In der Bhagavadgita wird ein spontanes, ja intuitives Handeln in der Gegenwart gefordert. Ein Handeln, das aus sich selbst entsteht, das die Trennung zwischen Objekt und Subjekt auflöst. Ist dies möglich, und wie?
Mahatma Ghandi fand Trost und Bewunderung in der Bhagavadgita und drückte dies wie folgt aus:
In der Bhagavadgita finde ich einen Trost […] Wenn mir manchmal die Enttäuschung ins Antlitz starrt, wenn ich, verlassen, keinen Lichtstrahl erblicke, greife ich zur Bhagavadgita. Dann finde ich hier und dort eine Strophe und beginne alsbald zu lächeln inmitten aller niederschmetternden Tragödien – und mein Leben ist voll von äußeren Tragödien gewesen. Wenn sie alle keine sichtbare, keine untilgbare Wunde auf mir hinterlassen haben, verdanke ich dies den Lehren der Bhagavadgita.
Die Bhagavadgita, das große heilige Buch Indiens, ist nach Bede Griffiths zusammen mit der Bibel das weitverbreitetste Buch der Welt. Die Bhagavadgita ist Teil des großen indischen Mahabharata-Epos. Es dokumentiert ein Gespräch zwischen der Inkarnation Vishnus, in der Gestalt Krishnas, und dem indischen Fürsten Arjuna, der sich bereit macht, um seinen Thron mit seinen Verwandten Krieg zu führen. Ich versuche im Folgenden, das Prinzip des „Handelns, ohne zu handeln“, von dem Krishna zu Arjuna spricht, aus meiner Erfahrung zu beleuchten.
Wie viele Sucher in den 60er und 70er Jahren und auch heute noch wurde ich schon in jungen Jahren in den Bann der Bhagavadgita gezogen. Es war dies nicht ein intellektuelles Interesse – damals war es vielleicht eine Modeerscheinung unter Hippies und Blumenkindern -, sondern ein inneres, intuitives Erfahren und Erfassen, dass in diesem Buch mehr als nur ein religiöses und philosophisches System finden ist, dass es mir Hinweise für mein Leben in dieser gegensätzlichen und unruhigen Zeit geben kann. Das Prinzip des „Handelns, ohne zu handeln“ faszinierte mich. Es begleitete mich seit dieser Zeit durch mein Leben. Was ist das aber: „Handeln, ohne zu handeln“?
Die Bhagavadgita sagt dazu:
Der Pfad der Tätigkeit ist schwer zu erkennen. Wer Untätigkeit in Handlungen und Tätigkeit in Untätigkeit sieht, der ist wirklich weise unter den Menschen. Ein solcher besitzt spirituelle Erleuchtung.
Die Bhagavadgita nennt einige Prinzipien, die dieses Paradoxon auflösen oder erläutern sollen:
– Loslassen der Früchte des Handelns,
– keine Erwartungen an die Handlungen (positiv oder negativ) hegen,
– genügsam und nicht abhängig sein,
– zufrieden und gleichmütig sein bei Erfolg, Misserfolg oder Versagen,
– alle Handlungen als Opfer an Krishna / Vishnu ansehen; dann verwandeln sie
sich zu spirituellem Wissen.
Die Weisen, die die Wahrheit geschaut haben, werden dich zur Erkenntnis führen, wenn du dich demütig hinwendest, fragst und dienst.
Mit solcher Erkenntnis wirst du nie wieder in Verblendung zurückfallen. Dadurch wirst du ausnahmslos alle Wesen erst in deinem Selbst und dann in mir erblicken.
Wenn wir uns vor diesem Hintergrund beobachten, stellen wir fest, dass all unser Denken, Wollen und Fühlen wie auch unsere Handlungen davon ausgehen, dass wir etwas erreichen wollen, dass wir etwas erwarten. All unsere Handlungen sind damit spekulativ auf die Zukunft gerichtet. In der Bhagavadgita dagegen wird ein spontanes, ja intuitives Handeln in der Gegenwart gefordert. Ein Handeln, das aus sich selbst entsteht, das die Trennung zwischen Objekt und Subjekt auflöst, um damit zu einer Einheit von Objekt und Subjekt zu gelangen. Ist dies möglich, und wie?
Krishna weist deutlich darauf hin, dass niemand auch nur einen Augenblick untätig sein kann und rät Arjuna:
Deshalb vollbringe du, was du zu tun hast, ohne dich um die Folgen zu sorgen. Denn der Mensch, welcher das ihm Zustehende ausführt, ohne sich an die Früchte zu hängen, dieser erlangt den Höchsten.
Wenn wir in der Lage sind, diesen Rat Krishnas in unserem Leben umzusetzen, können wir frei werden vom spekulativen Denken und von Erwartungen an die Zukunft, oder von Erfolgen oder Misserfolgen unserer Handlungen. Damit lösen sich alle Spekulationen über die Zukunft, die sich in Angst, Sorge und Furcht ausdrücken, auf. Wir können dann spontan und mit heiterem Gemüt die uns auferlegte Pflicht erfüllen und das Wohl der Menschheit im Auge behalten .
Catharose de Petri, die Großmeisterin des Goldenen Rosenkreuzes, drückt es so aus:
Es ist absolut möglich, während Ihres gewöhnlichen Tagesablaufs, welche Wirksamkeiten Sie auch zu verrichten haben, im Hintergrund Ihres Wesens die Kernkraft und ihr Prinzip vollkommen festzuhalten und durch alles hin strahlen zu lassen, in Ihr Herz, in Ihr Haupt und in Ihre Seele.
Wir leben dann praktisch zwei Leben: das eine in der Verbindung mit der gewöhnlichen Welt and das andere, das nicht von dieser Welt ist, das in und aus der Kraft Krishnas oder des Christus lebt. Damit bekommen wir Abstand von den Problemen, Konflikten und Widerwärtigkeiten dieser Welt, denn:
Diejenigen, die mich lieben, sind mir lieb, und ich bin in ihnen und sie sind in mir. Sie kommen zu mir und werden ewigen Frieden haben.
Wir können dann die Welt der Gegensätze wie Betrachter/Außenstehende sehen und können gleichzeitig ohne Fehl durch die Kraft der Seele und durch das Wissen in uns auf eine Welt, die nicht von dieser Welt ist, ausgerichtet sein. Auch in den größten Turbulenzen unseres Lebens können wir ruhig und heiter bleiben. Unsere Handlungen werden dann spontan und nicht berechnend, intuitiv und nicht von positiven oder negativen Zukunftsvorstellungen geleitet. Wir können wirklich in der Gegenwart leben. Das ist es, was Mahatma Ghandi in dem Eingangszitat ausdrücken will.
Wo stehe ich heute? Das Prinzip des „Handelns, ohne zu handeln“ hat mich durch mein Leben begleitet. Eine der ersten und fundamentalen Einsichten war und ist: „Alles ist relativ!“ Nichts ist absolut, damit falle ich nicht von Himmelhochjauchzend in Zu-Tode-betrübt, sondern verbleibe in einem gewissen Gleichmut, einer oft stillen Heiterkeit. Das bedeutet nicht Gleichgültigkeit, vor allem gegenüber der Welt und Menschheit, es bedeutet vielmehr, das große Ganze nicht aus den Augen zu verlieren und immer wieder mich selbst zu fragen:
Sind die Worte Krishnas in mir Wirklichkeit? Bin ich in ihm und ist er in mir? Krishna sagt in der Bhagavadgita: Alle Dinge sind in mir – das ist das Fundament unserer Existenz – und fährt fort: Aber ich bin nicht in ihnen. Dies ist das Ziel unseres Weges: Ihn in uns zu erwecken. Weiter sagt Krishna zu Arjuna:
Wer mich in allen Dingen sieht und alles schaut in mir, für den bin ich nie abwesend, und er ist nie abwesend für mich.
Alle Handlungen, welche nicht als ein Gott dargebrachtes Opfer ausgeführt werden, binden den Handelnden durch seine Tätigkeit. (
Das (teilweise) lebendige Bewusstsein, einerseits in unserer Welt zu leben, der Welt des gewöhnlichen Tagesablaufs, und andererseits ein Sein zu erfahren, das nicht von dieser Welt ist und das zugleich das Fundament der Welt ist, gibt mir eine frohe Gelassenheit, um die Anforderungen des gewöhnlichen Lebens anzunehmen und zu verarbeiten. Solange bzw. so oft ich diese frohe Gelassenheit bewusst erlebe, bin ich ein Akteur und gleichzeitig ein Beobachter in der Welt, ohne davon und darin aufgesogen zu werden. Ich erfahre immer wieder, dass diese Ausrichtung mich aus dem Alltagstrubel erhebt (manchmal nur für einige Augenblicke) und eine heitere Gelassenheit mich erfüllt, die Heiterkeit der Seele. Kann dies ein Einswerden mit Krishna sein? Wenn wir ehrlich mit uns selbst sind, finden wir die Antwort in uns und lassen intellektuelle Überlegungen, Fragen und Zweifel hinter uns.
[1] Mohandas Karamchand Gândhi (Mahatma Gandhi), in: Young India 1925, p. 1078)
[2] Bhagavad Gita, Ved Vyas Foundation, 2024 (e-book) Bhagavad Gita.io: (Chapter IV, verse 18).
[3] Idem: Chapter IV,Verse 34,35
[4] Idem: Chapter III,Verse 19
[5] Translation from: Catharose de Petri, Das Lebende Wort, Haarlem 1990, S. 300
[6] Translation from: Jan van Rijckenborgh, Die große Umwälzung, 3. Auflage, Haarlem 1992, Kapitel VII: Das Mysterium des Krishna
[7] Idem: Chapter IX, verses 29, 31
[8] Idem: Chapter IX, verse 4
[9] Idem: Chapter VI, verse 30
[10] Idem: Chapter III, verse 9