mühelos, ja vielleicht nie verwirklichen lässt. Es erlebt, dass der erahnte Zugang zum innereigenen Schöpfungsprinzip „von oben nach unten“ ihn vorerst nicht der Mühen des normalmenschlichen Tuns im Stoff enthebt. Wo sich im eigenen Wesen anstehende Veränderungen gleichsam organisch vom Mentalen über das Astrale und Ätherische in die Materie umsetzen können (also „von oben nach unten“), müssen die selbst erzeugten Gedankengebäude durch konkrete Planung, Organisation und viel Arbeit in den Stoff gebracht werden.

Manchmal aber entspricht das rein Mentale schon seinem Zweck, und so genügt einigen der bloße Entwurf einer parallelen Realität: Im Metaverse oder Web 3.0 kann jeder mit einem gewissen finanziellen Einsatz eine komplette Existenz aufbauen und sich zumindest mental in ihr bewegen – wenn es zur maßgeschneiderten Realität im Universum 1.0 nicht gereicht haben sollte. Man kann, wie sollte es auch anders sein, ins rein Gedankliche auch flüchten. Doch das bloß Gedankliche wird auf die Dauer nicht genügen: In uns Menschen ist der Wunsch nach Verwirklichung so angelegt, dass das ganze Wesen an ihr teilhaben will. Wie auch immer: In all dem Suchen, durch all diese Gedankenschöpfungen hin erprobt das Denken sein wahres Wesen.

Herz und Haupt bleiben meist lange Zeit in ihren je eigenen Illusionen gefangen. Vor allem herrscht zwischen ihnen keine Einigkeit, denn sie gehen in ihrer Selbstsuche oft unterschiedliche Pfade. Will der Mensch Harmonie erlangen, so muss sich zwischen ihnen ein echtes Gleichgewicht einstellen.

Zwei Wege, zwei Wirkungen

Die Bewegtheiten von Herz und Haupt sind im menschlichen Mikrokosmos ein Ausdruck dessen, was das ewige Selbst einstrahlt. Zumindest gilt das für den befreiten Menschen. Auf unserem jetzigen Weg durch die Inkarnationen haben wir einen anderen dominierenden Taktgeber: das Karma. Doch auch dieser Weg führt weiter, zu einem Reifezustand, einem Ende, zu einem Übergang in ein anderes Sein, in dem die Harmonie liegt.

Dabei ist das Karma gleichsam zweigesichtig: Seine Eigendynamik wirkt als Drang zu einer Perfektionierung des irdischen Wesens, zum Ansammeln von Fähigkeiten und Erfahrungen, die jedoch – wegen des dahinter wirkenden ewigen Selbstes und der Begrenztheit des vergänglichen Feldes – nie zu wirklicher Macht- und Seinsfülle führen, sondern zur sukzessiven Bewusstwerdung des potenziell unbegrenzten „Anderen“ in uns.

In uns wirken Anstöße aus unserem ewigen Selbst, die sich in einem Einzelwesen, das sowohl seine Individualität als auch die Einheit sucht, nur in Widersprüchen und Zielkonflikten zeigen können. Wir gehen immer noch den Weg zur Vollendung jener Art von Individualismus, den unsere Hemisphäre schon jahrhundertelang pflegt, und zugleich versuchen wir, Verbundenheit und Einheit zu realisieren. Die meisten Menschen schaffen in ihrem Leben unterschiedliche Nischen für diese auseinanderstrebenden Antriebe. Da hinter allem aber der göttliche Mikrokosmos steht, lassen sich die Schubladen in unserem Wesen nicht dauerhaft voreinander abschließen. Wir müssen irgendwann erkennen, dass wir die Einheit nicht nach unserem Gusto formen können.

Ebensowenig werden wir in unserer privaten Blase unser Ego zum Glänzen bringen können, denn wir Menschen sind alleine nichts. Diese Wege, die hier in kurzen Worten und groben Überschriften angerissen werden, gehen wir als Mikrokosmen schon seit einigen Inkarnationen. Wenn der karmische Weg sich seinem Ende nähert, wird immer klarer, dass all das Divergierende in unserem Wesen, das nach Erfüllung verlangt, letztlich in einem umfassenden neuen Sein zur Geburt kommen muss und kann. Dann kann das Ich die Krone der Schöpfung ablegen und zur Ruhe kommen – und zum Zeugen dessen werden, was entstehen will.

Beginnt das Ich etwas von dem zu erkennen, was seine alte Individualität letztlich sprengt und kann sich ihm dennoch liebend zuwenden, dann beginnen Herz und Haupt etwas von ihrem wahren Wesen zu verwirklichen. Sie wenden sich einander zu. Das Denken des Herzens wird möglich, und auf der anderen Seite kann sich das Haupt dem Herzen zuwenden, ja unterordnen: Denn dort beginnt das ewige Selbst zuerst durchzudringen. Eine grundlegende Transformation kann dann beginnen. Über sie sagt Sri Aurobindo:

Das kann nicht geschehen, indem das Selbst das Bewusstsein im Wesentlichen so belässt, wie es ist und in ihm nur durch Reinigung und Erleuchtung des Bewusstseins und des Herzens sowie Beruhigung des Vitalen [der ätherischen Lebenskräfte] wirkt. Es bedeutet, dass das göttliche Bewusstsein, das statisch und dynamisch ist, in all diese Teile gebracht wird und das gegenwärtige Bewusstsein vollständig durch dieses ersetzt wird.[1]

Das bedeutet, dass unser wahres Selbst, das ein universelles Selbst ist, sich in unsere zeitliche Manifestation projiziert und uns vollkommen verändert. Da es ihm die gleichen Instanzen wie in unserem zeitlichen, veränderlichen Wesen gibt, erwachen Herz, Haupt und Handlungsorgane zu einem neuen Seinszustand. Das höhere Haupt, das höhere Herz sowie das höhere Handlungsorgan transformieren uns: Atman – Buddhi – Manas.

Auf diesem Weg gibt es über lange Zeit zwei Ströme neuen Werdens in uns. Anfangs kann die Erneuerung nur im Herzen anknüpfen, wo das Göttliche sich in der Materie zeigen will und wo wir eine reine Kraft finden, die wir als neuen Beginn erkennen und lieben lernen können. Dann legt das Haupt seine Ungebundenheit ab und wendet sich dem Herzen zu. Eine rudimentäre Herz-Haupt-Einheit entsteht, auf die der weitere Weg aufbauen kann.

Wenn das Haupt gereinigt und seinem göttlichen Wesensgrund gegenüber offen ist, dann kann es außer vom Herzen auch vom ewigen Selbst Inspirationen empfangen – und diese Verbindung beginnt durch die Einsenkung des Manas als erster Stufe.

Ein neues Sein

Das ewige, universelle Selbst ist der Brennpunkt zwischen dem göttlichen Nichts und der Gesamtheit der Schöpfung. Es ist Teil und Ganzes zugleich. Im zeitlichen Selbst bringt es unsere Individualität hervor: jedoch immer im Abgleich mit dem Werden der Ganzheit.

Auf diesem Weg wird das Herz zu einem Hort der Einheit. Vorher ersehnen wir sie, und wir empfinden die Verbundenheit mit allem, oft als Beglückung, aber auch als Verantwortung. Das Herz des zeitlichen Menschen taucht in dem Maße in eine echte, wesensmäßige Einheit ein, wie das wahre Selbst erwacht und sich in ihm ausdrücken kann.

Unser empfundener Wesensmittelpunkt öffnet sich in diesem Prozess dem Quell aller Dinge. Nur dadurch kann er sich in Wirklichkeit den Mitten der anderen öffnen und sie umfangen. So besitzt Buddhi, die Allseele, die Einheit, und das Herz (oder der Astralkörper) des Menschen beweist sie. So wie Atman das göttlich Transzendente im Mikrokosmos ist, bedeutet Buddhi die Immenenz des Göttlichen in allem und im eigenen Wesen.

Die Upanishaden setzen die wesensmäßige Einheit von Brahman (dem göttlichen Urgrund) und dem Atman oder wahren Selbst des Menschen. Atman ist verwandt mit dem Atem und wird ebenfalls oft als Seele übersetzt. Hier soll es als Selbst bezeichnet werden. Paramatman ist dann das universelle Selbst, Jivatman das individuelle Selbst (jivan = Leben) oder Widerspiegelung des Universellen in der zeitlichen Erscheinung. Buddhi ist in diesem Zusammenhang die erwachte Allseele (budh = Erwachen), die Intelligenz und Willen in sich vereint und tatsächlich das Herz aller Dinge ist. Manas gebiert schließlich die Ideen, die sich in der individuellen Schöpfung eines Menschen manifestieren, der zu seinem wahren Selbst erwacht.

Das ewige Selbst ist im Grunde formlos[2], das veränderliche Zeitliche bringt dessen göttliches Potenzial in wachsender Herrlichkeit zum Ausdruck – in Erscheinungsformen, die über das uns bekannte irdische Werden und Vergehen weit hinausreichen. So erhebt sich das Haupt in einer Art höheren Nichtwissens zu seinem innereigenen göttlichen Selbst, um von dort Inspirationen zu empfangen. Das Herz umfängt die Ideen, breitet sie aus und nährt alles, ohne dabei auf sich selbst zu schauen.

Dieser Weg beginnt, wenn Herz und Haupt sich „nach oben“ öffnen und ihre Ichzentriertheit preisgeben. In diesem Sinne wünschte Sri Aurobindo einem Freund zu dessen Geburtstag: „Möge die innere Sonne das Denken befrieden und erleuchten sowie das Herz vollständig erwecken und leiten.“[3]


[1]  „That cannot be done by the influence of the Self leaving the consciousness fundamentally as it is with only purification, enlightenment of the mind and heart and quiescence of the vital. It means a bringing down of the divine Consciousness static and dynamic into all these parts and the entire replacement of the present consciousness by that.“ In: „Sri Aurobindo on Himself“, Letters on Himself and the Ashram (archive.org), Zugriff am 21.05.2023, S. 174
[2]     Catharose des Petri schreibt dazu in Transfiguration: „Es ist nicht möglich, sich von solch einer Existenz eine auch nur irgendwie geartete Vorstellung zu machen, […] denn der absolute Neue Mensch ist eine Über-Form-Entität. Er ist, als Unbegrenzter, im Unbegrenzten.“ Haarlem 1995, S. 51
[3]   „May the inner Sun tranquillise and illumine the mind and awaken fully the heart and guide it.“ Geburtstagsgruß an Sadhak, 09.09.1937, in „Sri Aurobindo on Himself“, S. 839

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Datum: Juli 14, 2023
Autor: Angela Paap (Germany)
Foto: tree-Bild von Joe auf Pixabay CCO

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