Eines Tages merkte ich, dass dabei etwas geschieht,
Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden,
in welchen meine Sinne sich vertiefen
.[…]
Aus ihnen kommt mir Wissen,
dass ich Raumzu einem zweiten
zeitlos breiten Leben habe. [1]
(Rainer Maria Rilke)
Und Georg Trakl schreibt:
In den einsamen Stunden des Geistes
ist es schön, in der Sonne zu gehn,
an den gelben Mauern des Sommers hin.
Leise klingen die Schritte im Gras. Doch immer schläft
der Sohn des Pan im grauen Marmor. [2]
Wenn ich Texte wie diese in mir nachklingen lasse, weiten sich meine Sinne. Und ich spüre: Es gibt in mir diesen „Raum zu einem zweiten, zeitlos breiten Leben“.
Meist halb bewusst umkreise ich das Geheimnis meines Daseins. Es ist wahr, wenn der Dichter sagt, dass ich dabei an „gelben Mauern des Sommers“ entlang laufe. Der Herbst, die Zeit, in der ich „geerntet“ werde, ist noch nicht da. Aber immerhin werden die Mauern beschienen, das Licht des Geheimnisses lässt sie von innen her leuchten. Warum habe ich überhaupt diese Mauern? Sie entstehen zwangsläufig, denn mein Denken und Empfinden, mein Urteilen und Wollen umfangen mich und kapseln mich ein. Dieser „graue Marmor“ feinstofflicher Art kann sehr schön, sehr fein gestaltet sein. Doch in ihm „schläft der Sohn des Pan“. Mein Denken, mein Empfinden und Wollen mögen zwar auf die Welt des Geistes oder die der Natur gerichtet sein, doch sie sind nicht eins mit dem lebendigen Atem des Geistes oder der Natur. Sie sind nur Spiegelbilder. Und so gehe ich an diesen Mauern entlang. „Leise klingen die Schritte im Gras …“
Sehr gut kenne ich die „Dunkelstunden“ meines Wesens. Inmitten aller Geschäftigkeit des Lebens begleitet mich die Einsamkeit des Geistes, das Schauen ins Nichts, ins Nirgendwo. Eines Tages merkte ich, dass dabei etwas geschieht, dass das Licht in mir arbeitet – aus dem Dunkel heraus. Die Himmlischen kommen (zunächst) „unempfunden“, sagt Hölderlin. Nur die Kinder merken es unmittelbar und „streben [ihnen] entgegen“.[3] Das ist klar, die Kinder konnten die Mauern noch nicht errichten.
Licht ist schöpferisch. Wenn es in mich eintritt und ich es mit mir trage, baut es in mir. Es kann nicht anders. Es baut die Mauern ab und lässt an ihrer Stelle etwas anderes entstehen, etwas Lebendiges: den „Raum des zeitlos breiten Lebens“. Das Licht macht sich selbst zu diesem Raum und nimmt mich, wenn ich es geschehen lasse, darin auf. Der Raum wird mir zu einer zweiten Seele.
Meine Aufmerksamkeit war stark auf die Außenwelt gerichtet, auf die Orientierung im Leben, die Festigung eines Platzes, um existieren zu können. Auf diese Weise entstand das Mauerwerk im Innern – als ein Spiegel des Äußeren. Spirituelle Texte, Dichtung, Besinnungen, das Feld der spirituellen Gruppe, das Schauen ins Offene machten die Mauern jedoch porös. Allmählich drang ein Ruf hindurch, ein Licht aus dem Innersten. Es ruft mich, und ich verlange – stumm – nach ihm. Wir begehren einander. Innere Sinne schärfen sich, Helligkeit zeigt sich im Dunkel, eine Art Tag dämmert.
Bildhaft gesprochen wird mir eine Hand gereicht und ich versuche, sie zu ergreifen. Sie führt mich durch die Mauer hindurch, so als wäre sie gar nicht vorhanden. Stille umfängt mich, ein scheinbares Nichts. In ihm erlebe ich: „Ich bin“. Das „Ich bin“ kommt auf mich zu. Es ist erschütternd einfach: inmitten des Unfassbaren, jenseits der Wirbel meines Lebens „bin ich“. Ich bin mein Potenzial, berge in mir die Möglichkeit meiner Neuerschaffung. Dieses Potenzial schaut mich, „ich“ als nicht Fassbarer schaue den Existierenden an. Zwei geben einander die Hand.
Als Jugendlicher habe ich die Legenden vom Heiligen Gral gelesen. Sie handeln von der Sehnsucht und der Suche nach dem Unbekannten. Mein erwartungsvolles Lauschen in die Tiefe erscheint mir nun als ein Suchen nach dem Gral. Und unvermittelt dämmerte er herauf als eine Lichtkraft, die sich verdichtet und zu seelischer Substanz wurde. Licht ist schöpferisch, und es wird zu dem, was es erschafft, es stirbt in seine Schöpfung hinein. Im Menschen kann es zum Gral werden und in ihm das „zweite, zeitlos breite Leben“ wecken.
Meist bildet man den Gral als eine Schale ab. Ein Reichtum ergießt sich hinein in diese Schale, denn in der Lichtwelt gibt es keinen Mangel. Und es ist ganz selbstverständlich, dass die Schale überfließt. Nietzsches Zarathustra öffnete sich dem überfließenden Reichtum der Sonne. Er ging ins Gebirge, zusammen mit seinem Adler und seiner Schlange. „[…] wir warteten deiner an jedem Morgen, nahmen dir deinen Überfluss ab und segneten dich dafür.“ Das geschah zehn Jahre lang, bis Zarathustra der Weisheit, die er auf diese Weise empfing, „überdrüssig [wurde] wie die Biene, die des Honigs zu viel gesammelt hat“.[4] Er brauchte Menschen, denen er das Empfangene weitergeben konnte.
Seelenkraft will sich ausdehnen, die Schöpfung will sich immer weiter vollziehen. Alles soll in eine nicht endende Transformation gelangen. „Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich bekleidet“ (Matth. 25,36), so spricht der durch die Welt irrende Geist, der Menschen sucht, in denen er zur Seele werden kann. Der Geist ist sich selbst zu reich, das Licht ist sich zu reich. Liegt hierin der Motor aller Schöpfung und Evolution?
Eine neue Präsenz leuchtet auf. Die unbegrenzte Seele sucht sich der begrenzten mitzuteilen und, so weit es nur geht, sich mit mir zu vereinen. Das führt zu Spannungen, Turbulenzen. Verwandlung ist nicht nur freudevoll. Mein Körper weist auf die Begrenztheit hin. Mit ihm bin ich Teil der Erde. Seine feinstofflichen, energetischen Körperbereiche sind nicht sichtbar. Sie sind weiterreichend, aber ebenfalls begrenzt. Ebenso ist es bei der Erde. Sie hat den grobstofflichen, sichtbaren Körper und die energetischen, unsichtbaren Sphären. Dort, im Feinstofflichen wirke ich unmittelbar hinein in sie und sie in mich. Hier fließen wir ineinander, reagieren wir energetisch aufeinander.
Und hier, in diesem Bereich, merke ich – seit einigen Jahren verstärkt –, wie sich die Natur mir zuwendet. Manchmal spreche ich mit einzelnen Menschen darüber, die auf einem ähnlichen Weg sind. Zu meiner Freude bestätigen sie meist mein Erleben. Die Erde, die Natur wendet sich in unserer Zeit hilferufend an den Menschen. Sie wartet auf etwas, sie erwartet etwas von uns.
Ich öffne mich den Energien eines Baumes, einer Baumgruppe, eines Blumenbeetes, einer blühenden Wiese, einer Landschaft und erlebe die Kräfte, die von dort in mich einströmen. Sie treten in den Sog ein, der durch meine Hingabe an das Göttlich-Geistige in mir entstanden ist. Gibt es in der Natur eine Sehnsucht, die der meinen ähnelt? Wollen die Wesen der Natur aufgenommen werden in die Sehnsucht des Menschen? Wollen sie mitgenommen werden dorthin, wo auch ihre eigenen geistig-seelischen Ursprünge liegen?
Rainer Maria Rilke sagt:
Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar
in uns erstehn? – Ist es dein Traum nicht,
einmal unsichtbar zu sein? – Erde! unsichtbar!
Was, wenn Verwandlung nicht, ist dein drängender Auftrag?
Erde, du liebe, ich will. [5]
Hier ist das Sehnen der Erde in Worte gekleidet. Und zugleich die Antwort eines Menschen. Alles ist auf Weiterentwicklung angelegt, und jede Entwicklung beginnt im Unsichtbaren. All das, wofür ich meine Türen öffne, tritt energetisch in mich ein und wird, wenn in meinem Herzen etwas vom göttlichen Licht anwesend ist, von ihm ergriffen und empfängt einen neuschöpferischen Impuls. Ja, mehr noch: Es empfängt den Impuls seiner Vollendung, mag diese auch in ferner Zukunft liegen. Denn der Geist beinhaltet das Bild der Vollendung, das Licht überträgt den schöpferischen Impuls, und in mühevoller, langer Entwicklung sucht er sich in der Materie seine Verwirklichung.
Die Natur braucht die Vermittlung durch den Menschen. Er ist am weitesten entwickelt und muss für alles Nachfolgende die Brücke zum Ursprung bilden. Denn dorthin, nach vorne gerichtet, kehrt alles kreisförmig zurück. Die Natur will sich mit dem Menschen in diesem Strom vermischen, um etwas von seinen Bewusstseinsstufen zu übernehmen. So wirkt in der Erde eine große Alchemie, in vielen Stufen und Prozessen. Wenn sie gelingen soll, wenn der Ursprung segensreich fortwirken soll, muss im Menschen die „zweite Seele“ geboren werden, der Ort, an dem das Ursprungspotenzial anwesend ist und wirkt. Das ist der große Sinn wahrhaft geistiger Wege. Sie sind eine Notwendigkeit für die Verwandlung der Erde und ihrer Geschöpfe.
Die Dinge „wissen“ darum. Deshalb verlangen sie nach der Zuwendung des Menschen, sehnen sich nach dem Widerklang ihres Wesens im Menschen. Und ist dieser Widerklang möglich, denn alle Natur ist auch Bestandteil des Menschen. Die Natur baut uns auf, körperlich und seelisch. Und so können auch wir alle Natur in uns aufnehmen und zum Bestandteil unserer Erhebung zum Göttlich-Geistigen machen, so dass sie neu dynamisiert wird. Der Raum der „zweiten Seele“ ist hierbei von größter Bedeutung.
Rilke weist darauf hin und geht sogar auf die Details des seelischen Erlebens ein:
Diese, von Hingang
lebenden Dinge verstehn, dass du sie rühmst; vergänglich,
traun sie ein Rettendes uns, den Vergänglichsten, zu.
Wollen, wir sollen sie ganz im unsichtbarn Herzen verwandeln
in – o unendlich – in uns! Wer wir am Ende auch seien. [6]
Da ist ein Baum. Er steht vor mir und ich öffne ihm mein Herz. Seine Gestalt und all seine weiteren Eigenschaften finden eine Entsprechung in mir und können sich deshalb mit mir vereinen. „O der ich wachsen will, ich seh hinaus und in mir wächst der Baum“, formuliert Rilke.[7] Und dann reflektiert der Dichter über das, was in mir mit dem Wahrgenommenen stattfindet: „Fand es in mir Liebe vor?“ Und er fragt:
Habe ich die großgewohnten Dinge
im gedrängten Herzen eingeschränkt?
[…]
Bilder, Zeichen, dringend aufgelesen,
hat es euch, in mir zu sein, gereut? [8]
Wir gehören zusammen. Wir haben die Möglichkeit, ja wir sind darauf angewiesen, einander in der Entwicklung zu dienen. Die Evolution ist noch nicht abgeschlossen, sie kann uns an die Schwelle zu einer „zweiten Geburt“ führen, einer Verwandlung. Die jetzige Erde will zu einer „neuen Erde“ werden. Diesem Ziel der Vollendung dienen wir am ehesten, wenn wir dem „neuen Himmel“ in uns Einlass gewähren. Die Tiere, die Pflanzen, die Landschaften, die Meere und das Felsgestein – alles bedarf der Durchdringung mit neuen schöpferischen Bewusstseinsimpulsen, vermittelt durch den Menschen. Nur er allein ist in der Lage, den leeren Herzensraum entstehen zu lassen, in dem die Dinge „von unten nach oben“ getragen werden können, hin zu ihrem geistigen Ursprung. Welch eine Aufgabe für das Menschsein! Der Dichter bekennt:
[…] bebend mit Armen voll Schwäche
geb ich sie wieder dem Gotte
und wir feiern den Kreis.[9]
[1] In: Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden
[2] In: Helian
[3] In: Brot und Wein
[4] In: Also sprach Zarathustra, Erster Teil, Zarathustras Vorrede, Kap.1
[5] In: Neunte Elegie
[6] In: Neunte Elegie
[7] In: Es winkt zu Fühlung
[8] In: Waldteich
[9] Rilke: Für Nike